Kultischer Dekalog

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Als Kultischer Dekalog, Privilegrecht JHWHs oder einfach Bundesworte, selten auch als Ritueller Dekalog, wird die Texteinheit Ex 34,10–26 EU im Tanach, der hebräischen Bibel, bezeichnet. Es handelt sich um eine Sammlung kultischer Gebote und einen Festkalender für den Gottesdienst im antiken Judentum.

Bezeichnung

Die Bezeichnung „kultischer Dekalog“ für Ex 34 stammt von Johann Wolfgang von Goethe: Damit stellte er diesen Text den Zehn Geboten (Ex 20,2–17; Dtn 5,6–21) gegenüber, die er als „ethischen Dekalog“ bezeichnete.[1] Daran schloss im 19. Jahrhundert unter anderen der Alttestamentler Julius Wellhausen an: Er vertrat die gängige These, die kultische Gebotsreihe von Ex 34 sei eine ältere Vorform des Dekalogs und letzterer spiegele einen ethischen Fortschritt in der Religionsgeschichte Israels. Diese These gilt seit Beginn der 1960er Jahre in der Forschung als überholt.[2] Die Bezeichnung Goethes und Wellhausens ist zwar nach wie vor üblich, gilt aber heute als irreführend, weil es sich in Ex 34 um keinen Dekalog, sondern um kultrechtliche Bestimmungen zur Erneuerung des Bundesverhältnisses der Israeliten handelt.[3]

Der Ausdruck Dekalog („Zehnwort“) beruht auf Ex 34,27f. EU: Danach schrieb Mose auf JHWHs Befehl „die Worte des Bundes, die zehn Worte“ auf zwei Steintafeln, um sie den Israeliten zu überbringen. Jedoch lässt sich die Texteinheit nicht in zehn Gebote einteilen und ist inhaltlich wie formal keine Variante des Dekalogs, der JHWHs Willen für das Bundesvolk der Israeliten zeitübergreifend zusammenfasst.[4]

Herkunft

Die Texteinheit ist eine von vielen Gebotssammlungen, die zur Tora zusammengestellt wurden.[5] Sie ist ähnlich wie das Bundesbuch (Ex 20–23) situativ in die Erzählung vom Bundesschluss JHWHs mit Israel am Berg Sinai eingebettet. Jedoch kündigt JHWH in Ex 34,1 einleitend an, selbst zwei von Mose gehauene Steintafeln zu beschreiben. Dem widerspricht der Abschlussvers Ex 34,27, wonach Mose die soeben gehörten Worte auf die Tafeln schreiben soll. Deshalb nimmt die historisch-kritische Forschung verschiedene Autoren oder Redaktionen der Textkomposition an.[6] Der Text ist inhaltlich und sprachlich eng verwandt mit dem Abschluss des Bundesbuchs in Ex 23,14–19 EU, so dass oft literarische Abhängigkeit angenommen wird. Welcher der beiden Texte die ältere Vorlage ist, ist umstritten.[3]

Literatur

  • Hans-Christoph Schmitt: Das sogenannte jahwistische Privilegrecht in Ex 34,10–28 als Komposition der spätdeuteronomistischen Endredaktion des Pentateuch. In: Jan Christian Gertz, Konrad Schmid: Abschied vom Jahwisten: Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion. (= Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft. 315). de Gruyter, Berlin 2013, S. 157–172.
  • Frank Crüsemann: Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes. (1992). 4. Auflage, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005, ISBN 3-579-05212-8, S. 138–170.
  • Matthias Köckert, Erhard Blum: Gottes Volk am Sinai. Untersuchungen zu Ex 32–34 und Dtn 9–10. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2001, ISBN 3-579-05346-9.
  • Frank-Lothar Hossfeld: Das Privilegrecht Ex 34,11–26 in der Diskussion. In: Stefan Beyerle, Hans Strauss, Günter Mayer (Hrsg.): Recht und Ethos im Alten Testament. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, ISBN 3-7887-1773-4, S. 39–59.
  • Erhart Blum: Das sogenannte 'Privilegrecht' in Exodus 34,11–26: Ein Fixpunkt der Komposition des Exodusbuches? In: Marc Vervenne (Hrsg.): Studies in the Book of Exodus: Redaction - Reception - Interpretation. Peeters, Leuwen 1996, ISBN 90-6831-825-X, S. 347–366.
  • Christoph Dohmen: Was stand auf den Tafeln vom Sinai und was auf denen vom Horeb? In: Frank-Lothar Hossfeld (Hrsg.): Vom Sinai zum Horeb. Stationen alttestamentlicher Glaubensgeschichte. Echter Verlag, 1989, S. 9–50.
  • Jörn Halbe: Das Privilegrecht Jahwes Ex 34,10–26. Gestalt und Wesen, Herkunft und Wirken in vordeuteronomischer Zeit. (= Forschungen zur Religion und Literatur des AT und NT (FRLANT). 114). 1975, ISBN 3-525-53269-5, S. 1–552. (Text online bei Digi20, Staatsbibliothek Bayern)

Einzelnachweise

  1. Eckart Otto (Hrsg.): Max Weber Gesamtausgabe Band I/21,2: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum. Schriften und Reden 1911–1920. Mohr Siebeck, Tübingen 2005, ISBN 3-16-148529-7, S. 916.
  2. Walter Beyerlin: Herkunft und Geschichte der ältesten Sinaitraditionen. Mohr, 1961, S. 95.
  3. a b Jörg Jeremias: Theologie des Alten Testaments. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016, ISBN 978-3-525-51697-3, S. 61.
  4. Erich Zenger, Christian Frevel und andere (Hrsg.): Einleitung in das Alte Testament. 9., aktualisierte Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-17-030352-2, S. 98f.
  5. Otto Kaiser: Glaube und Geschichte im Alten Testament: Das neue Bild der Vor- und Frühgeschichte Israels und das Problem der Heilsgeschichte. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, ISBN 978-3-7887-2871-7, S. 100.
  6. Reinhard Gregor Kratz: Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000, ISBN 3-8252-2157-1; Erhard Blum: Studien zur Komposition des Pentateuch. Walter de Gruyter, Berlin/ New York 1990, ISBN 3-11-012027-5.