Geschlechtergeschichte

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Die Geschlechtergeschichte ist eine Disziplin der Geschichtswissenschaft, die sich mit der historischen Ausprägung und Veränderlichkeit von Weiblichkeit, Männlichkeit und des Verhältnisses der Geschlechter zueinander befasst. Dabei geht es insbesondere um die Frage, wie kulturelle Geschlechterrollen das Denken, Fühlen und Handeln von Menschen geprägt haben.

Somit befasst sich die Geschlechtergeschichte prinzipiell mit allen Teilbereichen der Geschichtswissenschaft und ist nicht über einen Gegenstandsbereich definiert (wie z. B. die Geschichte des Militärs, des Sports, der Arbeiterbewegung). Sie stellt stattdessen eher eine spezifische Herangehensweise dar, in der der Kategorie „Geschlecht“ eine zentrale Rolle zukommt.

Ausgehend von einer Frauen- und Geschlechtergeschichte, die die männlich dominierte und vielfach androzentrische Geschichtsschreibung um weibliche Blickwinkel und Fragestellungen nach der historischen Bedeutung von Frauen an der Menschheitsgeschichte erweitert hat, hat sich dabei in den letzten Jahrzehnten auch eine „Männergeschichte“ entwickelt. Sie versucht, das Verhalten von Männern nicht als „Normalfall“, sondern als geschlechtsspezifisch bedingt zu betrachten (siehe auch Männerforschung).

Die Anfänge seit den 1960er Jahren

Frauen wurden in der Geschichtswissenschaft lange wenig berücksichtigt. Nur einzelne weibliche Persönlichkeiten galten der Geschichtsschreibung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als erwähnenswert, was vor allem daran lag, dass der Beruf der Historikerin sich für eine Frau nicht ziehmte und bestenfalls belächelt worden ist. Die Anfänge einer Frauengeschichte, die Frauen als Handelnde in der Geschichte stärker ins Blickfeld der Geschichtswissenschaft zu rücken versucht, liegen in Deutschland in den 60er Jahren. Zentral für die Diskussion um eine neue Sichtweise in der Geschichte sei dabei die Unterscheidung zwischen Sex und Gender, also zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht, gewesen. Anregungen dafür kamen aus dem Umfeld der Frauenbewegung und den Women's Studies in den USA, also von außerhalb der etablierten Geschichtswissenschaft (vgl. Frauenforschung, Gender Studies). In den folgenden Jahren lag der Fokus historischer Frauenforschung darauf, „Frauen sichtbar zu machen“ und verschiedenste Sammelbände (bis hin zur groß angelegten Geschichte der Frauen) halfen dabei, die Lücken auf dem Gebiet empirischer Untersuchungen abzubauen. Den ersten Lehrstuhl mit der Ausrichtung auf Geschichtsdidaktik und Frauengeschichte besetzte Annette Kuhn in Bonn.

Neuere Entwicklungen seit etwa 1990

Der Boom der historischen Frauenforschung hatte aber auch eine Kehrseite. Frauengeschichte hatte sich Ende der 80er Jahre zwar als ein Teilgebiet der Geschichtswissenschaft etabliert (so gründete der am langsam aufblühenden Forschungsgebiet der Frauen- und Geschlechtergeschichte interessierte Medizinhistoriker Gerhard Baader mit dem Kirchenhistoriker Werner Affeldt (1928–2019) bereits 1984 ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zur Geschichte von Frauen in Antike und Mittelalter[1]); statt eines Paradigmenwechsels, der die gesamte Historie betrifft, war aber de facto neben beispielsweise der Sozial-, Wirtschafts- oder Kulturgeschichte ein weiterer Bereich, die Frauengeschichte eben, entstanden. Die Kategorie Geschlecht ist aber für fast jedes historische Teilgebiet zentral. Demgegenüber steht eine isolierte Herangehensweise an die Geschlechtergeschichte, welche aufgrund des Umfangs dieses Teilgebiets durchaus sinnvoll ist. Daher ist die Geschlechtergeschichte eher als eine historische Subdisziplin zu verstehen. Eine Diskussion darüber, dass eine eng verstandene Frauengeschichte von einer Geschlechtergeschichte, die sowohl Weiblichkeit als auch Männlichkeit untersucht, abgelöst werden müsse, wurde daraufhin von Historikerinnen wie Gisela Bock, Ute Frevert oder Bea Lundt angestoßen.

Weitere Anregungen in diese Richtung kamen aus der englischsprachigen masculinity-Forschung, insbesondere von Raewyn Connell. So gibt es inzwischen zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschlechtergeschichte, die auch Männlichkeit(en) untersuchen, und die Genderforschung in der Religionssoziologie (vor allem Paul Zulehner). Lehrstühle für Geschlechtergeschichte gibt es in Deutschland gegenwärtig an den Universitäten Jena, Bielefeld, Bochum und der HU bzw. FU Berlin. Inzwischen sind unter dem Einfluss der Geschlechtergeschichte weitere neue Forschungsrichtungen entstanden, etwa die Neue Politikgeschichte, welche die klassische Politikgeschichte mittels geschlechter-, sozial- und alltagsgeschichtlicher Ansätze zu modernisieren versucht, oder die Neue Militärgeschichte als Spielart der Geschichte der Männlichkeiten. Diese untersucht, inwiefern verschiedene Konzepte von Männlichkeit die Wertvorstellungen und das Verhalten von Männern beeinflusst haben und beeinflussen.

Weitere Entwicklungen im Bereich der Geschlechtergeschichte beziehen nicht nur das weibliche und das männliche Geschlecht mit ein.

Literatur

  • Franziska Conrad, Hartmann Wunderer: Geschlechtergeschichte. Historische Probleme und moderne Konzepte. Schroedel, Braunschweig 2005, ISBN 3-507-36854-4
  • Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1991.
  • Margit Freifrau von Löhneysen: Ordnung hilffen. Vorreformatorische Geschlechterordnung: Erste Deutsche Bibel und Der Ackermann aus Böhmen. Dissertation, Kassel 2004 (PDF).
  • Judith Klinger, Susanne Thiemann (Hrsg.): Geschlechtervariationen. Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit. Universitäts-Verlag Potsdam, Potsdam 2006, ISBN 978-3-937786-86-5 (Potsdamer Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung, Neue Folge; 1; Volltext).
  • Bea Lundt: Frauen- und Geschlechtergeschichte. In: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Rowohlt, Reinbek 1998, ISBN 3-499-55576-X, S. 579–597.
  • Hans Medick, Anne-Charlott Trepp (Hrsg.): Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven. Wallstein, Göttingen 1998, ISBN 3-89244-282-7.
  • Gail Bederman: Manliness & Civilization: A Cultural History of Gender and Race in the United States, 1880–1917. Chicago: Chicago University Press, 1995, ISBN 978-0226041384
  • Bryce Traister: Academic Viagra. The Rise of American Masculinity Studies. In: American Quarterly 52, 2000, Nr. 2, S. 274–304.
  • Rebekka Habermas: Frauen- und Geschlechtergeschichte. In: Joachim Eibach, Günther Lottes (Hrsg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch. Göttingen 2002 (UTB 2271), S. 231–245.
  • Bernd-Ulrich Hergemöller: Masculus et femina. Systematische Grundlinien einer mediävistischen Geschlechtergeschichte. Hamburg 2001, ISBN 3-936152-01-2 (Hergemöllers historiographische Libelli 1).
  • Claudia Opitz-Belakhal: Geschlechtergeschichte. Campus, Frankfurt am Main/New York 2010, ISBN 3-593-39183-X (Historische Einführungen).
  • Alice Schwarzer: Der "kleine" Unterschied und seine großen Folgen: Frauen über sich – Beginn einer Befreiung – Frankfurt am Main, 1975, ISBN 9783596154463.
  • Jürgen Reulecke: Neuer Mensch und neue Männlichkeit. Die „junge Generation“ im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. In: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2001, S. 109–138 (Digitalisat).
  • Deborah Gray White (Hrsg.): Telling Histories: Black Women Historians in the Ivory Tower (Gender and American Culture) [Taschenbuch], University of North Carolina Press, 2008, ISBN 0-8078-5881-1
  • Verena Sperk, Sandra Altenberger, Katharina Lux, Tanja Vogler (Hrsg.): Geschlecht und Geschlechterverhältnisse bewegen. Queer/Feminismen zwischen Widerstand, Subversion und Solidarität. transcript, Bielefeld 2020, ISBN 978-3-8376-5101-0
  • Gisela Bock: Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte. In: Geschichte Und Gesellschaft, Vol. 14, No. 3, 1988, Seiten 364–391. JSTOR, www.jstor.org/stable/40185476. Accessed 19 Jan. 2021.
  • Maria Bühner, Maren Möhring (Hrsg.): Europäische Geschlechtergeschichten. Stuttgart 2018, ISBN 978-3-515-12138-5.
  • Rendtorff Barbara; Mahs, Claudia; Wecker, Verena (2011): Geschlechterforschung. Theorien, Thesen, Themen zur Einführung. 1. Aufl. s. l.: Kohlhammer Verlag.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Florian G. Mildenberger: Gerhard Oskar Baader (3. Juli 1928–14. Juni 2020). In: Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung. Band 36/37, 2017/2018 (2021), S. 321–326, hier: S. 324.