Lesen ohne Atomstrom

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Lesen ohne Atomstrom ist ein nicht-kommerzielles, internationales Literaturfestival, das seit 2011 jährlich im Frühjahr in Hamburg stattfindet und zudem über das Jahr verteilt Literaturveranstaltungen zu gesellschaftlichen und politischen Anlässen anbietet. Bei dem Festival engagieren sich Schriftsteller und Künstler gemeinsam für die Beschleunigung des Atomausstiegs und für die Energiewende.

Geschichte

Literaturnobelpreisträger gegen Atomstrom: Günter Grass. Er las 2011 bei der ersten Veranstaltung aus Mein Jahrhundert.
Literaturnobelpreisträgerin gegen Atomstrom: Swetlana Alexijewitsch. Sie las 2017 aus Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft.

Gegründet wurde Lesen ohne Atomstrom Ende 2010 gemeinsam von Autoren und Lesern, unter anderem von den Schriftstellern Feridun Zaimoglu, Nina Hagen und Günter Grass, Fernsehjournalist Oliver Neß und Medienunternehmer Frank Otto. Seither wird Lesen ohne Atomstrom von einer Bürgerinitiative und dem gemeinnützigen Verein Kultur für alle! e. V. organisiert. Die ersten Lesungen mit Nina Hagen und Günter Grass fanden im April 2011 vor dem Atomkraftwerk des Unternehmens Vattenfall in Krümmel bei Hamburg statt.[1] Grass las aus Mein Jahrhundert die Erzählung für das Jahr 1955, in der ein Mann, Abteilungsleiter im Katasteramt, aus Atomfurcht im Garten einen Schutzraum baut und dabei ums Leben kommt.[2][3]

In acht Jahren waren bei 73 Veranstaltungen mehr als 30.000 Zuschauer, die Zuschauerauslastung beträgt jedes Jahr deutlich über 100 Prozent.[4]

Die Gründung des Literaturfestivals war die Reaktion auf die Vattenfall Lesetage des Energieversorgers Vattenfall, die von der Hamburger Landesregierung unterstützt wurden. Das Unternehmen setzt auf Atom- und Kohlekraft. Für sein Kultursponsoring wurde es kritisiert.[5] Schirmherr 2012 von Lesen ohne Atomstrom war Jakob von Uexküll, Begründer des Right Livelihood Award.[6]

Aus der öffentlichen Kontroverse um die Vattenfall-Lesetage gründeten sich die Erneuerbaren Lesetage, der Namenszusatz von Lesen ohne Atomstrom, als Festival der Künstler und Autoren.[7] 2013 kam es zu einem Eklat, als die Kuratorin der Vattenfall-Lesetage versuchte, Lesen ohne Atomstrom als linksradikal zu diskreditieren.[8] Beispielsweise schrieb sie an Jakob Augstein: „Das Bündnis aus autonomen Aktivisten, Öko-Saft-Produzenten und Fernseh-Promis tritt an, ein Literaturfestival dem Boden gleichzumachen. Und Sie sind dabei.“[9] Die Direktorin der Stiftung Hamburger Öffentliche Bücherhallen, Hella Schwemer-Martienßen, wurde von Vattenfall selbst aufgefordert, ihre Unterstützung für Lesen ohne Atomstrom einzustellen: „Im November 2012 bekamen wir Besuch einer fünfköpfigen Vattenfall-Delegation, darunter ein Vorstandsmitglied“, erinnerte sie sich, „Sie haben uns sehr intensiv ersucht, die Kooperation aufzugeben.“[10] Nachdem diese Anfeindungen publik geworden waren und auch die politischen Parteien anfingen, sich damit zu beschäftigen, stellte Vattenfall das Festival ein.[11][12]

Zwei Dutzend Schriftsteller begrüßten in einer öffentlichen Erklärung unter der Überschrift „Für die Unabhängigkeit der Literatur“ das „Ende des Kulturmissbrauchs“ und erklärten Lesen ohne Atomstrom zum „Gewinn für die Literatur“. Günter Grass sagte: „Vor und nach dem Vatten-Fall gab und gibt es Literatur“, Jan Brandt: „Endlich ist es vorbei mit der strahlenden Kulturförderung in Hamburg.“,[13] Konstantin Wecker: „Ich finde es großartig, dass der Kulturstadt Hamburg der Kulturmissbrauch durch die Atomindustrie ab jetzt erspart bleibt.“,[14] Frank Schätzing: „Da die Energiewende auf sich warten lässt, freuen wir uns umso mehr über die Literaturwende.“

2017 wurde „Lesen ohne Atomstrom“ mit der weißrussischen Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch eröffnet. In zwei Veranstaltungen ging es um ihren Roman Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft, aus dessen russischsprachigem Original sie selbst und Thomas Quasthoff in Hamburg und Barbara Auer in Lübeck aus der deutschen Übersetzung lasen.[15][16]

2021 fand das Festival trotz Theaterschließungen und Zuschauerverbots in Folge der Corona-Pandemie als Hybridveranstaltung statt: Moderiert aus der zum Fernsehstudio umgebauten Hamburger Akademie der Künste nahmen internationale Gäste, die zugesagt hatten nach Hamburg zu kommen, live per Videostream teil. Unter ihnen waren die afghanische Autorin Parwana Amiri, die aus einem griechischen Flüchtlingslager zugeschaltet war, Japans Ex-Premierminister Naoto Kan war in Tokio dabei, Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando aus seinem Regierungssitz, Schriftsteller Behrouz Boochani aus Neuseeland, Großbritanniens Königlicher Astronom Martin Rees aus Cambridge, Vandana Shiva in Neu-Delhi oder Ex-Club-of-Rome-Generalsekretär Graeme Maxton in Taiwan. Die zehn Veranstaltungen mit 44 Autoren und Künstlern wurden als Livestream gesendet.[17]

Konzept

Bei Lesen ohne Atomstrom gibt es keine klassischen Lesungen, bei denen ein Autor aus seinem Buch vorträgt. Vielmehr präsentiert das Festival gemeinsam mit Schriftstellern, Dramaturgen und Schauspielern stets eigene Arrangements von Literatur mit dafür zusammengestellten Künstler- und Autorenensembles – so werden Literaturklassiker oder aktuelle Bestseller als szenische Lesungen arrangiert und von Schauspielern dargeboten. Ebenso treten Schriftsteller gemeinsam auf, um ihre Werke und gesellschaftliche Themen zu diskutieren. So waren bei Lesen ohne Atomstrom Nobelpreisträger wie Swetlana Alexijewitsch oder Günter Grass dabei, Grammy-Preisträger Thomas Quasthoff ebenso wie zahlreiche Film- und Rockstars, UN-Diplomaten und Bestseller-Autoren. Für Lesen ohne Atomstrom kommen Autoren aus aller Welt nach Hamburg wie Japans Ex-Premier Naoto Kan aus Tokio, Auma Obama aus Nairobi, Wikileaks-Mitbegründerin Birgitta Jónsdóttir aus Reykjavík oder der Ökonom Dennis Meadows (Die Grenzen des Wachstums) aus Boston. Insgesamt sind in acht Jahren rund 300 Autoren und Künstler für Lesen ohne Atomstrom aufgetreten, in den ersten fünf Jahren honorarfrei, seit 2016 bieten die Organisatoren jedem Kulturschaffenden eine Aufwandsentschädigung an.

Der Großteil des von Förderern bereitgestellten Etats wird für Festival-Werbung und seine Forderung nach einem beschleunigten Atomausstieg verwendet. Jährlich organisiert der Verein Kultur für alle eine Werbekampagne mit bis zu einer halben Million Programmheften als Beilagen von Tages- und Wochenzeitungen, Tausenden Plakaten im Straßenbild und großformatigen Zeitungsanzeigen.

Finanzierung

Lesen ohne Atomstrom ist ein nicht-kommerzielles Festival und versteht sich als politische Aktion der Zivilgesellschaft. Der Eintritt ist frei. Der Kultur für alle! e. V. verzichtet auf staatliche und städtische Förderung. Parteien und parteinahe Stiftungen sind von der Beteiligung ebenfalls ausgeschlossen. Sie alle stünden laut Veranstalter in einem engen Verhältnis zur Atomlobby.

Der Festivaletat wird größtenteils von stillen Förderern bereitgestellt. Den immateriellen Beitrag leisten mehrere Dutzend Bürger und Unternehmen. Theater, Veranstaltungszentren oder Fußballprofiklubs wie Hamburger SV und FC St. Pauli stellen ihre Häuser mietfrei für Lesen ohne Atomstrom zur Verfügung.

Herausgeberschaften

Lesen ohne Atomstrom betätigt sich gelegentlich als Herausgeber beziehungsweise als Mitherausgeber, so geschehen bei:

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Stefan Bohlmann: Künstler-Protest vor dem Meiler Krümmel, Hamburger Abendblatt online, 5. April 2011 (Bezahlschranke).
  2. Günter Grass: Mein Jahrhundert, Steidl, Göttingen 1999, S. 222–225 ISBN 3-88243-651-4.
  3. Ole Reißmann: Günter Grass poltert gegen Lobbyisten, spiegel.de, 10. April 2011, abgerufen am 25. Januar 2017.
  4. [1]@1@2Vorlage:Toter Link/lesen-ohne-atomstrom.de (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
  5. Weiter nach dem Ausstieg, taz.de, 19. April 2014, abgerufen am 20. Januar 2017.
  6. Lesen ohne Atomstrom – Die erneuerbaren Lesetage (Memento des Originals vom 15. Januar 2017 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/bewegung.taz.de, Programm 2012, bewegung.taz.de, abgerufen am 20. Januar 2017.
  7. Roger Willemsen schießt gegen Stromkonzern. In: stern.de. 7. April 2012 (stern.de [abgerufen am 15. Januar 2017]).
  8. Christoph Twickel: Beschwerdemails vom Energieriesen, spiegel.de, 19. April 2014, abgerufen am 21. Januar 2017.
  9. Folke Havekost: Erschwerte Lesebedingungen, neues-deutschland.de, 19. April 2013, abgerufen am 21. Januar 2017 (Bezahlschranke).
  10. Stephanie Lamprecht: Autor Roger Willemsen: „Wir wurden verleumdet und beschimpft“ (Memento des Originals vom 15. Januar 2017 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.mopo.de, mopo.de, 18. April 2013, abgerufen am 21. Januar 2017.
  11. Vattenfall die Leviten lesen (Memento des Originals vom 15. Januar 2017 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.gruene-fraktion-hamburg.de, gruene-fraktion-hamburg.de/blog, 22. April 2013, abgerufen am 21. Januar 2017.
  12. Klaus Irler: Zuviel Gegenwind, taz.de, 4. Oktober 2013, abgerufen am 21. Januar 2017.
  13. Günter Grass begrüßt das Ende der Vattenfall-Lesetage, 15. Oktober 2013, abgerufen am 21. Januar 2017.
  14. Dirk Seifert: Kultur – Ausgelesen: Günther Grass findet das gut, umweltfairaendern.de, 15. Oktober 2013, abgerufen am 21. Januar 2017.
  15. Literaturnobelpreisträgerin plädiert für mehr Demokratie, wn.de, 21. Februar 2017, abgerufen am 3. März 2017.
  16. Verschiedene Ansichten: Böll und Grass. Ausstellungseröffnung mit Literaturnobelpreisträgerin (Memento des Originals vom 23. März 2017 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.boell100.com. boell100.com, abgerufen am 3. März 2017.
  17. Livestream
  18. Inside Fukushima. In: assoziation-a.de, abgerufen am 11. Oktober 2020.
  19. Act now!. In: assoziation-a.de. Abgerufen am 11. Oktober 2020.