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Kirchhöfe in der Hermannstraße
Die Kirchhöfe in der Hermannstraße bestimmen die Hermannstraße in Berlin-Neukölln, eine einzigartige Ansammlung von acht Friedhöfen.
Einmalige Konzentration
Die Gründung der Friedhöfe geht überwiegend auf Gemeinden des ehemaligen Stadtteils Luisenstadt zurück. Deshalb befinden sich die Gemeinden nicht in Neukölln, sondern zu einem großen Teil in Kreuzberg. Nach den rasanten Bebauungsmaßnahmen der Gründerzeit (die Einwohnerzahl des alten Berlins, des heutigen Kernbereichs der Stadt, vervierfachte sich von 500.000 im Jahr 1861 auf zwei Millionen 1910) fanden die Berliner Gemeinden in der engen Stadt keinen Platz mehr für ihre Grabstätten und verlegten die Friedhöfe vor die Tore der Stadt. Auf den Feldern und Wiesen vor dem Cottbusser Tor fanden sich freie und preiswerte Flächen, die zudem über die Landstraße Hermannstraße gut zu erreichen waren. Die Kirchhöfe entstanden zu beiden Seiten der Straße, wobei die nach Osten, Richtung Karl-Marx-Straße verlaufenden Anlagen das abschüssige Gefälle der ehemaligen Rollberge aufweisen. Die Hälfte der acht Friedhöfe steht heute als Gartendenkmale unter Schutz.
Schon vor dem großen Bauboom der Stadt legte die evangelische St. Jacobi-Gemeinde im Jahr 1852 den ersten der Hermannstraßenkirchhöfe in unmittelbarer Nachbarschaft zum Rollkrug an. Dieser einzige Friedhof im unteren ersten Straßenteil liegt heute im Bereich zur Karl-Marx-Straße. Anders als die schmalen, querliegenden Kirchhofstreifen im mittleren Straßenteil verläuft der Kirchhof für rund einhundert Meter parallel zur Straße und sorgt gegenüber der dichten Häuserreihe des Hermannstraßenkiezes für eine ihrer wenigen grünen und offenen Passagen.
Die große Konzentration liegt im mittleren Straßenbereich um den U-Bahnhof Leinestraße. Zwischen der Oker- und der Emser Straße entstanden hier in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts sechs, gleichfalls schmale und senkrecht liegende, Kirchhöfe. Die Straßenfront dieser Begräbnisstätten ist jeweils nur sehr kurz, in die Tiefe erstrecken sie sich dagegen bis über 600 Meter. Alle diese Kirchhöfe zeichnen sich durch eine lange Mittelallee aus, die durch eine unterschiedliche Anzahl von Rondellen und Querwegen aufgelockert wird. Nur im oberen Bereich findet man einige Erbbegräbnisstätten an den Seitenmauern, was auf die Bevölkerungsstruktur zurückzuführen ist. Die Kapellen und Verwaltungsgebäude stehen meist im Bereich des Eingangstores, die Rondelle besitzen gelegentlich Bildwerke, die die Tiefe der Alleen optisch unterbrechen.
Auch am südlichen Ende der Hermannstraße befindet sich mit dem Emmauskirchhof parallel zum neuen Autobahntunnel ein Friedhof, der gleichfalls senkrecht zur Straße liegt und die Bebauung kaum auflockern kann.
Verwirrende Nummerierung der Hermannstraße und uneinheitliche Bezeichnung der Friedhöfe
Mit dem Beginn der Bebauung hatte die Rixdorfer Verwaltung eine Nummerierung der Häuser nach dem Hufeisenprinzip festgelegt. Diese Festlegung heißt auch Berliner Nummerierung, weil die vom Schlossplatz im Stadtzentrum gesehen rechte Seite (in diesem Fall also die westliche) fortlaufende Nummern trägt, dann die Ostseite zurück in umgekehrter Richtung bis zur höchsten Hausnummer. Die Parzellen in der Hermannstraße waren also nicht wechselseitig nach geraden und ungeraden Hausnummern von Straßenseite zu Straßenseite durchgezählt. Die Zählung begann hier mit der Nummer 1 auf der Westseite am Hermannplatz/Hasenheide und reichte bereits in den 1880er Jahren bis zur Nummer 171. Viele freie Parzellen dazwischen waren im Adressbuch als Baustellen ausgewiesen.[1] Die Friedhöfe trugen anfangs die Nummern 73 (Jerusalemer und Neue Kirche), 77 (Jakobi-Gemeinde) und 168. In der folgenden Übersicht wurden sie nach ihrer Lage jeweils von Nord nach Süd sortiert. Dabei ist zu beachten, dass sich die Kirchhöfe des mittleren Bereichs weitgehend und insbesondere die beiden Kirchhöfe der St. Thomas-Gemeinde trotz der vollkommen unterschiedlichen Nummern genau gegenüberliegen.
Im Jahr 1900 reichten die Parzellennumern der Hermannstraße schon bis zur Nummer 258, sie wurden demzufolge mit der zunehmenden Bebauung wieder neu vergeben, die Friedhöfe finden sich nun wie folgt: 79–83 St. Thomas, 84–90 Jerusalemer und Neue Kirche, 99–105 Jacobi-Gemeinde, 129–137 Emmaus-Gemeinde, 186–190 Luisen-Kirchhof und 191–195 St. Michael.[2]
Die Bezeichnung der Kirchhöfe ist auch im 21. Jahrhundert nicht einheitlich. Über dem Eingangsportal befindet sich der alte Schriftzug „Friedhof der St. Michael Gemeinde“, eine Tafel am Portal nennt den Kirchhof „Alter Friedhof der Kath. Gemeinde St. Michael“ und eine historische Tafel 20 Meter neben dem Portal trägt die Aufschrift „Kirchhof der Katholischen St. Michael Gemeinde“. Die nachfolgende Orientierung entspricht der heutigen Namensgebung der jeweiligen Gemeinden.
Acht Kirchhöfe im Einzelnen
Nördlicher Bereich, ein Kirchhof
Alter Kirchhof der St.-Jacobi-Gemeinde, Hermannstraße 234–253 (Ostseite)/Karl-Marx-Straße 4–10
Im unteren Straßenbereich kurz hinter dem Hermannplatz liegt der Alte Kirchhof der St. Jacobi-Gemeinde. Das Gartendenkmal zwischen Hermannstraße und Karl-Marx-Straße ließ die St.-Jacobi-Gemeinde bereits 1852 anlegen. Es handelt sich um eine weitestgehend geometrische Anlage mit Alleen und Einzelbäumen, vor allem Kastanien und Linden. Schmuckplätze sind auf den 40.908 m² nicht vorhanden.
An der Friedhofsmauer befinden sich Erbbegräbniswände und im Ostteil des Kirchhofes kam später ein Urnenhain hinzu. Die Kapelle baute von 1911 bis 1912 Stadtbaurat Reinhold Kiehl als einen rechteckigen Putzbau im antik römischen Stil. Die Wandflächen erhielten eine Struktur durch Puttenfries und Pilaster. Die Vorhalle ist offen in der Mittelachse gestaltet, daran schließt sich ein rechteckiger Hauptraum mit einer halbkreisförmigen Apsis, toskanischen Säulen an den Seiten und kleineren Pilaster und Pfeilern im Chorbereich an. Die teilweise farbige Fensterung besteht aus Rundbogenfenstern, die mit Blenden abwechseln und darüber liegenden quadratischen Fenstern. Gemeinsam mit dem Verwaltungsgebäude, dem Eingangstor und dem anschließenden Kirchhofsgitter aus metallenen Speeren und toskanischen Säulen sowie einem Kolonnadenteil ist die Kapelle zu einer Baugruppe vereint, die zur gleichen Zeit zur Ausführung kam. Nach seiner teilweisen Zerstörung im Krieg konnte die St. Jacobi-Gemeinde das Ensemble bereits kurz nach Kriegsende wiederherstellen.
Reinhold Kiehl fand hier 1913 auch seine letzte Ruhestätte, das Grabmal trägt den Schriftzug „Seinem Andenken die Stadt Neukölln“. Das Kiehlufer am Neuköllner Schiffahrtskanal trägt den Namen des Stadtrates, auf den denkmalgeschützte Bauten wie das Rathaus Neukölln und die Königlich-Preußische Baugewerkschule, die spätere Technische Fachhochschule für Bauwesen von 1914 und heutige Carl-Legien-Oberschule in der Leinestraße am Ende der Schillerpromenade zurückgehen. Neben Hermann Boddin dürfte Reinhold Kiehl der heute bekannteste Lokalpolitiker aus der Rixdorfer Zeit sein.
Mittlerer Bereich, Ostseite, drei Kirchhöfe
Höhe U-Bahnhof Leinestraße, Reihenfolge in Richtung Süden
Kirchhof der St.-Michael-Gemeinde, Hermannstraße 191–195 (Ostseite)
Der Kirchhof der St.-Michael-Gemeinde entstand in den Jahren 1863 bis 1895 in mehreren Etappen auf einer Fläche von 21.537 m² geometrisch entlang einer zentralen Allee mit Eichen und Linden sowie drei Rondellen. Im vorderen Rondell steht ein dominantes Kruzifix.
Die Kapelle des Kirchhofs an der Straße von einem unbekannten Architekten im spätromantischen Stil stammt aus dem Jahr 1884. Die Fassade besteht aus gelben Verblendziegeln, wobei die Straßenfront optisch in drei Bereiche geteilt ist. Im Giebel befindet sich ein Glockenträger, darunter ein Christuskopf, angebaut sind eine Leichenhalle sowie ein Verwaltungsgebäude. 1912 erfolgte eine Umgestaltung der Fassade sowie ein weiterer Ausbau der Kapelle, im Zweiten Weltkrieg kam es zu Beschädigungen und 1954 restaurierte Wilhelm Fahlbusch das Gebäude. In einer Nische im Eingangsbereich fällt eine beeindruckende Skulptur des Erzengels Michael in den Blick.
Als Ehrengräber finden sich auf dem Friedhof die Grabstätten der beiden Stadtältesten Alfred Rojek und Richard Schönborn sowie des Schriftstellers und Übersetzers August Scholz.
Neuer Kirchhof der Luisenstadtgemeinde, Hermannstraße 186–190 (Ostseite)
Der Neue Kirchhof der Luisenstadtgemeinde stammt aus dem Jahr 1865. Das 47.996 m² große Gelände besitzt eine Hauptallee, von der mehrere Nebenalleen als Querwege abgehen und ist durch vier Rondelle aufgelockert. Die Bepflanzung besteht hauptsächlich aus Linden.
Die Kapelle aus den Jahren 1958/1959 ist ein Werk der Architekten Paul und Jürgen Emmerich. Es handelt sich um einen Bau mit rechteckiger Grundfläche und einem Pultdach, der mit Klinkersteinen und Rauputz gestaltet ist, die Stirnfläche ist verglast. Die Vorhalle besitzt auf den Seitenwänden Putzschnittdarstellungen. Heute wird das Gebäude als Leichenhalle genutzt.
Kirchhof der St.-Thomas-Gemeinde II, Hermannstraße 179–185 (Ostseite)
Der zweite Kirchhof der St. Thomas-Gemeinde entstand 1872 gegenüber dem ersten. Das Gartendenkmal ist 51.635 m² groß und wie alle anderen Kirchhöfe geometrisch angelegt. Das Zentrum bildet eine Platanenallee mit vier Rondellen und vier Queralleen, die von Fichten und Linden gesäumt sind. Die Randbepflanzung stellen ebenfalls Linden dar, außerdem unterteilen Taxus-Hecken die Flächen.
Die Kapelle geht auf das Jahr 1870 zurück, der Architekt ist unbekannt. Es handelt sich um einen Backsteinbau mit Kreuzverbund. Die Halle ist seitlich geöffnet und besitzt eine gebrochene Apsis sowie zweiteilige Fenster. Der Innenbereich weist eine halbkreisförmige Altarnische sowie eine Empore auf. Ebenfalls auffällig ist das achteckige Blumenhaus, das wahrscheinlich in den 1920er-Jahren entstand.
Reinhold „Krücke“ Habisch (1889–1964), das Berliner Original und als „Erfinder“ der legendären vier Pfiffe im Sportpalast-Walzer heimlicher Star vieler Sechstagerennen, hat hier seine letzte Ruhestätte. Außerdem befindet sich hier das Grab des ehemaligen Berliner Oberbürgermeisters Robert Zelle, das Grab des Rixdorfer Stadtrats Gustav Leyke, Namensgeber der benachbarten Leykestraße, sowie das Gemeinschaftsgrab der Stadtältesten Marie und Wilhelm Wagner.
Auf dem Kirchhof befinden sich zudem ein Gedenkpavillon und ein Gedenkstein für ein Zwangsarbeiterlager, das sich auf dem Kirchhof V der Jerusalems- und Neuen Kirche in der Hermannstraße 84–90 befand. Der 2002 auf dem Kirchhof V errichtete Gedenkstein wurde später (spätestens 2013) auf den Kirchhof der St.-Thomas-Gemeinde II umgesetzt (siehe unten Kapitel Zwangsarbeiter der Kirche).
Mittlerer Bereich, Westseite, drei Kirchhöfe
Höhe U-Bahnhof Leinestraße, Reihenfolge in Richtung Süden
Kirchhof der St.-Thomas-Gemeinde I, Hermannstraße 79–83 (Westseite)
Der ältere Kirchhof der St.-Thomas-Gemeinde wurde 1865 angelegt. Er besitzt auf der Fläche von 65.697 m² eine Hauptallee mit Platanenbepflanzung sowie ein Rondell, ein weiteres kann vorhanden gewesen sein. Die Randbepflanzung stellen Pyramidenpappeln dar. Eine Kapelle gibt es auf diesem Kirchhof nicht, da die Kapelle auf dem gegenüberliegenden zweiten Kirchhof der Gemeinde für beide Teile des Gartendenkmals ausreicht. Seit Anfang 2007 wird dieser Friedhof abgeräumt.
Anita Berber (1899–1928), die Tänzerin („Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“) und Schauspielerin (Fritz Langs „Dr. Mabuse, der Spieler“) war hier bestattet. Das Grab ist nicht mehr vorhanden, da die Friedhofsverwaltung die Ruhestätte nach Ablauf der Belegungsfrist auflöste.
Kirchhof V der Jerusalems- und Neuen Kirche, Hermannstraße 84–90 (Westseite)
Der fünfte Kirchhof der Jerusalems- und Neuen Kirchen-Gemeinden zu Berlin aus den Jahren 1870 bis 1872 besitzt eine zentrale Lindenallee mit sieben Querwegen und mehreren Rondellen, das Gelände ist 56.024 m² groß.
Die Kapelle legte Louis Arndt in den Jahren 1899/1900 als roten Backsteinbau im gotischen Stil an. Nach Kriegsbeschädigungen erfolgte nach Kriegsende ihr Wiederaufbau. 2002 überließ die Eigentümerin, die Evangelische Kirchengemeinde in der Friedrichstadt, die Kapelle für 30 Jahre an eine Gemeinde der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche gegen Auflage des Bauunter- und -erhalts. An Ostern 2003 weihte der Bischof der Diözese von West- und Mitteleuropa die Kapelle als Kathedralkirche des Hl. Zaren Boris des Täufers. Der Verwaltungsbau und das Tor an der Hermannstraße entstanden bereits 1873, der Architekt ist unbekannt. 1877 erfolgte ein Umbau des Verwaltungsgebäudes zur Leichenhalle, den C. Dammeier vornahm.
Während der letzten beiden Jahre des Zweiten Weltkriegs stand am Westende des Kirchhofes, kurz vor dem ehemaligen Flughafen Tempelhof, eine Baracke für Zwangsarbeiter, die auf dem Kirchhof arbeiten mussten. Am Standort des Zwangsarbeiterlagers wurde eine Gedenktafel errichtet. 2002 wurde zudem ein Gedenkstein des Berliner Bildhauers Rainer Fest nahe am Eingang Hermannstraße eingeweiht. Der Gedenkstein wurde später (spätestens 2013) auf den Kirchhof der St.-Thomas-Gemeinde II, Hermannstraße 179–185, umgesetzt (siehe unten Kapitel Zwangsarbeiter der Kirche).
Die Kirchhöfe St. Thomas I und Jerusalems- und neue Kirche V dienten zusätzlich gemeinsam als östliche Einflugschneise des ehemaligen Flughafens Tempelhof und waren aus diesem Grund mit Reihen von Leuchtfeuermasten durchzogen.
Neuer Kirchhof der St.-Jacobi-Gemeinde, Hermannstraße 99–105 (Westseite)
Der Neue Kirchhof der St.-Jacobi-Gemeinde aus dem Jahr 1867 verfügt über eine Fläche von 74.048 m², eine zentrale Lindenallee mit mehreren Rondellen und fünf Querwege.
Das Baujahr und der Architekt der im romantischen Stil gehaltenen asymmetrischen Kapelle sind nicht bekannt. Sie hat eine Fassade aus gelben Verblendziegeln im Kreuzverbund und besitzt eine halbkreisförmige Apsis sowie mehrere flache Nebengebäude. Im Krieg beschädigt kam es 1952 zum Wiederaufbau der Kapelle.
Auf dem St. Jacobi-Kirchhof befindet sich das Grab des Theologen Bruno Bauer (1809–1882), dessen Arbeiten Karl Marx und Friedrich Engels in Die Deutsche Ideologie (1845/1846) polemisch kritisierten („Sankt Bruno“). Der Grabstein trägt die Inschrift: Er war ein Bürger Rixdorfs.
In Theodor Fontanes Roman „Irrungen, Wirrungen“ (1888 erschienen, spielt in Berlin um 1880) wird dieser Friedhof im 22. Kapitel erwähnt. Botho von Rienäcker, Protagonist dieser Geschichte, besucht hier das Grab der Ziehmutter seiner Geliebten Lene Nimptsch. Interessant, dass es mit der Ruhestätte von Bruno Bauer, gest. 1882, noch ein Relikt aus dieser Zeit gibt. Im Roman wird, im 21. Kapitel, auch die Anfahrt recht ausführlich beschrieben: Über Kreuzberg geht es dann an der Hasenheide, dem Rollkrug und dem überfüllten Alten Kirchhof der St. Jacobi-Gemeinde vorbei, die Hermannstraße hinunter.
Südlicher Bereich, ein Kirchhof
Kirchhof der Emmausgemeinde, Hermannstraße 129–137 (Westseite)
Das Gartendenkmal Emmauskirchhof der gleichnamigen Gemeinde aus dem Jahr 1888 liegt am Südende der Hermannstraße kurz vor ihrem Übergang in den Britzer Damm, parallel zum neuen Autobahntunnel Richtung Westen (siehe unten „Kapitel Radfahrer“).
Der Friedhof ist zugleich der jüngste und mit 128.781 m² der größte Kirchhof an der Hermannstraße. Der Baumeister der Kapelle aus der Zeit um 1900 ist unbekannt. Stilistisch ist das Gebäude im Übergangsbereich zwischen Romantik und Gotik einzuordnen. Es handelt sich um einen unregelmäßigen Bau mit roter Ziegelfassade und grauen Putzflächen, die als Blenden und Bänder die Fassade strukturieren. Auf dem Dach steht ein Dachreiter mit Spitzhelm. Der Innenraum ist dreischiffig, wobei das Mittelschiff mit einem Kreuzgewölbe und einer Halbkreisapsis ausgestattet ist. Die Seitenschiffe besitzen Spitztonnengewölbe und an den Säulen befinden sich romanische Figurenkapitelle.
Hier ist Walter Bromme (1885–1943) bestattet, der in den Goldenen Zwanzigern beliebte Operetten und Schlager komponierte und in der Spielzeit 1923/1924 zeitweilig als Direktor des Metropol-Theaters in der Behrenstraße fungierte. Die Operetten Brommes reichten von Die Dame im Frack (1919) über Dolly (1924) bis zu Spiel nicht mit der Liebe (1934).
Zwangsarbeiter der Kirche
In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts wurde im Zusammenhang mit den Nachforschungen für den Entschädigungsfonds für Zwangsarbeiter bekannt, dass die Kirchen in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs in erheblichem Ausmaß Zwangsarbeiter angefordert und deutschlandweit beschäftigt hatten.[3] Im Sommer 2000 räumte der Berlin-Brandenburgische Bischof Wolfgang Huber ein, dass auch in Berlin auf dem Kirchhof der Jerusalems- und Neuen Kirche an der Hermannstraße 84–90 in den letzten drei Kriegsjahren ein Barackenlager für rund 100 Zwangsarbeiter bestand, die überwiegend zur Grabpflege und zur Bestattung von Bombenopfern zum Einsatz kamen. Es waren 39 evangelische und drei katholische Gemeinden, die sich aus dem Friedhofslager mit Bestattern versorgten. Die Kirchen sollen zudem die Ermordung von Kindern der Arbeiter stillschweigend in Kauf genommen haben. Mit aktiver Unterstützung der obersten Kirchenleitung bekam dieses Friedhofslager eine sogenannte „Rüstungsnummer“ und war damit als „kriegswichtig“ anerkannt. Der Leiter des Lagers, Gustav Weniger (ein Mitglied der Bekennenden Kirche), war Angestellter des evangelischen Stadtsynodalverbands. Die rechtlosen Zwangsarbeiter waren ihm als Lagerleiter und der Gestapo schutzlos ausgeliefert, jedoch kam unter ihm kein Häftling zu Tode.[4]
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat dazu ein Schuldbekenntnis abgelegt, außerdem beteiligten sich die Kirchen an Entschädigungszahlungen.
Unter welchen Gräuel und Entbehrungen die überwiegend russischen und ukrainischen Arbeiter, in der nationalsozialistischen Ideologie „slawische Untermenschen“, litten, beschreibt Wasyl Timofejewitsch Kudrenko, der mit 16 Jahren aus der Ukraine nach Berlin verschleppt wurde und im Jahr 2005 ein Tagebuch über den Alltag und das Überleben im Lager veröffentlichte. Darin heißt es: „Die schweren Bomben fielen auf den Friedhof und schleuderten die zuvor Begrabenen wieder empor […] Leichenteile, Eingeweide – alles auf dem Baum – schrecklich. Es war ein Horror. Wir ‚Ostarbeiter‘ legten sie in die Gräber zurück. Aber nicht jeder konnte das ertragen, psychisch aushalten.“
Die Zwangsarbeiter litten unter ständiger Todesangst, denn das Lager lag unmittelbar neben dem kriegswichtigen Flughafen Tempelhof, der besonderes Ziel der Flüge der Alliierten war. Kudrenko schreibt: „Wir suchten bei den Angriffen dort Schutz, wo der Alarm uns überraschte: zwischen den Särgen, in der Kanalisation, in Rohren“. Mehrfach kam es zu Bombentreffern im Barackenlager, im Jahr 1944 brannte es in kürzester Zeit vollständig aus. Zuflucht zu Schutzräumen war den Zwangsarbeitern verwehrt.
Zwangsarbeiter im Alter zwischen 53 und 64 Jahren kamen namentlich als „wegen ihres körperlichen Zustandes nicht mehr verwendbar“ auf eine Liste und wurden in ein Sammellager abgeschoben. In dem Lager fand mit einiger Sicherheit keinerlei medizinische Versorgung mehr statt, zudem gab es hier so gut wie keine Ernährung – eine hohe Sterblichkeitsrate war die Folge. Das Kriegsende befreite die Überlebenden im Sammellager und auf dem Kirchhof.
Eine Informationssäule (ehemals im Kirchhof der Jerusalems- und Neuen Kirche) mit acht Bild- und Schrifttafeln listet alle beteiligten Berliner Gemeinden auf. Die Tafeln verzeichnen ferner die Namen der 96 Zwangsarbeiter, die namentlich bekannt sind. 2002 wurde, gleichfalls im Kirchhof der Jerusalems- und Neuen Kirche, ein Gedenkstein des Berliner Bildhauers Rainer Fest eingeweiht, der auf der Oberfläche die beteiligten Gemeinden per Gravur festhält. Eine Schicht des Findlings, aus dem der Stein gearbeitet ist, schnitt Fest heraus und teilte sie in 42 Einzelteile – mit je einem Namen der beteiligten Gemeinden. Jede Gemeinde erhielt zur Erinnerung an ihre Verantwortung „ihren“ Stein, eine Verantwortung, die sich an der Oberfläche des Gedenksteins mit allen Namen zur Gesamtverantwortung zusammenfügt. Der Gedenkstein und die Informationssäule wurden später (spätestens 2013) auf den Kirchhof der St.-Thomas-Gemeinde II in der Hermannstraße 179–185 umgesetzt.[5]
Literatur
- Arbeitsgemeinschaft NS-Zwangsarbeit Berliner Kirchengemeinden in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (Hrsg.): Geschichte erforschen – Menschen finden – Erinnerungsorte gestalten, Evangelisches Landeskirchliches Archiv 2014
- Wasyl Timofejewitsch Kudrenko: Bist Du Bandit? Das Lagertagebuch des Zwangsarbeiters Wasyl Timofejewitsch Kudrenko. Wichern Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-88981-173-6 Zitate nach den Informationstafeln, siehe „sonstige Quellen“
- Erich Schuppan (Hrsg.): Sklave in Euren Händen. Zwangsarbeit in Kirche und Diakonie Berlin-Brandenburg. Wichern Verlag, Berlin 2003, ISBN 3-88981-155-8
- Klaus Konrad Weber, Peter Güttler, Ditta Ahmadi (Hrsg.): Berlin und seine Bauten. Teil X Band A: Anlagen und Bauten für die Versorgung (3) Bestattungswesen. Verlag von Wilhelm Ernst & Sohn, Berlin 1981, ISBN 3-433-00890-6
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Anhang > Rixdorf > Hermannstraße. In: Berliner Adreßbuch, 1880, Anhang, S. 90, 91.
- ↑ Rixdorf > Hermannstraße. In: Adreßbuch für Berlin und seine Vororte, 1900, V, S. 164, 165.
- ↑ Informationssäule im Kirchhof der Jerusalems- und Neuen Kirche mit acht Bild- und Schrifttafeln. Die Zitate von Kudrenko sind diesen Tafeln entnommen.
- ↑ Bodo Bost Das vergessene Friedhofslager in Christ in der Gegenwart, CIG Nr. 45/2014, S. 515
- ↑ Der Informationssäule entstammt ein Großteil der Informationen für diesen Abschnitt. Die Zitate von Kudrenko sind diesen Tafeln entnommen.