Benutzer:Feltkamp/Niklas Luhmann Charakterisierung des Werkes

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Charakterisierung des Werkes

Das international beachtete Lebenswerk Luhmanns ist eine allgemeine und umfassende Theorie der Gesellschaft, welche gleichermaßen Geltung in der wissenschaftlichen Untersuchung sozialer Mikrosysteme (Liebesbeziehungen) und Makrosysteme (Rechtssystem, Politik) beansprucht. Die ungeheure Tragweite der Theorie beruht darauf, dass seine Systemtheorie von der Kommunikation anhebt, und die Strukturen der Kommunikation in weitgehend allen sozialen Systemen vergleichbare Formen aufweisen. Luhmanns Systemtheorie kann als Fortsetzung des radikalen Konstruktivismus in der Soziologie verstanden werden.[1] Er knüpft vor allem an die theoretischen Grundlagen Humberto Maturanas und dessen Theorie autopoietischer Systeme an.[2] Ferner lieferten Edmund Husserl und Immanuel Kant wichtige Voraussetzungen, was den theoretischen Zeitbegriff anbelangt,[3] so wie George Spencer-Brown, was den Form und Sinnbegriff anbelangt.[4] Dem gegenüber bricht Luhmann mit vielen theoretischen Grundannahmen der Soziologie und Philosophie, die in unlösbare Paradoxien hineinführen: z.B. ersetzt er Handlung durch Kommunikation als basalen soziologischen Operationstyp.[5] Er bricht auch mit dem klassischen Subjekt-Objekt-Schema und ersetzt es durch die Leitdifferenz System und Umwelt.[6]

Bereits 1970, also noch ziemlich am Anfang seiner produktivsten Lebensphase, lieferten sich Luhmann und der Soziologe Jürgen Habermas, als jüngster Vertreter der Kritischen Theorie, eine ausführliche Kontroverse zu ihren teils gegensätzlichen Theoriemodellen, welche sie mit einer gemeinsamen Publikation "Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie" dokumentierten.[7] Der wohl wichtigste Streitpunkt dieser Kontroverse war, ob die Soziologie eine moralische Komponente oder eine soziale Utopie (Herrschaftsfreiheit) durchzutragen habe, oder lediglich eine Beschreibung der Gesellschaft nach funktionaler Prämisse leisten müsse.[8] Aus der Sicht Luhmanns fällt die Antwort so aus, dass das Erstere nur auf Kosten des Letzteren möglich ist.[9] Wenn sich die Soziologie an der Kritik oder am Diskurs orientiert, so ist sie damit auch an bestimmte Ausgangslagen gebunden und findet fatalerweise nur zu zeitlich begrenzter Gültigkeit. Um dem zu entgehen, muss Luhmann zufolge die Soziologie eine noch tiefer gelegte Abstraktion der sozialen Dynamik finden, die dafür einen zeitlich höheren Geltungsanspruch verwirklichen kann. Die moralische Bewertung und Kritik des Zeitgeschehens wird dadurch keineswegs ausgeschlossen, im Gegenteil, sie wird lediglich aus der Funktion der Soziologie ausgelagert in andere Bereiche, nämlich Politik oder Ethik. Dieser Schritt ist besonders deshalb erforderlich, weil die Soziologie bis dato weder über einen allgemeinen Begriff noch über eine allgemeine Theorie der Gesellschaft verfügt. Für die Soziologie als Wissenschaft ist es notwendig, dass sie ihren Gegenstand in allgemeiner Weise bezeichnen kann.

Luhmanns Theorie der Gesellschaft geht davon aus, dass die „moderne“ Gesellschaft durch den Prozess der „funktionalen Differenzierung“ gekennzeichnet ist.[10] Die Gesellschaftsstruktur des alten Europas hat sich aufgrund der Komplexitätszunahme eigener Sinnressourcen von der segmentären zur stratifikatorisch-hierarchischen, und weiter zur funktional differenzierten Ordnung umgeformt. In der Moderne lösen sich zunehmend Teilsysteme aus dem Gesamtkontext der Gesellschaft heraus und grenzen sich nach Maßgabe eigener funktionaler Prämissen vom Rest der Gesellschaft ab (Ausdifferenzierung). Das Bild der modernen Gesellschaft ist aufgelöst in eine wachsende Vielheit von Teilsystemen, die sich gegenseitig zur Umwelt haben und die strukturell mehr oder weniger fest aneinander gekoppelt sind. Die Gesellschaft überhaupt stellt für jedes einzelne Teilsystem (und für alle Teilsysteme zusammen) einen identischen Hintergrund dar, der funktional auf die Möglichkeit der Kommunikation hin entworfen werden kann.

Luhmann bietet erstmals in der relativ jungen Geschichte der Soziologie (ca. 150-200 Jahre, vgl. Philosophie min. 2500 Jahre) nach Emil Durkheim, Max Weber und weiteren einen allgemein gültigen und zeitlich konsistenten Begriff der Gesellschaft an[11][12], welcher die grundlegende Paradoxie aufzulösen vermag, dass die Soziologie selbst ein Teil der Gesellschaft ist, also selbst ein Teil des Gegenstandes ist, den sie wissenschaftlich zu begreifen sucht, wodurch die Unabhängigkeit und Unbedingtheit dessen, als was Gesellschaft bezeichnet wird, entscheidend beeinträchtigt wird. Schließlich wird alles, womit die Soziologie arbeitet, Sprache, Kommunikation, Buchdruck, Problemlagen, Forschungsziele, Geld usw. von der Gesellschaft bereitgestellt. Wenn sich die Soziologie als unabhängige Wissenschaft behaupten will, muss sie jedoch einen allgemein gültigen Begriff ihres Gegenstandes, der Gesellschaft nämlich, angeben bzw. definieren können. Ohne einen solchen Begriff bliebe die ganze Soziologie nur von instrumenteller Bedeutung.

Um Gesellschaft beschreiben zu können, ist schon vorab zumindest eine vage Vorstellung erforderlich, was überhaupt beschrieben bzw. beobachtet/beschrieben werden soll. Diese Vorstellung ist nicht nur multidimensional und hyperkomplex (Wirtschaft, Wissenschaft, Medien, Politik, Recht, Kultur, usw.), sondern am Ende auch paradox, da jeder Begriff, den sich die Gesellschaft von sich machen könnte, selbst-implikativ und somit im Sinne der Wissenschaftslogik ungültig ist. Wenn diese paradoxe Lage, in der die Soziologie sich befindet, erst einmal erkannt ist, dass also „Gesellschaft“ eine maßlose Überforderung für jeden Intellekt darstellt, und keine Wissenschaft die „ganze“ Gesellschaft überblicken kann, muss die Frage umgedreht werden, zu der Frage, wie es trotzdem möglich ist, dass Teilsysteme sich in der Gesellschaft orientieren können und dennoch relativ stabile Strukturen aufweisen, dass sich dauerhafte Institutionen in der Gesellschaft etabliert haben, welche anscheinend (vielleicht aber auch nur scheinbar) die Lage beherrschen.[13] Die Teilsysteme der Gesellschaft werden im Hinblick auf ihre evolutiven, selbst-stabilisierenden, autopoietischen Strukturen hin beobachtet und geben selbst die Antwort darauf, was Gesellschaft ist, indem sie zeigen, wie sie mit der Komplexität und Paradoxierung der Gesellschaft umgehen. Diesen Beobachtungen hat sich Luhmann mit seinem ganzen Lebenswerk zugewendet.

Bibliographische Zuordnung

Luhmann hat sehr viele Texte und Bücher veröffentlicht. Zwischen 1963 und 1968 erschienen viele Publikationen, die noch thematisch an seine Verwaltungstätigkeit angelehnt waren. Als er 1968 endgültig die Universitäre Laufbahn einschlägt, erscheinen die ersten allgemeinen soziologischen Werke („Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen“), mit denen zugleich auch die Arbeit an der soziologischen Systemtheorie beginnt. Zwischen 1970 und 1983 erscheinen jedes Jahr 1-3 neue Bücher in denen er sich Teilproblematiken der Systemtheorie zuwendet. Das sind insbesondere „Soziologische Aufklärung“ (6 Bd.), „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ (4 Bd.), „Ausdifferenzierung des Rechts“ und „Liebe als Passion“.

1984 erschien dann endlich sein (chronologisch) erstes Hauptwerk „Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie“. Mit dem von langer Hand vorbereiteten Entwurf gibt Luhmann seiner Systemtheorie zum ersten Mal eine einheitliche Gestalt. Nach „Soziale Systeme“ folgen mehrere Bände über Teilsysteme der Gesellschaft „Die Wirtschaft der Gesellschaft“, „Die Wissenschaft der Gesellschaft“, „Die Kunst der Gesellschaft“, und weitere. In diesen Arbeiten wird mit ausreichend tiefem Rückgriff in die Geschichte des jeweiligen Teilsystems, dessen Ausdifferenzierung und Evolution nachvollzogen. Es werden die funktionalen Prämissen, die symbiotischen Mechanismen, die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, so wie die operative Geschlossenheit und Autopoiesis des Teilsystems und dessen Verhältnis und strukturelle Kopplung zur Umwelt untersucht. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass Luhmann hier eine unglaubliche interdisziplinäre Leistung erbracht hat, wie seine bibliographischen Querverweise belegen. Vollendet wird der Zyklus 1997 durch das zweite Hauptwerk „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ (2 Bd.), welches die am besten ausgearbeitete Fassung seiner Systemtheorie und seines Gesellschaftsbegriffes darstellt.[14]

Einzelnachweise

  1. s. GLU - Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi, Elena Esposito, stw, Frankfurt M. 1997, S. 100, Beitrag über Konstruktivismus
  2. s. GLU - Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi, Elena Esposito, stw, Frankfurt M. 1997, S. 29, Beitrag über Autopoiesis
  3. Armin Nassehi, Die Zeit der Gesellschaft - Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit, Westdeutscher Verlag, Opladen 1993, S. 59-62
  4. Siehe dazu z.B. Die Form der Paradoxie - Eine Einführung in die Mathematik und Philosophie der "Laws of Form" von G. Spencer Brown, Felix Lau, Carl-Auer Verlag 2005, S. 147-151, Das Kapitel Exkurs in die Systemtheorie von Niklas Luhmann
  5. "... die hier skizzierte, im Folgenden auszuarbeitende Theorie der Systemdifferenzierung [bezieht] sich auf Kommunikation und nicht auf Handlungen. Wer Handlungen beobachtet, wird typisch mehrere Systemzugehörigkeiten feststellen können, allein schon deshalb, weil der Handelnde selbst körperlich und mental als Zurechnungspunkt fungiert und außerdem eine Handlung sich, nach Motiven und Wirkungen, an mehreren Funktionssystemen beteiligen kann. [...] Nur wenn man von Handlung auf Kommunikation umstellt, wird es notwendig, die Elementareinheiten der Systembildung rekursiv durch Bezug auf andere Operationen desselben Systems zu definieren. Ein Handlungstheoretiker kann sich mit der Feststellung einer Intention, eines »gemeinten Sinnes« einer Handlung begnügen." N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, stw, Frankfurt M. 1997, S. 608
  6. „Die Relation von Erkennen und Erkanntem ist für Niklas Luhmann nicht länger interessant, ebensowenig wie die des Menschen als autonom handelndes und erkennendes »Subjekt« gegenüber der Welt. Für einen mit der neuzeitlichen Erkenntnistheorie vertrauten philosophischen Betrachter erhält diese Theorieumstellung einige unplausible Aspekte, denn es scheint unbezweifelbar, daß es »jemand« ist, der erkennt, und daß es »etwas« ist, das er erkennt. Im Sinne einer »unplausiblen Annahme«, wie Luhmann sagt, gilt es zunächst nachzuvollziehen, was geschieht, wenn an die Stelle der traditionellen Subjekt/Objekt-Relation ein funktionales Äquivalent tritt: die selbstimplikative Unterscheidung von System und Umwelt.“ Aus Die Theorie selbstreferentieller Systeme von Niklas Luhmann als konsequente Fortführung traditioneller erkenntnistheoretischer Ansätze. Andreas Dammertz (Dissertation), Universität Duisburg 2001, S.3f, Siehe weiter S. 146-151
  7. Jürgen Habermas, Niklas Luhmann Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - was leistet die Systemforschung? 10. Aufl., stw 1990, Frankfurt M.
  8. S. Klaus Eder, Komplexität, Evolution und Geschichte, in dem Sammelband Supplement 1, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Beiträge zur Habermas-Luhmann-Diskussion, stw Frankfurt M. 1973, S. 9-13
  9. Jürgen Habermas, Niklas Luhmann Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - was leistet die Systemforschung? 10. Aufl., stw 1990, Frankfurt M. S. 398-405
  10. Zum Begriff funktionaler Differnzierung: N. Luhmann Soziologische Aufklärung 4, Westdeutscher Verlag, Opladen 1994, S.34-37
  11. S. Lothar Eley, Transzendentale Phänomenologie und Systemtheorie der Gesellschaft Verlag Rombach Freiburg 1972, S. 102-110, das Kapitel Systemtheorie der Gesellschaft und Erscheinung
  12. Zum Problem der Gesellschaft als Gegenstand der Soziologie s. F.H. Tenbruck Emil Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geiste der Soziologie, Zeitschrift für Soziologie, F.Enke Verlag Stuttgart, Jg. 10 Heft 4, 10.1981, S. 333-350; besonders S. 335, der Abschnitt Die Gesellschaft - eine Hypothek der Soziologie
  13. Dazu N. Luhmann Die Gesellschaft der Gesellschaft, stw Frankfurt M. 1997, S. 29-35
  14. Siehe hierzu: Niklas Luhmann: Der Mann mit dem Zettelkasten, Simone Rastelli, NDR 2008, (online)