Benutzer:Nicolai P./Kiezkoller

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Kiezkoller ist ein Zukunftsroman von Fritz Schmoll (*1945), der 1988 im Rotbuch Verlag erschienen ist. Als Szenario werden Tendenzen der Alternativbewegung der 1980er Jahre konsequent weitergedacht. Der Roman erhielt 1989 den Deutschen Science Fiction Preis.

Inhalt

Der Roman spielt in einem weitgehend entvölkerten West-Berlin, das nach wie vor eine Insel in der DDR ist. Westeuropa besteht aus autonomen Kiezen – den „angstfreien Zonen“. Privateigentum, Industrialismus und Konkurrenzdruck sind überwunden. Entscheidungen sowie die Bewußtseinsregulierung werden jedoch im hochzivilisierten Bangkok getroffen. Von dort wird den Europäern ein Mindesteinkommen zugeteilt, für das ausschließlich in Asien produzierte Hochtechnologie erworben werden kann, sofern nicht geschmuggelte Industrieprodukte aus dem nach wie vor sozialistischen und industrialisierten Ostblock gekauft werden.

In dem ehemals dichtbesiedelten Kiez „Hinteres Kreuzberg“, dem ehemaligener Stadtteil SO 36, stehen nur noch wenige Häuser, die Straßen sind zu Pfaden geworden, technische Bauten wie die Hochbahn dienen als Rohstoffquellen. Wichtige Entscheidungen werden in der matriarchalischen, keineswegs hierarchielosen Kiezgesellschaft vom Plenum der Matronen getroffen. Homosexualität ist die grundlegende Verhaltensnorm geworden, den wenigen heterosexuellen Paaren wird Toleranz nur geheuchelt, in Wahrheit begegnet man ihnen aber voller Unverständnis und Spießigkeit. Die übliche Wohnform ist die Frauen- oder Männer-Wohngemeinschaft, in denen die Befriedigung der Sexualität nach dem gleichen Rotationsprinzip geregelt ist, wie der Küchendienst. Wenig Verständnis wird auch den „Non-multiples“ entgegengebracht, denjenigen, die allein leben.

In der Ruinenlandschaft können sich die Bewohner durch ökologische Landwirtschaft selbst versorgen, daneben gibt es Handwerk, Dienstleistungen und − nur in der dominierenden Matronen-WG auf der Lohmühleninsel – qualifizierte Tätigkeiten wie Softwareprogrammierung. Der Energiebedarf ist zwar gering, kann aber durch die Biogasanlagen trotzdem nicht gedeckt werden. Deshalb ist „Zuscheißer“ bei einer der großen Matronen-WGs, die sich auf der Lohmühleninsel, am Paul-Lincke-Ufer und im Bethanien befinden, eine geachtete Position. Leichen werden ebenfalls von diesen Kommunen beansprucht. Technik spielt im Kiez insgesamt nur punktuell eine Rolle. Aus dem industrialisierten Ost-Berlin werden vor allem die begehrten hochwertigen Fünfgang-Fahrräder in den Kiez geschmuggelt. Wichtig ist ein „Body-Sensor“, den jeder am Körper trägt und der die eigenen Gefühle und Körperfunktionen anzeigt. Dieser wird in Thailand produziert.

Die Berliner Mauer wurde zwar schon vor langer Zeit abgerissen, trotzdem schottet sich der wirtschaftlich autarke Bezirk nach außen durch einen bewachten Zaun ab. In West-Berlin sollen etwa 30 autonome Kieze existieren, die jedoch kaum Kontakt zueinander haben. Wegen zwischen den Kiezen marodierender Kinderbanden wagen sich die Bewohner nur selten und in Gruppen heraus. Verwaltungsaufgaben werden von einem dezentralen Zentralcomputer am Fehrbelliner Platz übernommen. Dort soll es Energiemengen geben, die selbst heißes Duschen erlauben, sowie Luxusgüter wie antikes Plastikgeschirr. Von dieser Zentrale kommen auch Programme auf die überall vorhandenen Bildschirme und Terminals. Besondere Bedeutung kommt den Spots zum Bewußtseinstraining zu. Vom Fehrbelliner Platz werden die Wachpolizisten auch mit Kokain versorgt, das zur Erhöhung der Wachsamkeit gegen den Willen der Bullengewerkschaft eingeführt wurde.

Protagonist der Handlung ist der Bulle Grep, den das Kiezleben anödet – er leidet unter dem gefürchteten „Kiezkoller“. Grep verliebt sich in die Beziehungsarbeiterin Zetta, einer Außenseiterin, die als Hetero und Non-multiple in der Ruine des alten Hochbahnhofs Schlesisches Tor lebt. Wegen der erwachenden Erkenntnis, heterosexuell zu sein, leidet er unter Angstzuständen, die sich verstärken, als er eine Leiche entdeckt, die am nächsten Tag verschwunden ist. Schließlich versucht er, mit Zetta zu fliehen. In jeweils einem Kapitel stehen ein Manager im hochtechnisierten Bangkok und ein Mitglied einer Field Gang im Mittelpunkt der Erzählung.

Einordnung

Der Architekt und Stadtplaner Fritz Schmoll war an der Berliner Hochschule der Künste am „Forschungsschwerpunkt Stadterneuerung“ tätig, als er das Buch schrieb, das 1988 im Rotbuch Verlag erschien. „Kiezkoller“ war Schmolls Debütroman, ein zweites literarisches Werk folgte nicht.

Der Roman erhielt 1989 den Deutschen Science Fiction Preis und wurde sehr wohlwollend in den deutschen Feuilletons besprochen. Als nur ein Jahr nach Erscheinen des Buches die Berliner Mauer fiel, konnte jedoch die Grundidee der Geschichte – die Entwicklung einer durch die Insellage vom Rest der Welt losgelösten alternativen Gesellschaftsordnung – nicht mehr als anti-utopische Extrapolation der realen Gegenwart gesehen werden. Der Roman erlebte keine zweite Auflage.

Literatur

  • Fritz Schmoll: Kiezkoller. Nachrichten aus der angstfreien Zone. Berlin, Rotbuch Verlag 1988. ISBN 3-88022-728-4

Weblinks