Benutzer:P. Birken/Was ist eigentlich eine Enzyklopädie

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Frage, was eine Enzyklopädie eigentlich ist, und illustriert dies am konkreten Beispiel der deutschsprachigen Wikipedia. Insbesondere geht es darum, die Notwendigkeit von Löschungen und Relevanz auch in der Wikipedia zu erläutern. Nichts davon ist besonders neu oder originell, es kann aber nicht oft genug gesagt werden.

Enzyklopädiedefinition

Unter einer Enzyklopädie versteht man eine strukturierte, möglichst umfassende Darstellung menschlichen Wissens in einer für den Alltagsgebrauch hinreichenden Ausführlichkeit (Enzyklopädie). Oder auch: Die Enzyklopädie versucht, das gesamte Wissen der Welt darzustellen (Enzyklopädistik). Die Schlüsselworte sind hier "Wissen" und "möglichst umfassende Darstellung". Letzteres folgt daraus, dass es aus Platz- und vor allem Zeitgründen unmöglich ist, alle Wissensartefakte der Menschheit verfügbar zu machen.

Eine Information ist eine Menge relevanter Daten, die in einem spezifischen Kontext eine Aussage darstellt (Informationsbegriff).

Die Arbeit an einer Enzyklopädie besteht also aus der kontextbezogenen Gewichtung und Verdichtung von Informationen. Das geschieht durch die Auswahl von Lemmata, der Organisation ihrer Beziehungen untereinander und der Selektion relevanter Daten. Zentral ist also immer die Frage, welche Art von Informationen aufgenommen wird und welche nicht.

Klassische Enzyklopädien

Klassische moderne Papierenzyklopädien haben eine Trennung in die Redaktion und die Autoren. Die Redaktion wählt Lemmata aus, gewichtet diese in spezifischer Weise nach Bedeutung und vergibt dann Aufträge an Autoren (etwa: "Bitte 10 Seiten zum zweiten Weltkrieg" oder "Zehn Zeilen zu Stuttgart" oder "eine Zeile zu Ovid"). Der wesentliche Grund für dieses Vorgehen ist das Platzproblem, da diese Enzyklopädien nach Regalmeter verkauft werden. Bei der Auswahl der Lemmata geht es vor allem darum, die Bedürfnisse der Kunden zu befriedigen: es werden also diejenigen Artikel als relevant eingestuft, von denen vermutet wird, dass sie ein durchschnittlicher Kunde in einer Enzyklopädie erwartet.

Relevanz in der Wikipedia?

In der Wikipedia fällt die Trennung zwischen Redaktion und Autoren weg. Redaktion und Autorenschaft sind eins. Ebenso gibt es kein Platzproblem und keine Erfordernis, etwas zu verkaufen. Entsprechend wird in meta:Wiki is not paper die Auffassung vertreten, es gäbe keine prinzipielle Grenzen für die Aufnahmefähigkeit von Wikipedia: "The length, depth, and breadth of articles in Wikipedia is virtually infinite. As Wikipedia grows, so will computing power, storage capacity, and bandwidth. While there is a practical limit to all these at any given time, Wikipedia is not likely to ever outgrow them." Diese rein technische Sicht der Dinge vernachlässigt jedoch, dass es neben Bandbreite und Festplattenplatz noch andere Faktoren gibt, die für den Aufbau einer kollaborativ erzeugten Enzyklopädie entscheidend sind: Jeder neue Artikel muss gegen Vandalismus bewacht, in die Gesamtsstruktur eingepasst werden und er sollte verbessert werden. Besonders die Einbindung in bestehende Strukturen ist nicht trivial, sie erfordert die Änderung von Artikeln aus dem Themengebiet, um Redundanzen zu vermeiden, eine gemeinsame Sprache und gemeinsame Notation herzustellen, und auch die Anpassung von Kategorien. Jeder neue Benutzer muss in gewisser Weise eingewiesen werden. Die Community muss also mit dem Wachstum der Wikipedia ihre Ressourcen skalieren und unterschiedlich allokieren!

Wichtigste Stellhebel sind hier die Selektion von Lemmata und die Auswahl von Autoren. Jeder gelöschte Artikel bedeutet weniger Arbeit. Auf der anderen Seite ist das Erstellen von Artikel ja eines der Ziele des Projekts. Entsprechend ist das zufällige Löschen von Artikeln natürlich nicht sinnvoll, sondern das Löschen entsprechend den Zielen der Enzyklopädieerstellung. Dazu gehört einmal das Löschen von schlechten Artikeln, die den Lesern keine enzyklopädischen Informationen vermitteln, insbesondere aber das Löschen von Artikeln zu weniger wichtigen Themen. Dazu kommt, dass sich Autoren häufig angucken, welche Artikel bereits bestehen, um dann welche zu in ihren Augen ähnlichen Themen anzulegen. Ein nicht gelöschter Artikel führt also zu weiteren ähnlichen Artikeln. Ein nicht gelöschter Artikel zu irrelevanten Themen führt entsprechend zu weiteren Artikeln zu irrelevanten Themen.

Der andere Stellhebel ist die Auswahl der Autoren. Was eine kollektiv erarbeitete Enzyklopädie benötigt, sind Autoren die gute Artikel schreiben und keine Arbeit durch unüberlegte Aktionen oder unsinnige Diskussionen verursachen. Im Umkehrschluss sind Autoren schlechter Artikel kein Gewinn. Der Slogan "Verbessern statt Löschen" deutet hier vielfach in eine falsche Richtung, da er schlechten Autoren suggeriert, ihre Arbeit wäre prinzipiell erhaltenswert. Adäquatere Werkzeuge sind vielfach persönliche Ansprache und die Löschung schlechter oder irrelevanter Artikel.

Erklärung der Welt

Ein weiteres Kriterium bei der Auswahl von Artikeln ist die "Verwendung zur Erbringung eines bestimmten Nutzens und Umsetzung einer bestimmten Funktion": Die Enzyklopädie reduziert Komplexität und ermöglicht so dem Laien das rasche, (aber möglicherweise auch nur rudimentäre) Verstehen ihm fremder Sachgebiete und vorher nicht bekannter Zusammenhänge. Um zu wissen, wie mein PC funktioniert, braucht es keinen Artikel über den PC auf meinem Schreibtisch, es reicht der Artikel Personal Computer. Die Frage ist also immer, ob das Konkrete zu beschreiben noch sinnvoll ist oder ob eine Beschreibung des Abstrakten nicht besser ist. Beschreibt man alle konkreten IRC-Clients? Oder beschreibt man IRC-Clients allgemein und vielleicht noch einzelne herausragende? Beschreibt man alle konkreten Pokemons? Oder beschreibt man Pokemons und einzelne herausragende? Beschreibt man die Ableitungen aller Funktionen? Oder das Konzept und wichtige Regeln? Die Antwort ist immer letzteres. Der Blick auf das Konkrete versperrt den Blick auf das Wesentliche.

Skaliert die Wikipedia?

Die Antwort ist schwierig. Ich persönlich würde sagen: Noch ja, Tendenz sinkend. Das Wachstum der Wikipedia hat sich beschleunigt [1] von etwa 400 Artikeln pro Tag auf 500 Artikel pro Tag. Es ist nicht das exponentielle Wachstum der en:WP, es ist aber merkbar. Gleichzeitig hat sich die Anzahl der Edits pro Monat verdoppelt. Genauso gilt dies für die Anzahl der Löschungen (LAs, URVs, aber vor allem SLAs), die auf etwa 1000 pro Tag angestiegen ist. Bei 100 Artikeln mehr Nettowachstum werden also täglich mehrere hundert Artikel mehr gelöscht. Ebenso stagniert die Quote der exzellenten Artikel seit etwa einem Jahr: Wikipedia:Statistik der exzellenten Artikel. Die Anzahl der Löschkandidaten ist von 60 bis 100 auf täglich über 100 gestiegen. Dabei drehen sich die Diskussionen mehr und mehr um Artikel, deren Relevanz nicht klar bestätigt wird, die neuen Artikel sind also verständlicherweise zu immer unwichtigeren Themen. Dem gesteigerten Arbeitsaufwand steht also kein proportionaler Qualitätszuwachs entgegen. Gleichzeitig sieht man, dass immer häufiger aktive Benutzer die Wikipedia verlassen, aktuell gibt es einen Exodus nach WikiSource. Jedem, dem das Projekt am Herzen liegt, müssen hier die Alarmglocken schrillen. Ein Umdenken ist dringend erforderlich, P. Birken, September 2006.