Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Basisdaten
Titel: Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft
Kurztitel: Bundesverfassung
Abkürzung: BV
Art: Verfassung
Geltungsbereich: Schweizerische Eidgenossenschaft
Rechtsmaterie: Verfassungsrecht
Systematische
Rechtssammlung (SR)
:
101
Ursprüngliche Fassung vom:18. April 1999
Inkrafttreten am: 1. Januar 2000
Bitte den Hinweis zur geltenden Gesetzesfassung beachten.

Datei:Bundesverfassung 1848 - CH-BAR - 3529242.pdf

Schweizer Bundesverfassung: Umschlag der amtlichen Ausgabe
Erste Seite der Bundesverfassung

Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (französisch Constitution fédérale de la Confédération suisse, italienisch Costituzione federale della Confederazione Svizzera, rätoromanisch Constituziun federala da la Confederaziun svizra?/i) vom 18. April 1999 (abgekürzt BV, SR 101) ist die Verfassung der Schweiz. Sie geht zurück auf die erste Bundesverfassung vom 12. September 1848, mit der die Schweiz vom Staatenbund zum Bundesstaat geeint wurde.

Stellung in der Rechtshierarchie

Die Bundesverfassung steht auf der obersten Stufe des schweizerischen Rechtssystems. Ihr sind sämtliche Verordnungen und Erlasse des Bundes sowie die Verfassungen, Gesetze, Verordnungen und Erlasse der Kantone und der Gemeinden untergeordnet. Grundsätzlich dürfen diese daher der Bundesverfassung nicht widersprechen. Eine Ausnahme bildet das zwingende Völkerrecht (ius cogens), dem die Bundesverfassung untergeordnet ist.[1]

Die Bundesverfassung schliesst allerdings die direkte (abstrakte) gerichtliche Anfechtung von «Akten» (d. h. rechtsetzenden Bestimmungen und Einzelakten) der Bundesversammlung und des Bundesrates aus (Art. 189). Die Überprüfung einer Verordnung des Bundesrates oder der Bundesversammlung durch das Bundesgericht auf ihre Verfassungsmässigkeit ist aber in konkreten Anwendungsfällen möglich, ausser wenn ihr Inhalt durch die nicht anfechtbare Delegationsbestimmung im Gesetz gedeckt ist. Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend (Art. 190), d. h. gegen ihre Anwendung ist keine Beschwerde vor Gericht möglich. Es gibt somit keine Verfassungsgerichtsbarkeit für Bundesgesetze. Diese spezielle Regelung ist Ausdruck der stärkeren Gewichtung des Demokratieprinzips gegenüber dem Rechtsstaatsprinzip: Die von der Volksvertretung erlassenen – und allenfalls in einem Referendum vom Stimmvolk angenommenen – Gesetze sollen nicht durch ein Gericht ausser Kraft gesetzt werden können.

Gliederung und Inhalt

Die Verfassung wird mit der Präambel eingeleitet, die mit dem Gottesbezug «Im Namen Gottes des Allmächtigen!» beginnt. Der eigentliche Verfassungstext ist in sechs Titel gegliedert: Titel 1 enthält allgemeine Bestimmungen, wie etwa zum Staatszweck (Art. 2), zur Stellung der Kantone (Art. 3), zu den Landessprachen (Art. 4) und zu den Grundsätzen rechtsstaatlichen Handelns (Art. 5). Titel 2 umschreibt die Grundrechte (Art. 7–36), die Bürgerrechte (Art. 37–40) und die Sozialziele (Art. 41).

Titel 3 nennt sich «Bund, Kantone und Gemeinden» und regelt in den Art. 43–135 die Kompetenzaufteilung zwischen den drei staatlichen Gliederungsebenen. Darin ist insbesondere die umfassende Liste der Zuständigkeiten des Bundes (Art. 54–125) von Bedeutung: Jeder Erlass des Bundes muss sich auf eine solche Norm stützen. Existiert keine explizite Bundeskompetenz in einem bestimmten Gebiet, so sind dafür die Kantone zuständig und der Bund ist darin nicht befugt, gesetzgeberisch tätig zu werden (siehe Föderalismus in der Schweiz, Subsidiarität). Die Kompetenzen des Bundes sind im Laufe der Zeit ständig erweitert worden, und auch heute ist diese Liste relativ häufigen Änderungen unterworfen – sei es durch Anstoss der Bundesbehörden mittels obligatorischen Referendums oder durch Volksinitiativen.

Der vierte Titel ist mit «Volk und Stände» überschrieben und regelt in Art. 136 die politischen Rechte des Volkes und der Kantone, insbesondere die direktdemokratischen Volksrechte (Initiative und Referendum). Titel 5 ist den Bundesbehörden gewidmet und umreisst die Organisation und Kompetenzen der Bundesversammlung (Legislative, Art. 143–173), des Bundesrates und der Bundesverwaltung (Exekutive, Art. 174–187) sowie des Bundesgerichtes und der anderen richterlichen Behörden (Judikative, Art. 188–191 sowie Art. 191a–c). Der sechste und letzte Titel enthält die Revisionsmöglichkeiten der Verfassung (Art. 192–195, siehe unten) und die Übergangsbestimmungen (Art. 196 und Art. 197).

Geschichte

Darstellung zur Erinnerung an das Inkrafttreten der ersten Bundesverfassung am 12. September 1848
Datei:Flugblatt gegen Verfassungsrevision1874.jpg
Flugblatt der Gegner der Totalrevision von 1874

Bundesrevisionskommission von 1848

Die Tagsatzung hatte am 16. August 1847 beschlossen, eine Kommission zur Revision des Bundesvertrages einzusetzen.[2] Am 17. Februar 1848 traten die Verfassungsmacher von 1848 im Rathaus zum Äusseren Stand Bern zu ihrer ersten Sitzung zusammen. Es waren mehrheitlich Kantonsoberhäupter und Mitglieder von Kantonsregierungen. Sechs der dreiundzwanzig Kommissionsmitglieder wurden im neuen Staat in den allerersten Bundesrat gewählt. Die Bundesrevisionskommission von 1848 wurde vom Berner Ulrich Ochsenbein präsidiert. Die Arbeit der Kommission beanspruchte 31 Sitzungen in 51 Tagen und endete am 8. April mit der Präsentation eines Verfassungsentwurfs. Dieser wurde anschliessend den Kantonalinstanzen und der Tagsatzung unterbreitet, wo nur wenige Retuschen angebracht wurden.[3]

Bundesverfassung von 1848

Grundlage für die heutige Bundesverfassung ist die Verfassung vom 12. September 1848, als die Schweiz vom Staatenbund zum Bundesstaat geeint wurde. Diese Verfassung wurde am 14. September 1848 vom letzten Präsidenten der Tagsatzung Alexander Ludwig Funk und dem Kanzler der Eidgenossenschaft Johann Ulrich Schiess unterzeichnet.[4] Der Einführung der Verfassung von 1848 war der kurze Sonderbundskrieg vorausgegangen.

Die Verfassung von 1848 wurde im Juli und August 1848 vom Schweizer Volk (nur Männer) in kantonalen Volksabstimmungen (mit Ausnahme des Kantons Freiburg, für welchen das Kantonsparlament abstimmte)[5] mit 145'584 Jastimmen (72,8 %) gegen 54'320 Neinstimmen (27,2 %) angenommen. Ja stimmten: ZH, BE, LU, GL, FR, SO, BS, BL, SH, AR, SG, GR, AG, TG, VD, NE, GE. Nein stimmten: UR, SZ, OW, NW, ZG, AI, TI, VS.[6] Der Kanton Luzern nahm die Verfassung nur deswegen an, weil die Nichtstimmenden als Jastimmen gezählt wurden.

Die neue Verfassung war von der Verfassung der Vereinigten Staaten (das Zweikammerparlament ist dem amerikanischen Repräsentantenhaus und Senat nachgebildet) sowie dem Gedankengut der Französischen Revolution (Bürgerrechte) beeinflusst. Sie sah vor, dass die Kantone eigenständig (souverän) seien, soweit sie diese Souveränität nicht explizit einschränke.[7] Die Zuständigkeit des Bundes war damals eng begrenzt und umfasste im Wesentlichen die Aussenpolitik, das Münzregal, die Festlegung der Masse und Gewichte sowie die Errichtung oder Unterstützung öffentlicher Werke.

Revision von 1866

Die Verfassung von 1848 wurde 1866 teilweise revidiert: Die Juden erhielten die Gleichstellung; hingegen lehnte es das Volk ab, den Niedergelassenen (auch schweizerischer Nationalität) das kantonale und kommunale Wahl- und Stimmrecht zu gewähren.[8]

Totalrevisionen von 1872 und 1874

Eine Auseinandersetzung im Parlament um die Einführung der Zivilehe setzte eine Debatte in Gang, an deren Ende die Ausarbeitung einer neuen Verfassung stand. Die vorgeschlagene Totalrevision von 1872 war sehr zentralistisch geprägt und rief nicht nur den Widerstand der Katholisch-Konservativen hervor, sondern auch von Föderalisten in der Romandie, denen die Einschränkung der Kantonshoheit zu weit ging. In der Abstimmung am 12. Mai 1872 scheiterte sie am Volks- und Ständemehr.

Da die Abstimmungsniederlage relativ knapp ausgefallen war, machte sich das Parlament umgehend daran, eine gemässigtere Totalrevision auszuarbeiten. Sie sah unter anderem die Einführung des Gesetzesreferendums auf eidgenössischer Ebene vor. Durch den im Vergleich zu 1872 eingeschränkten Ausbau der Bundeskompetenzen konnten die Bedenken der Föderalisten ausgeräumt werden. Die Totalrevision von 1874 wurde am 19. April von Volk und Ständen angenommen und trat am 29. Mai in Kraft.[7] Seit 1891 enthält die Verfassung das Initiativrecht auf Teilrevision der Bundesverfassung. Demzufolge kann ein Bruchteil der Stimmberechtigten (derzeit 100'000) den Erlass, die Änderung oder Aufhebung einzelner Bestimmungen der Bundesverfassung vorschlagen und eine Abstimmung von Volk und Ständen (Kantonen) erwirken. Teilrevisionen der Verfassung sind also jederzeit möglich.

Letzte Totalrevision von 1999

Datei:Schweizerische Bundesverfassung 1995.jpg
Medienkonferenz am 26. Juni 1995 zur Vernehmlassung zur Reform der Bundesverfassung

Die bisher letzte Totalrevision der Schweizer Verfassung datiert aus dem Jahre 1999. Der Bundesrat bezeichnete seinen Entwurf vom 20. November 1996 als «Nachführung», in deren Rahmen nicht geschriebenes Verfassungsrecht (entstanden im Rahmen der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch das Bundesgericht) kodifiziert wurde und nicht auf Verfassungsebene gehörende Bestimmungen (z. B. Absinthverbot) «herabgestuft» wurden. Die Bundesversammlung folgte diesem Konzept einer «Nachführung» zum grösseren Teil, nahm aber auch einige über den Entwurf des Bundesrates hinausgehende inhaltliche Neuerungen auf, insbesondere im Bereich der Organisation der Bundesbehörden, wo die Stellung der Bundesversammlung gegenüber dem Bundesrat wesentlich gestärkt wurde. Die neue Bundesverfassung wurde von Volk und Ständen am 18. April 1999 mit 59,2 % respektive 12 ganzen und 2 halben von 20 ganzen und 6 halben Standesstimmen gutgeheissen. Sie ersetzte die Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 (alte Bundesverfassung, kurz aBV) und hat unter anderem neun verschiedene, bis dahin lediglich in Entscheiden des Bundesgerichts und Rechtskommentaren festgehaltene Grundrechte erfasst. Europaweites Novum war außerdem der Schutz der Würde der Kreatur in Art. 120. Die Totalrevision trat am 1. Januar 2000 in Kraft.[7]

Revisionsmöglichkeiten

Die Bundesverfassung kann jederzeit abgeändert werden. Dabei bedarf die Abänderung der Zustimmung der Mehrheit des Volkes und der Kantone. Inhaltlich ist der Abänderbarkeit dadurch Schranken gesetzt, dass die Verfassung zwingendes Völkerrecht nicht verletzen darf. Die Teilrevision darf zudem nicht gegen den Grundsatz der Einheit der Materie verstossen (Art. 193 und Art. 194 BV). Als ungeschriebene Voraussetzung ist auch die faktische Durchführbarkeit der Initiative anerkannt. Ob weitere inhaltliche Schranken bestehen, indem die Kernbereiche der fundamentalen Normen der Verfassung wie Grundrechte, Föderalismus, Demokratie und Rechtsstaat verbindlich sind, wird in der Praxis der Bundesversammlung bisher verneint, von der juristischen Lehre aber uneinheitlich beurteilt.

Eine Verfassungsänderung kann durch einen Beschluss der Bundesversammlung oder vom Volk durch eine Volksinitiative verlangt werden. Die Bundesverfassung der Schweiz ist – im Gegensatz zum Beispiel zur Verfassung der Vereinigten Staaten – eine Verfassung, die häufig modifiziert wird.

Siehe auch

Literatur

  • Giovanni Biaggini: Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Schweiz. In: Armin von Bogdandy, Pedro Cruz Villalón, Peter M. Huber (Hrsg.): Handbuch Ius Publicum Europaeum (IPE). C. F. Müller Verlag, Heidelberg 2007, Bd. I, S. 565–623.
  • René Rhinow: Die neue Verfassung in der Schweiz. In: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches Öffentliches Recht, 41. Bd., 2002, S. 575–596.
  • Bernhard Ehrenzeller, Philippe Mastronardi, Rainer J. Schweizer, Klaus A. Vallender (Hrsg.): Die schweizerische Bundesverfassung. St. Galler Kommentar. 2. Auflage. Dike, Zürich 2008, ISBN 978-3-03751-051-3.
  • Jörg Paul Müller: Grundrechte in der Schweiz. Stämpfli Verlag, Bern 1999, 4. Auflage 2008, ISBN 978-3-7272-9792-2.
  • Jörg Paul Müller: Verwirklichung der Grundrechte nach Art. 35 Bundesverfassung. Stämpfli Verlag, Bern 2018, ISBN 978-3-7272-3395-1.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Ulrich Häfelin, Walter Haller, Helen Keller, Daniela Thurnherr: Schweizerisches Bundesstaatsrecht. 10. Auflage. Schulthess, Zürich 2020. S. 625 N. 1922
  2. Bundesrevision – Alfred Escher-Briefedition. Alfred Escher-Stiftung, abgerufen am 17. Oktober 2017.
  3. Rolf Holenstein: Wie die Schweiz 1848 den Stein der Weisen fand. In: NZZ Geschichte. Nr. 17, Juli 2018, S. 28.
  4. Dossier zur Bundesverfassung auf parlament.ch.
  5. Andreas Kley: Bundesverfassung (BV). In: Historisches Lexikon der Schweiz.
  6. Wolf Linder, Christian Bolliger, Yvan Riedle: Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848 bis 2007. Haupt Verlag, Bern, 1. Auflage: 2010, ISBN 978-3-258-07564-8, S. 19.
  7. a b c Dossier zur Bundesverfassung auf parlament.ch.
  8. Siehe Liste der eidgenössischen Volksabstimmungen.