Dialektischer Materialismus

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Der dialektische Materialismus ist eine philosophische Weltanschauung. Sie verwendet die Methode der Dialektik – des Denkens in Widersprüchen –, um die Welt auf materialistischer Grundlage zu erklären. Sie grenzt sich damit deutlich vom dialektischen Idealismus des Philosophen G. W. F. Hegel ab, aber auch von vorangegangenen materialistischen Philosophien wie z. B. der von Ludwig Feuerbach. Der dialektische Materialismus wurde von Karl Marx und Friedrich Engels in der gemeinsamen Schrift Die deutsche Ideologie (1845) begründet und später in zahlreichen Schriften angewandt, verteidigt und weiterentwickelt. Demnach besteht die Einheit der Welt in der sich stets bewegenden Materie, die ewig und unendlich ist und den Menschen in ihrer praktischen Lebenstätigkeit gegeben ist, indem sie dort Lebensgrundlage und Erkenntnisquelle der menschlichen Gesellschaft darstellt. Mit dieser philosophischen Weltanschauung ist es möglich, die Unterschiede von Bewusstsein und Sein, von belebten und unbelebten Dingen anzuerkennen und trotzdem an einem materiellen Ursprung aller Dinge festzuhalten. Die marxistische Philosophie wurde in den sozialistischen Ländern an Lehrstühlen gelehrt, die dem dialektischen Materialismus und dem historischen Materialismus gewidmet waren. Diese beiden Teildisziplinen legten den Schwerpunkt auf unterschiedliche Seiten jener Weltanschauung, die dem Unterschied von Logischem und Historischem entsprachen. Dialektischer und historischer Materialismus bilden zusammen die philosophische Grundlage und damit einen der drei Bestandteile des Marxismus (Philosophie, politische Ökonomie, wissenschaftlicher Kommunismus). Die Aufgabe des dialektischen Materialismus bestand darin, einen Beitrag zur Erklärung der Entwicklungsgesetzmäßigkeiten in Natur, Gesellschaft und Denken zu leisten und damit die wissenschaftliche Begründung sozialistischer Politik philosophisch abzusichern.

Grundlagen

Der dialektische Materialismus bedient sich der Methode der Dialektik Hegels, der neben Ludwig Feuerbach wohl wichtigsten geistigen Quelle des jungen Karl Marx. Hegel geht davon aus, dass die natürliche und gesellschaftliche Realität primär von einer absoluten Idee bestimmt ist und sich aufgrund (dialektischer) Widersprüche entwickelt. Nach dieser Theorie gerät jede verwirklichte Form der Idee mit sich selbst in Widerspruch und generiert so die immer komplexer werdende Realität. Marx dreht die hegelsche Dialektik um (stellt sie „vom Kopf auf die Füße“) und postuliert, dass sich die Welt, die objektive Wirklichkeit, aus ihrer eigenen materiellen Existenz erklären lässt und keinesfalls die Verwirklichung einer göttlichen, absoluten Idee oder gar des menschlichen Denkens ist, wie im Idealismus behauptet. An die Stelle der absoluten Idee Hegels tritt bei Marx die ewig sich bewegende und entwickelnde Materie und mit Blick auf die Gesellschaft das Materiell-Ökonomische des Produktionsprozesses bzw. der Arbeit als Grundlage und Triebkraft der gesellschaftlichen Wirklichkeit.[1] Die objektive Realität, die Mensch und Natur umfasst, existiert außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewusstsein. Zusammengefasst werden diese Ideen u. a. in Marx’ berühmtem Satz: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“[2] Dieser Satz ist eine zentrale These der Marxschen Philosophie. Marx wählt also bei der Beantwortung der philosophischen Grundfrage – was ist primär, das Denken oder das Sein – die zu Hegel gegensätzliche Antwort. Dabei wird nicht geleugnet, dass in der gesellschaftlichen Praxis auch umgekehrt das Denken das Sein bestimmt, aber in der Wechselwirkung zwischen Denken und Sein hat letztlich das Sein das Primat.

Vier Grundregeln liegen der Theorie des dialektischen Materialismus zugrunde.

  • Das Universum muss als Ganzes angesehen werden.
  • Dieses Ganze besteht aus untereinander in Beziehung stehenden, voneinander abhängigen und sich in ständiger Bewegung befindenden Erscheinungsformen der Materie (objektiver Zusammenhang).
  • Diese Bewegung ist aufsteigend, vom Einfachen zum Komplexen fortschreitend und durchläuft dabei bestimmte Ebenen; jeder Ebene entsprechen bestimmte qualitative Veränderungen.
  • Die jeweilige Entwicklung einer bestimmten Ebene resultiert nicht aus einem harmonischen Fortschreiten, sondern entsteht durch den Konflikt und die Aktualisierung der jeweiligen, den entsprechenden Phänomenen innewohnenden Gegensätzlichkeiten, den „Grundwidersprüchen“.

Zu diesen Grundlagen kommen drei elementare Entwicklungsgesetze.

  1. Das Gesetz von der Einheit und dem "Kampf" der Gegensätze: Triebkraft jeglicher Entwicklung ist der Widerspruch zwischen dualen Polen, der natürlichen und sozialen Prozessen grundsätzlich inhärent ist. Der "Kampf" besteht darin, dass die dualen Pole gegensätzlich gerichtete Tendenzen verursachen und sich nur dadurch verwirklichen können, dass sie eine neue Lösung hervorbringen. Die Marxsche Dialektik unterscheidet sich durch ihre materialistische Orientierung grundlegend von der antiken Widerspruchslehre, die im Widerspruch die Triebkraft der Erkenntnisentwicklung sieht: These und Antithese bilden einen Widerspruch, deren Lösung in der Synthese beider Behauptungen besteht.
  2. Das Gesetz vom Umschlagen von einer Quantität in eine neue Qualität (Nach einer Kumulation quantitativer Veränderungen über längere Zeit kommt es zu einer sprunghaften qualitativen Veränderung.)
  3. Das Gesetz von der Negation der Negation (Die Entwicklung auf eine höhere Ebene bewahrt die positiven Elemente der vorhergehenden. Sie negiert in ihrer Weiterentwicklung die vorhergehende Ebene also nicht als Ganzes.)
Beispiele
  1. Ein Beispiel ist der innere Widerspruch zwischen Wert und Gebrauchswert einer Ware: Als Wertding soll die Ware behalten werden und als Gebrauchswert soll sie weggegeben werden, weil für den eigenen Bedarf nicht benötigt. Die Lösung dieses Widerspruchs besteht im Tausch gegen eine andere Ware: Der Wert bleibt erhalten, für das überflüssige Gut ist ein nützlicheres Gut eingetauscht worden.[3] Doch diese elementare Lösung des Widerspruchs zwischen Wert und Gebrauchswert einer Ware ist nicht alles, was aus ihm folgt. Das zeigt die im ökonomischen Hauptwerk von Karl Marx enthaltene Wertformanalyse, die als beispielhafte Anwendung der materialistischen Dialektik umfassend und kontrovers diskutiert worden ist.
  2. Durch den Widerspruch zwischen wachsenden Bedürfnissen der Menschen und der niedrigen Produktivität kommt es zur Erfindung von Werkzeugen und später von Maschinen.
  3. Die Entwicklung zu einer kommunistischen Gesellschaft sollte die Errungenschaften des Kapitalismus (z. B. die Demokratie) behalten, und nur seine Einschränkungen (z. B. die Ausbeutung der Arbeiterklasse) beseitigen.
  4. Wasser ist bei 20 °C oder 60 °C flüssig. Führt man jedoch genügend Wärme hinzu (genügende Veränderung der Quantität), so gibt es bei 100 °C einen dialektischen Sprung (Veränderung der Qualität) in den Aggregatzustand gasförmig.

Die materialistische Dialektik – von Marx meine dialektische Methode genannt – wurde schrittweise entwickelt, vor allem 1844 in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“[4], 1845 zusammen mit Friedrich Engels in der „Heiligen Familie“[5] und durch die Neu-Interpretation der Geschichte in der „Deutschen Ideologie“[6], später von Marx im Ringen um die systematische Darstellung der ökonomischen Kategorien der kapitalistischen Gesellschaftsformation und schließlich durch Friedrich Engels’ Anwendung der Dialektik im „Anti-Dühring“ und in der „Dialektik der Natur[7].

Engels stellte gegenüber späteren Theoretikern fest, dass nach Marx’ und seiner Auffassung Materielles ideelle Prozesse freilich „nur in letzter Instanz“ festlege und beeinflusse.

Aufbau der Gesellschaft

Nach Marx sind die Menschen zunächst nichts anderes als von ihren Bedürfnissen getriebene, gesellige und Werkzeuge verwendende Wesen, die sich in einer permanenten Auseinandersetzung mit der Natur befinden, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Dieser „Kampf“ ist nur innerhalb einer von ihnen selbst weitgehend unbewusst und spontan geschaffenen wirtschaftlichen Basis möglich, die man heute in weitem Sinn „Infrastruktur“ nennen würde.

Dieser Unterbau besteht aus zwei, sich ebenfalls gegenüberstehenden, aber eine Einheit bildenden Gruppen von Elementen:

  • die Produktivkräfte, also alle am Produktionsprozess beteiligten Kräfte. Darunter versteht Marx einerseits die Arbeitskräfte und andererseits die Produktionsmittel (Arbeitsgegenstände), darunter die natürlichen Ressourcen in der extraktiven Industrie, sowie die zur Verfügung stehenden Arbeitsmittel, darunter die Werkzeuge, Maschinen, Technologie, Gebäude – kurz: die gesamte technische Infrastruktur. Diese Elemente produktiver Arbeit werden dann zu Produktivkräften, wenn sie durch ihr Zusammenwirken neue Güter produzieren. Die Produktivkräfte verändern und entwickeln sich im Laufe der Zeit – einer bestimmten Entwicklung der Produktivkräfte entspricht eine bestimmte Art der Produktionsverhältnisse.
  • die Produktionsverhältnisse; das sind alle Verhältnisse, die die Menschen in der Produktion materieller Güter zueinander eingehen; ein wichtiger Aspekt dieser Verhältnisse sind die jeweils herrschende gesellschaftliche Arbeitsteilung und die Eigentumsverhältnisse.

Dieser von den materiellen Verhältnissen bestimmte „Unterbau“ bestimmt seinerseits den sogenannten „Überbau“. Das ist das gesellschaftliche Bewusstsein der zu einem bestimmten Zeitpunkt dominierenden Klassen. Zum Überbau gehören das politische System, das Bildungswesen, die Sprache, das Rechtssystem, die Religion (Theologie), die Wissenschaften, die Künste.

Stalin veränderte diese Theorie dahingehend, dass er für ein bestimmtes Entwicklungsstadium der Gesellschaft Überlegungen über den Unterbau vornahm. Außerdem versuchte er, die Naturwissenschaften, die Kunst und auch die Linguistik in Einklang mit der Theorie des dialektischen Materialismus zu bringen. Die Befürwortung der (als falsch erwiesenen) biologischen Theorien Lyssenkos war ein Ergebnis solcher sachfremden Einmischung.

Weiterentwicklungen

Der dialektische Materialismus wurde als Teil der politischen Ideologie im Bildungssystem der DDR und der UdSSR unter Kontrolle der politischen Führung verankert. An der Spitze dieses Systems standen philosophische Institute, die Forschung betrieben, aber vor allem Lehrer für Marxismus-Leninismus (ML) ausbildeten. Der ML war in der DDR ein Pflichtkurs in allen Studiendisziplinen. (Siehe auch: Gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium (DDR)). Einige Elemente des dialektischen Materialismus wurden sogar in den Lehrstoff aufgenommen, der zum Abitur führte. Des Weiteren fand eine Verbreitung in Schulungen für Parteimitglieder und Betriebskollektive statt. Eine Anpassung und Erweiterung des von Stalin geprägten dialektischen Materialismus fand nach dessen Tod aufgrund neuer Entwicklungen in der Wissenschaft (Kybernetik, Genetik, Soziologie, Logik), aber auch aufgrund bereits etablierter Theorien wie der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik statt. Oft wurden neue Erkenntnisse jedoch nur als Bestätigung philosophischer Thesen dargestellt. Parallel dazu gab es Bestrebungen, den dogmatischen Charakter dieser Weltanschauung unter dem Titel Praxisphilosophie durch Besinnung auf die Frühschriften von Marx und Engels auf eine neue Grundlage zu stellen.

Wolfgang Leonhard beschreibt den dialektischen Materialismus im Stalinismus als reine Worthülse, mit der herrschende Zustände legitimiert werden sollen.[8]

Auch im Westen wurde der dialektische Materialismus weiterentwickelt, insbesondere von Autoren, die sich dem hegelianischen Marxismus verpflichtet fühlten (im Gegensatz zu dogmatischen und der Sowjetideologie verpflichteten Lesarten der Texte von Marx). Einschlägige theoretische Texte stammen etwa von Henri Lefebvre.[9]

Literatur

  • Joseph Maria Bocheński: Der sowjetrussische dialektische Materialismus (Diamat). 1950.
  • B. A. Čagin: Der subjektive Faktor, Struktur und Gesetzmäßigkeiten. Akademie Verlag, Berlin 1973.
  • Horst Friedrich et al. (Hrsg.): Dialektischer und historischer Materialismus. Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium. Dietz, Berlin 1986.
  • Herbert Hörz (Hrsg.): Philosophie und Naturwissenschaften., Wörterbuch zu den philosophischen Fragen der Naturwissenschaften. Dietz, Berlin 1983.
  • Karl Korsch: Zur Geschichte der marxistischen Ideologie in Rußland (1932). In: Karl Korsch: Krise des Marxismus : Schriften 1928–1935, hrsg. und eingel. von Michael Buckmiller, Stichting Beheer IISG, Amsterdam 1996.
  • Georg Klaus, Manfred Buhr (Herausg.): Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie, Rowohlt, Hamburg 1972, ISBN 3-499-16155-9.
  • Anton Pannekoek: Lenin als Philosoph. In: Paul Mattick: Marxistischer Antileninismus. ça ira, Freiburg 1991, S. 59–153.
  • Wissenschaftlicher Rat für philosophische Fragen der Naturwissenschaften beim Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (Hrsg.): Struktur und Formen der Materie. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1969.
  • Gustav A. Wetter: Der dialektische Materialismus. Seine Geschichte und sein System in der Sowjetunion. Herder, Freiburg 1960.
  • R.O. Gropp: Grundlagen des dialektischen Materialismus. 3. Auflage. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1971.

Einzelnachweise

  1. Arno Anzenbacher: Einführung in die Philosophie. Verlag Herder GmbH Freiburg, 2002, S. 170.
  2. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort. Zit. n. MEW 13, S. 9, mlwerke.de/me/me13/me13_007.htm
  3. Georg Quaas: Die ökonomische Theorie von Karl Marx. Marburg 2016, S. 49 ff.
  4. MEW Ergänzungsband Erster Teil, S. 465 ff.
  5. MEW Bd. 2, S. 7 ff.
  6. MEW Bd. 3, S. 9 ff.
  7. MEW Bd. 20
  8. Wolfgang Leonhard: Die Revolution entlässt ihre Kinder. 15. Auflage. Ullstein, Berlin 1976, S. 213. Es ist „ein Wesenszug des Stalinismus, den dialektischen Materialismus seines eigentlichen Sinnes zu berauben, da die Stalinisten die Gesetze der Dialektik nicht anwenden, um die Prozesse innerhalb der Gesellschaft zu erklären und daraus bestimmte Schlussfolgerungen zu ziehen, sondern dazu degradieren, nachträglich politische Entscheidungen oder Beschlüsse zu rechtfertigen.“
  9. Henri Lefebvre: Le Matérialisme dialectique. Paris 1940.

Weblinks