Diodor

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Der Anfang des elften Buches von Diodors Bibliotheca historica in der lateinischen Übersetzung von Iacopo da San Cassiano, die der Übersetzer Papst Pius II. widmete. Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. lat. 1816, fol. 2r (15. Jahrhundert)
Bibliotheca historica, 1746

Diodor (griechisch Διόδωρος ὁ Σικελιώτης Diódōros ho Sikeliṓtēs, latinisiert

Diodorus Siculus

, „Diodor von Sizilien“) war ein antiker griechischer Geschichtsschreiber des späten Hellenismus. Er lebte in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr.

Leben

Über Diodors Leben ist wenig bekannt. Er stammte aus der Polis Agyrion auf Sizilien und hat sich längere Zeit in Rom sowie in Ägypten (in der Zeit der 180. Olympiade, also im Zeitraum 60/59 bis 57/56 v. Chr.) aufgehalten.[1]

Werk

Diodors auf Griechisch verfasstes Geschichtswerk trägt den Namen

Βιβλιοθήκη ἱστορική

(vollständig:

Διοδώρου τοῦ Σικελιώτου Βιβλιοθήκη ἱστορική

, lateinisch

Diodori Siculi Bibliotheca historica

) und ist eine Universalgeschichte in 40 Büchern, von denen uns die Bücher 1–5 sowie 11–16 und 18–20 erhalten sind. Das 17. Buch hat einige kleine Lücken. Die Bücher 6–10 und 21–40 sind nur fragmentarisch überliefert, vor allem durch Zitate byzantinischer Autoren und Exzerptsammlungen. Die Darstellung reicht von der sagenhaften Vorzeit (wobei er auch mythologische Erzählungen verarbeitete) bis in die Zeit Caesars (wohl bis in das Jahr 60/59 v. Chr., als Caesar das Consulat bekleidete). Es ist damit, soweit man weiß, das umfassendste Geschichtswerk, das von einem Griechen in der Antike verfasst wurde und uns zumindest in Teilen überliefert ist, und bildet zugleich den „Abschluss der hellenistischen Historiographie“ (Klaus Meister).

Diodor hat nach eigenen Angaben 30 Jahre lang Reisen und Nachforschungen unternommen. Er nahm in seiner Universalgeschichte allerdings ältere Darstellungen auf und schrieb sie um und kürzte sie (beispielsweise fehlen viele Reden, die ansonsten typisch für die antike Geschichtsschreibung sind), so dass sie besser lesbar und für das Publikum leichter zu verstehen waren. Die Qualität von Diodors Werk schwankt stark, damit ist aber auch sein historischer Wert nicht immer sicher abzuschätzen, da dieser wesentlich von den jeweils benutzten Quellen abhängt. Einige waren aber zweifellos von hoher Qualität, zumal Diodor anscheinend nur einschlägige Werke heranzog. So benutzte er nach vorherrschender Ansicht beispielsweise das sonst bis auf wenige Fragmente verlorene Werk des Hieronymos von Kardia, eine offenbar exzellente Geschichte der Diadochenzeit (siehe unten „Quellen“). Intensiv genutzt wurden von ihm daneben insbesondere Polybios, Timaios von Tauromenion, Poseidonios und Duris von Samos.

Diodor nennt seine Quellen relativ oft. Sein Erzählstil ist, wie im Hellenismus üblich, vorattizistisch (weniger ausgeschmückt, insgesamt nüchtern und nicht am attischen Griechisch des 5./4. Jahrhunderts, sondern an der hellenistischen Koine ausgerichtet), weshalb Diodors Stil klar und gut lesbar ist, aber in der Kaiserzeit, als sich ein allgemeiner Attizismus durchsetzte, wenig geschätzt wurde.

Es sind mehrere Fehler in seinem Werk ausgemacht worden, so etwa falsche Datierungen oder Namensverwechslungen, die aber wohl wenigstens teilweise auf den benutzten Quellen basieren dürften. Diodor ist den zeitlichen Angaben seiner Vorlagen nicht immer gefolgt, da er eine andere Chronologie nutzte (nach Olympiaden, Archontenjahren und Konsulaten, siehe unten) was zeitliche Ungenauigkeiten zur Folge hatte.[2] Seine selbstverfassten Passagen haben nur mäßigen literarischen Wert, doch seine Sammlung von Zitaten aus verlorenen Werken ist unschätzbar, da er damit in Teilen die einzige Quelle ist, über die Fragmente dieser Bücher bis heute auf uns gekommen sind. Sehr große Bedeutung kommt ihm als Quelle für den Zeitraum von Philipp II. von Makedonien bis in die Zeit der Diadochen zu (bis 301 v. Chr.), aber auch für große Teile des 5. Jahrhunderts v. Chr., für Sizilien allgemein, teils auch für die römische Zeit.

Insgesamt hat das Werk trotz offensichtlicher Mängel (so die recht starke Abhängigkeit von seinen Vorlagen, inhaltliche Fehler oder Ungenauigkeiten) auch unbestreitbare Vorzüge. Daher wird es heute insgesamt erheblich höher geschätzt als in der älteren Forschung. Für viele Ereignisse ist es allein Diodor zu danken, dass überhaupt Berichte vorliegen. Insgesamt erscheint seine leicht lesbare Universalgeschichte als ein beachtenswerter Versuch, die historische Überlieferung bis zum ausgehenden Hellenismus mehr oder weniger einheitlich darzustellen.[3] Erblickte man in Diodor lange Zeit nur einen unkreativen Kompilator, wird seine eigene kreative Leistung heute daher teils höher bewertet als früher.

Quellen

Diodor benutzte für seine Universalgeschichte zahlreiche, teils verlorene bzw. nur noch fragmentarisch erhaltene Quellen, wobei er sich offenbar in aller Regel an bekannte einschlägige Autoren hielt. Die Identifizierung der einzeln herangezogenen Werke ist recht problematisch, zumal in der älteren Forschung vor allem die „Einquellentheorie“ dominierte. Demnach sei Diodor für jeweils einen Zeitabschnitt einer Quelle gefolgt, die er mehr oder weniger mechanisch in seinem Werk verarbeitet habe. Diese These ist in neuerer Zeit jedoch bestritten worden. So gehen Klaus Meister und andere Forscher davon aus, dass man nicht von einer Hauptquelle, oder vielleicht mehreren Hauptquellen, ausgehen kann, sondern vielmehr von einer Hauptquelle sowie einer oder mehreren Nebenquellen, die die Darstellung ergänzten.[4] Eduard Schwartz, der sich ausführlich mit der Quellenkritik zu Diodor beschäftigt hat, meinte, dass man die Universalgeschichte Diodors nicht als Werk, sondern nur als Kompilation bezeichnen könnte.[5] Auch dieser Aspekt wird heute anders bewertet, da gezeigt werden kann, dass Diodor die Stoffmenge relativ selbstständig bearbeitet hat und damit seinen eigenen Angaben im Proömium des Werkes[6] zufolge das Ziel verfolgte, die Taten aller Menschen in seiner Universalgeschichte darzustellen, die auch den Leser zur Tugend ermahnen sollte. Auch die Tatsache, dass er seine Informationen überwiegend aus älteren Informationen zusammenstellte, scheint er nicht als schweren fachlichen Mangel beurteilt zu haben, sondern als eigenständige historiographische Leistung und als Dienst an seinen Lesern, für die er die Fülle der vorliegenden Geschichtswerke gesichtet und das Relevanteste daraus strukturiert gesammelt habe. Darauf verweist auch der Werktitel Βιβλιοθήκη ἱστορική, „historische Bibliothek“.[7]

Diodor zog neben Ktesias von Knidos und Megasthenes für die orientalische bzw. indische Geschichte mehrere andere Spezialautoren heran. Die Chronologie lieferte ihm eine unbekannte griechische Quelle, die die Ereignisse nach Olympiaden und Archontenjahren sowie nach römischen Konsulatsjahren datierte, aber wohl nicht immer sehr genau oder detailliert war, so dass manche chronologischen Fehler auf diesen Umstand zurückgeführt werden können. Für die griechische Geschichte im eigentlichen Sinne benutzte Diodor als Hauptquelle Ephoros von Kyme, der aber durch andere Quellen ergänzt wurde. Für den Westen wurde vor allem Timaios von Tauromenion herangezogen, ergänzt durch Duris von Samos. Es ist sehr unsicher, ob Diodor auch Theopompos von Chios benutzt hat, und gänzlich unklar ist, welche (gute) Quellen dem 16. Buch zugrunde liegen. Für die Geschichte Alexanders stützte er sich wohl auf Kleitarchos, den er im betreffenden 17. Buch erwähnt. Der bereits erwähnte Hieronymos von Kardia wurde dann für die nachfolgende Zeit ebenso herangezogen wie auch Polybios und anscheinend lateinische Quellen.[8] Ob Partien über Sizilien auf Silenos von Kaleakte beruhen, ist in der Forschung umstritten, wie die Quellenfrage insgesamt sehr problematisch ist.

Die folgende Liste enthält eine (unvollständige) Übersicht über einige der wichtigsten Quellen Diodors mit Angabe des jeweils behandelten Gegenstands. Mehrere Quellen sind jedoch unbekannt bzw. verloren.

Bedeutende Historiker wie Herodot, Thukydides und Xenophon werden von Diodor zwar als Quellen genannt, fanden aber anscheinend nur durch indirekte Vermittlung über andere Autoren Eingang in sein Werk, wobei wohl Ephoros die wichtigste Rolle spielte.

Textausgaben

  • Diodore de Sicile: Bibliothèque historique. Les Belles Lettres, Paris 1972 ff. (kritische Edition mit französischer Übersetzung)
    • Pierre Bertrac (Hrsg.): Band 1: Livre I. 1993, ISBN 2-251-00435-1.
    • Bernard Eck (Hrsg.): Band 2: Livre II. 2003, ISBN 2-251-00513-7.
    • Bibiane Bommelaer (Hrsg.): Band 3: Livre III. 1989, ISBN 2-251-00381-9.
    • Jean Haillet (Hrsg.): Band 6: Livre XI. 2. Auflage. 2002, ISBN 2-251-00484-X.
    • Michel Casevitz (Hrsg.): Band 7: Livre XII. 1972.
    • Martine Bonnet, Eric R. Bennett (Hrsg.): Band 9: Livre XIV. 1997, ISBN 2-251-00459-9.
    • Claude Vial (Hrsg.): Band 10: Livre XV. 1977.
    • Paul Goukowsky (Hrsg.): Band 12: Livre XVII. 1976.
    • Paul Goukowsky (Hrsg.): Band 13: Livre XVIII. 1978.
    • François Bizière (Hrsg.): Band 14: Livre XIX. 1975.
  • Diodore de Sicile: Bibliothèque historique. Fragments. Les Belles Lettres, Paris 2006–2014 (kritische Edition mit französischer Übersetzung und Kommentar).
    • Aude Cohen-Skalli (Hrsg.): Band 1: Livres VI–X. 2012, ISBN 978-2-251-00571-3.
    • Paul Goukowsky (Hrsg.): Band 2: Livres XXI–XXVI. 2006, ISBN 2-251-00532-3.
    • Paul Goukowsky (Hrsg.): Band 3: Livres XXVII–XXXII. 2012, ISBN 978-2-251-00573-7.
    • Paul Goukowsky (Hrsg.): Band 4: Livres XXXIII–XL. 2014, ISBN 978-2-251-00586-7.

Übersetzungen

  • Gerhard Wirth u. a. (Hrsg.): Diodoros, Griechische Weltgeschichte. 10 Bände. Hiersemann, Stuttgart 1992–2008 (aktuelle Übersetzung mit Kommentar).
  • Diodoros, Historische Bibliothek. Übersetzt von Julius Friedrich Wurm. Marix, Wiesbaden 2014, ISBN 3865393799 (Nachdruck einer älteren Übersetzung von 1827–1840).

Literatur

Übersichtsdarstellungen in Handbüchern

  • Klaus Meister: Die griechische Geschichtsschreibung. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1990, ISBN 3-17-010264-8, S. 171–181.
  • Carlo Scardino: Diodoros von Agyrion. In: Bernhard Zimmermann, Antonios Rengakos (Hrsg.): Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Band 2: Die Literatur der klassischen und hellenistischen Zeit. C.H. Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-61818-5, S. 668–672.
  • Eduard Schwartz: Diodor [38] von Agyrion. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band V,1, Stuttgart 1903, Sp. 663–704 (neu abgedruckt in: Eduard Schwartz: Griechische Geschichtsschreiber. 2. Auflage. Koehler & Amelang, Leipzig 1959; veralteter Forschungsstand).
  • Jesús Lens Tuero: Diodoros de Sicile. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 2, CNRS Éditions, Paris 1994, ISBN 2-271-05195-9, S. 786–795.

Untersuchungen

  • Delfino Ambaglio: La Biblioteca storica di Diodoro Siculo. Problemi e metodo. Edizioni New Press, Como 1995 (Biblioteca di Athenaeum. 28, ZDB-ID 283709-2).
  • Dino (d. h. Delfino) Ambaglio (Hrsg.): Atti del Convegno Epitomati ed epitomatori. Il crocevia di Diodoro Siculo. Pavia, 21–22 aprile 2004 (= Syggraphe. Band 7). Edizioni New Press, Como 2005.
  • Kai Brodersen: Zur Überlieferung von Diodors Geschichtswerk. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik. Band 94, 1992, S. 95–100.
  • Richard Laqueur: Diodors Geschichtswerk – Die Überlieferung von Buch I-V. Aus dem Nachlaß hrsg. von Kai Brodersen. Frankfurt am Main u. a. 1992.
  • Charles Muntz: Diodorus Siculus and the World of the Late Roman Republic. Oxford University Press, Oxford 2017.
  • Michael Rathmann: Diodor und seine „Bibliotheke“. Weltgeschichte aus der Provinz (= Klio-Beihefte. Neue Folge, Band 27). de Gruyter, Berlin u. a. 2016, ISBN 978-3-11-048144-0.
  • Kenneth S. Sacks: Diodorus Siculus and the First Century. Princeton University Press, Princeton (N.J.) 1990, ISBN 0-691-03600-4.
  • Gerhard Wirth: Diodor und das Ende des Hellenismus. Mutmaßungen zu einem fast unbekannten Historiker. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1993, ISBN 3-7001-1998-4 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Sitzungsberichte 600).
  • Gerhard Wirth: Katastrophe und Zukunftshoffnung. Mutmaßungen zur zweiten Hälfte von Diodors Bibliothek und ihren verlorenen Büchern. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2007, ISBN 978-3-7001-3723-8 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Sitzungsberichte 750).

Weblinks

Wikisource: Διόδωρος Σικελιώτης – Quellen und Volltexte (griechisch)
Wikisource: Diodor – Quellen und Volltexte
Wikiquote: Diodor – Zitate

Anmerkungen

  1. Gerhard Wirth (Hrsg.): Diodoros: Griechische Weltgeschichte. Fragmente (Buch XXI–XL). Erster Halbband: Übersetzung (= Bibliothek der griechischen Literatur. Band 34). Anton Hiersemann, Stuttgart 1992, ISBN 978-3-7772-9218-2, S. 1.
  2. Vgl. Tom Boiy: Between high and low. A Chronology of the Early Hellenistic Period (= Oikumene. Band 5). Verlag Antike, Frankfurt am Main 2007, ISBN 3-938032-20-0, S. 105.
  3. Positive Würdigung bei Klaus Meister: Die griechische Geschichtsschreibung. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1990, ISBN 3-17-010264-8, S. 180 f.
  4. Vgl. Klaus Meister: Die griechische Geschichtsschreibung. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1990, ISBN 3-17-010264-8, S. 172 ff.
  5. Eduard Schwartz: Diodor [38] von Agyrion. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band V,1, Stuttgart 1903, Sp. 663–704, hier Sp. 663.
  6. Diodor, Historische Bibliothek 1,1 ff.
  7. Zur Beurteilung der Arbeitsmethode Diodors siehe etwa Nicolas Wiater: Geschichtsschreibung und Kompilation. Diodors historiographische Arbeitsmethode und seine Vorstellungen von zeitgemäßer Geschichtsschreibung. In: Rheinisches Museum für Philologie. Neue Folge, Band 149, Heft 3/4, 2006, S. 248–271; Michael Rathmann: Diodor und seine „Bibliotheke“. Weltgeschichte aus der Provinz. de Gruyter, Berlin u. a. 2016, ISBN 978-3-11-048144-0.
  8. Detaillierterer Überblick bei Klaus Meister: Die griechische Geschichtsschreibung. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1990, ISBN 3-17-010264-8, S. 178 f.