Diskussion:Cold War – Der Breitengrad der Liebe
Handlung
Pawlikowski arbeitet viel mit Aussparungen und Verknappungen. „Man muss nicht immer alle Lücken füllen“, beschreibt er seine Erzähltechnik selbst. „Gib genau so viele Informationen, dass die Zuschauer verstehen, was zwischendrin passiert ist.“ (Interview DLFK)
Das macht die Wiedergabe des Inhalts an manchen Stellen nicht ganz leicht. Grundsätzlich gilt natürlich auch hier: So kurz wie möglich, so lang wie nötig. Die Einigung über Ersteres scheint mir nicht so schwierig, die über Letzteres schon eher. Eine der Schwierigkeiten ist, dass sich die Auswahl und Formulierung dessen, was man für „nötig“ hält, in einigen Fällen aus längeren Überlegungen ergibt, die man natürlich nicht alle transparent machen kann.
Zwei Sätze aus meinem Vorschlag für die Inhaltsangabe sollen hier begründet werden.
(1) „Der polnische Geheimdienst verhindert jedoch eine Begegnung beider.“
- Was der Film zeigt:
Wiktor kommt 1955 mit dem Zug an einen Ort in Jugoslawien, in dem Mazurek gastiert. Vor dem Theater wird er von Kaczmarek angesprochen, der weniger hölzern wirkt als früher, leutselig auf Wiktor einredet und ihm sogar ein Ticket anbietet. – Zula entdeckt den zentral im Zuschauerraum sitzenden Wiktor kurz vor Ende einer Tanznummer und hat Mühe, nicht die Fassung zu verlieren. Kaczmarek beobachtet stehend von oben, was (zwischen den beiden) vor sich geht, während Wiktor gewahr wird, dass an beiden Enden seiner Stuhlreihe Männer Posten bezogen haben... – Von ihnen im Auto eskortiert, fragt er sie nach dem Wohin. „Nach Moskau“, wird zunächst makaber gescherzt, später heißt es: „Die Polen wollten Sie eigentlich nach Warschau bringen lassen!“ Am Bahnhof angekommen, zwingen sie ihn, in den gerade anfahrenden Zug nach Zagreb zu steigen; von dort könne er weiterfahren, wohin er wolle... (Im Schlussbild der Episode sieht man noch, wie Zula, während sie mit dem Ensemble jenes Dwa serduszka, cztery oczy singt, traurig auf den nun leeren Sitz schaut.)
- Zum Verständnis des Gezeigten:
Auf jeden Fall kommt Wiktor unangekündigt zu diesem Gastspiel. Sicher will er Zula anschließend persönlich begegnen; ob er mehr vorhat, weiß man nicht. Kaczmarek weiß es ebenso wenig, muss aber mit mehr rechnen, auch mit spontanen Entschlüssen, vor allem dem, dass Zula Wiktor nach Paris folgt. Das muss er verhindern und hat dafür ein doppeltes Motiv: einmal als Parteifunktionär, den man zur Rechenschaft zieht, und zum anderen als Mann, der Zula gewinnen will – ein Ziel, das er von Anfang an verfolgt („Er macht mich an“, berichtet sie Wiktor über sein Verhalten während ihrer Rapports als Spitzel) und das Kaczmarek irgendwann auch erreicht, wenngleich erst dann, als Zula ihn „gewinnen“ lässt aus Liebe zu einem Anderen.
Es deutet daher vieles darauf hin, dass Kaczmarek, nachdem er Wiktor vor dem Theater getroffen hat, umgehend die Behörden in der Heimat alarmiert, letztlich also den polnischen Geheimdienst, der wiederum den jugoslawischen beauftragt, Wiktor... „nach Warschau“ zu schicken, wie man ihm im Auto sagt? Falls das zutrifft, hätten die jugoslawischen Geheimdienstler entweder den Auftrag eigenmächtig abgewandelt oder von vornherein abgelehnt (warum auch immer), sodass dann als Mindestforderung übrig blieb, Wiktor wirksam von Zula zu isolieren.
Möglich ist aber auch, dass die Initiative nicht von Kaczmarek ausgeht. Eventuell hat der polnische Geheimdienst Wiktor routinemäßig im Auge, wird bei seiner Fahrt nach Jugoslawien besonders hellhörig, schickt dann unter anderem Kaczmarek vor usw.
Fazit: Kaczmareks maßgebliche Beteiligung daran, dass die Begegnung zwischen Wiktor und Zula verhindert wird, ist sehr wahrscheinlich, aber nicht zweifelsfrei und müsste daher in jedem Fall an ein „vermutlich“ gebunden werden. Das ist (wie IgorCalzone1 empfiehlt) für die Inhaltsangabe eher zu vermeiden. Die zentrale Rolle, die der polnische Geheimdienst in diesem Zusammenhang spielt, kann hingegen als gesichert angenommen werden; entscheidend hierfür der bewusste Satz im Auto.
(2) „Dies [d.h. zweimaliger illegaler Grenzübertritt] und der Vorwurf der Spionage bedeuten für ihn 15 Jahre Haft.“
- Der Zusammenhang: Als Zula Wiktor 1959 im Arbeitslager besucht, erklärt er ihr, er sei zu 15 Jahren verurteilt wegen zweimaligem illegalen Grenzübertritt und Spionage für die Briten. Der Zuschauer weiß weder etwas über die Art und Weise seiner Rückkehr nach Polen noch darüber, ob und für wen er spioniert hat. Gezeigt wird im Film zuvor Folgendes:
Als Wiktor klar ist, dass Zula nach Polen zurückgekehrt ist, versucht er sie zunächst telefonisch zu erreichen (vergeblich) und sucht dann die polnische Botschaft in Paris auf. Der Botschafter sagt ihm (offenbar auf dessen Bitte um legale Rückkehr in seine Heimat), er könne nichts für ihn tun, Wiktor sei weder Franzose noch Pole. Als Wiktor darauf besteht, als Pole anerkannt zu werden, reagiert der Botschafter mit einiger Schärfe: Nein, er habe sein Heimatland verraten und junge Leute im Stich gelassen. Allerdings, fährt er fort, gebe es eventuell einen Weg: Wenn Wiktor „aufrichtig bereue“... Er habe ja gute Kontakte zu den hiesigen Künstlerkreisen... (Im Anschluss noch eine kurze, wortlose Szene: Wiktor in einem leergeräumten Zimmer, aufbruchbereit.)
- Zum Verständnis des Gezeigten:
Was der Botschafter von Wiktor verlangt, um (möglicherweise) legal nach Polen zurückzukommen, ist also Spionage, Spitzeldienst (vgl. Zula). Ob er das im weiteren Gespräch beim Namen nennt, weiß man nicht, ebenso wenig, wie Wiktor auf das Ansinnen reagiert, ob er sich vielleicht sogar für eine Weile darauf einlässt usw.
Letztendlich steigt er auf jeden Fall nicht darauf ein, oder eben irgendwann aus, sodass ihm nur der illegale Weg zurück nach Polen (bzw. zu Zula) bleibt, womit er sich de facto freiwillig stellt, völlig ungewiss über die Höhe der Strafe. Zugleich bewahrt er aber durch diesen Akt seine Würde, bzw. stellt sie wieder her. Zwar bricht ihn die Haft äußerlich (seine verkrüppelten Finger taugen nicht mehr zum Klavierspiel). Vor sich selbst hat er aber Rückgrat bewiesen – und vor Zula, die von da an wieder zu ihm aufschaut.
Der zweite Anklagepunkt, den Wiktor nennt („Spionage für die Briten“), lässt einigen Spielraum offen. Dass er ihn gegenüber Zula erfindet, noch dazu im Beisein von Wachpersonal, kann man ausschließen. Ihn als Hinweis aufzufassen, dass Wiktor tatsächlich spioniert hat, ist möglich, aber nicht sehr plausibel. Vielleicht soll gerade der Zusatz „für die Briten“ darauf hindeuten, dass die Anschuldigung aus der Luft gegriffen ist? Vielleicht will der (totalitäre) Staat denjenigen, der etwas Bestimmtes verweigert, weil es ihm sein Stolz verbietet, umso härter treffen, indem er ihn gerade dieses Vergehens beschuldigt?
Fazit: Der „zweimalige illegale Grenzübertritt“ kann von jedem Leser aus dem Handlungsverlauf nachvollzogen werden. Die Spionage nicht, aber die Formulierung, dass sie ihm vorgeworfen wird, gibt zum einen Wiktors Aussage sachlich richtig wieder und deutet andererseits an, dass es sich möglicherweise um ein Willkürurteil handelt, was nichts Ungewöhnliches wäre in einem politischen Prozess eines totalitären Staates. Auf den Zusatz „für die Briten“ würde ich verzichten; er ist weder nötig noch hilfreich.--KM21 (Diskussion) 10:08, 13. Dez. 2018 (CET)
- Danke für die Erörterung dieser zwei Aspekte, die auch ich im Film als interessant empfand. Zwei Anmerkungen: Zu (1): Der jugoslawische Geheimdienst hat sich damals wohl kaum vom polnischen „beauftragen“ lassen. Zu (2): Inwiefern sollte die Pariser Künstlerszene für den polnischen Geheimdienst interessant gewesen sein? --Janjonas (Diskussion) 19:58, 16. Dez. 2018 (CET)
@KM21: Also ich fand die Änderung von Gloser gut und besser als die Formulierungen von dir, auch die heute eingebrachten, und habe das daher mal zurückgesetzt. --IgorCalzone1 (Diskussion) 13:03, 18. Nov. 2020 (CET)