Gerd Gigerenzer

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Gerd Gigerenzer (2014)

Gerd Gigerenzer (* 3. September 1947 in Wallersdorf) ist ein deutscher Psychologe, Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (Abteilung: „Adaptives Verhalten und Kognition“) und seit 2020 Direktor des Harding-Zentrum für Risikokompetenz an der Universität Potsdam.[1] Gigerenzer ist mit der Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston verheiratet. In der Öffentlichkeit ist er unter anderem als Kritiker der Verhaltensökonomik hervorgetreten.[2]

Wirken

Nach Promotion und Habilitation in Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München war er von 1984 bis 1990 Professor für Psychologie an der Universität Konstanz, von 1990 bis 1992 an der Universität Salzburg und von 1992 bis 1995 an der University of Chicago. Anschließend war er 1995 bis 1997 Direktor am Max-Planck-Institut für psychologische Forschung in München, bevor er an das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung nach Berlin wechselte. Bis 2017 war er hier Direktor der Abteilung Adaptives Verhalten und Kognition, seit 2009 ist er Direktor des Harding-Zentrum für Risikokompetenz.

Gigerenzer arbeitet über begrenzte Rationalität, Heuristiken und effiziente Entscheidungsbäume, das heißt über die Frage, wie man rationale Entscheidungen treffen kann, wenn Zeit und Information begrenzt und die Zukunft ungewiss ist (siehe auch Entscheidung unter Ungewissheit). Der breiten Öffentlichkeit ist er mit seinem Buch Bauchentscheidungen bekannt geworden, welches in 17 Sprachen übersetzt und veröffentlicht wurde.

Er gehört zu den Unterstützern der Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union, die Ende November 2016 veröffentlicht wurde.

Bauchentscheidungen

Gigerenzer kritisiert kognitive Modelle, die das Fällen von Urteilen und Entscheidungen als das Resultat komplexer unbewusster Prozesse betrachten, die eine möglichst rationale Entscheidung aus der Gesamtheit der verfügbaren Informationen erzeugen. Diesem Ansatz folgt die oftmals in der Ratgeber- und Unternehmensberatungsliteratur zu findende Empfehlung, bei Entscheidungsfindungen möglichst analytisch vorzugehen, Vor- und Nachteile aufzulisten und genau gegeneinander abzuwägen. Gigerenzer sieht das aber als Beispiel für eine Abweichung von der alltäglichen Entscheidungsfindung, die er für wenig erfolgreich hält. An Stelle eines solchen logisch-rationalen Modells des Entscheidens betont Gigerenzer die Bedeutung des Bauchgefühls – Entscheidungen werden demzufolge vor allem intuitiv anhand von Faustregeln getroffen, denen die rationalen Entscheidungsstrategien als späte Hilfsmittel nachgeordnet sind.[3] Diesen Bauchentscheidungen zu folgen ist nach Gigerenzer selbst wieder eine rationale Strategie, da sie relativ erfolgreich ist. Das Bauchgefühl darf dabei nicht mit einer zufälligen Eingebung oder Naivität verwechselt werden. Besonders gut funktionieren Bauchentscheidungen, wenn sie auf Fachwissen beruhen. Gigerenzer beschreibt einen Fall, wo sich Kunsthistoriker über den Ankauf eines Torsos durch das Getty Museum beunruhigt zeigten. Die wissenschaftlichen Prüfungen erkannten die Fälschung vorerst nicht, später wurde das Kunstwerk als Fälschung enttarnt.

„Take the best“

Ende der 1990er Jahre führte Gigerenzers Forschungsgruppe mit Studenten der New York University ein Experiment durch, in dem diese für eine zufällige Auswahl von Spielen der Saison 1996/97 der National Basketball Association (NBA) den Sieger vorhersagen sollten. Die Saison war bereits vorbei, Gigerenzer anonymisierte die Mannschaften und gab den Studenten zu jeder Partie nur zwei Hinweise: die Anzahl der Spiele, die die beiden Mannschaften jeweils in der Saison insgesamt gewonnen hatten, und den Halbzeitstand. Eine nachträgliche Analyse ergab eine intuitive Vorgehensweise der meisten Studenten. Sie folgten der Faustregel: Wenn eine Mannschaft über die ganze Saison deutlich besser war als die andere, wird sie auch in dieser Partie die Siegerin sein; wenn die Saisonbilanz der beiden Teams vergleichbar war (weniger als 15 Siege Differenz), wird die zur Pause in Führung liegende Mannschaft gewinnen. Die Studenten lagen bei 78 % der Partien richtig. Dieses sequenzielle Abklopfen von Kriterien nach einer bestimmten Reihenfolge wird Take the best genannt und folgt einem sogenannten „einfachen Entscheidungsbaum“: Nimm das beste Kriterium und entscheide – wenn sich kein relevanter Unterschied ergibt, nimm das zweitbeste, und so weiter. Ein solches Vorgehen wurde zuvor meist als irrationales Verhalten gedeutet. Gigerenzer nahm seine Untersuchung jedoch zum Anlass, die Take-the-best-Strategie neu zu bewerten, da sie sowohl erfolgreich war und zugleich ungleich weniger kognitive Ressourcen beanspruchte als exakte Berechnungen von Wahrscheinlichkeiten. Gigerenzers Forschungsgruppe verglich Take the best mit der multiplen Regressionsanalyse, einem mehrstufigen Statistikverfahren, das verschiedene Kriterien bei einer Entscheidung algorithmisch optimal gewichten soll. Anhand von zwanzig Problemen aus Wirtschaft, Psychologie, Gesundheitswesen oder Biologie stellte sich heraus, dass die multiple Regressionsanalyse im Schnitt bei 68 % der Fälle richtige Vorhersagen traf, das vermeintlich naive Take the best jedoch bei 71 %.

Siehe auch: Take-the-best-Heuristik

Nützliches Halbwissen

Die Trefferquote der Take-the-best-Strategie kann paradoxerweise durch das Weglassen von Informationen verbessert werden. „Gute Intuitionen müssen Informationen ignorieren“ (Gigerenzer). Das Paradoxon erklärt sich dadurch, dass längst nicht alle Informationen für die Vorhersage relevant sind. Take the best ist eine Strategie, die es erlaubt, bestimmte Daten als entscheidend heranzuziehen und den Rest zu ignorieren. Dieses Vorgehen widerspricht nach Gigerenzer einem weit verbreiteten, aber falschen Ideal des Maximierers: „Mehr Information ist immer besser. Mehr Zeit ist immer besser. Mehr Optionen sind immer besser. Mehr Berechnungen sind immer besser. Dieses Schema steckt tief in uns drin, aber es ist falsch! Was uns als Forscher interessiert, ist: Wann ist ‹mehr› besser, und wann ist ‹weniger› besser?“ (Gigerenzer)

Ein ungenaues Wissen kann auch richtig sein. In einer Untersuchung stellte er die Frage: „Welche Stadt hat mehr Einwohner: San Diego oder San Antonio?“ einmal deutschen, einmal US-amerikanischen Studenten.[4] Das überraschende Ergebnis: die deutschen Studenten konnten die Frage öfter richtig beantworten (San Diego), weil sie von der anderen Stadt im Gegensatz zu ihren Kollegen noch nie gehört hatten. Er geht davon aus, dass teilweise uninformierte Entscheidungen auf unbewussten Faustregeln basieren, im vorliegenden Fall: Die bekannte Stadt ist wahrscheinlich auch die größere – und dies führt häufig zum Erfolg.[5]

Unstatistik des Monats

Gemeinsam mit dem Bochumer Ökonomen Thomas K. Bauer und dem Dortmunder Statistiker Walter Krämer rief Gigerenzer im Jahr 2012 die Aktion „Unstatistik des Monats“ ins Leben. Die Aktion soll nach Aussage der Initiatoren „dazu beitragen, mit Daten und Fakten vernünftig umzugehen, in Zahlen gefasste Abbilder der Wirklichkeit korrekt zu interpretieren und eine immer komplexere Welt und Umwelt sinnvoller zu beschreiben“.[6]

Corona-Epidemie

Gemeinsam mit dem Harding-Zentrum für Risikokompetenz entwickelte Gigerenzer während der Corona-Pandemie verständliche graphische Darstellungen zur Wirksamkeit von Covid-19-Impfstoffen und der Interpretation von Schnelltests. Graphiken des Harding-Zentrum für Risikokompetenz und seiner Schwesterinstitution, des Winton Centre for Risk and Evidence Communication an der Universität Cambridge, sind in die Veröffentlichungen des Robert-Koch-Instituts und der Europäischen Arzneimittel Agentur eingeflossen.[7][8] Ganz am Anfang der Krise vermutete Gigerenzer allerdings, dass sie wie die Schweinegrippe-Pandemie verlaufen würde, änderte dann aber aufgrund der Daten seine Meinung. Noch im Februar 2020 gab Gigerenzer Interviews, in denen er der deutschen Bevölkerung riet, sie solle keine Angst vor dem Corona-Virus haben, sondern "vor den Dingen, die uns und unsere Familie umbringen könnten".[9] Anfang März 2020 gab er dann laut ZDF "fünf Interviews täglich", in welchen er behauptete, die Angst sei übertrieben und "eines der größten Risiken [sei], dass Politiker unter Druck gesetzt werden zu handeln. Und dass sie überreagieren, um sich nicht dem Vorwurf der Untätigkeit ausgesetzt zu sehen."[10] Gleichzeitig betonte er in diesem Interview die latente Unsicherheit der Pandemie: „Niemand weiß, wo diese Sache mit dem neuen Coronavirus hingeht.“ Am Ende desselben Monats sprach er sich für die vom RKI und WHO vorgeschlagenen Vorsichtsmaßnahmen (AHA-Regeln) aus.[11]

Später im Jahr – als die wissenschaftliche Datenlage solider war – bestätigte er, dass "Covid-19 eine ernste Gefahr" sei und dass in seinem "eigenen Bekanntenkreis [...] Menschen daran schwer erkrankt und gestorben"[12] seien. Er warnte zur selben Zeit davor, dass Menschen mit Symptomen von Schlaganfall oder Herzinfarkt zögern und zu spät ins Krankenhaus kommen, aus Angst sich dort mit Corona zu infizieren. Seine Hauptbotschaft bleibt auch hier, dass in solchen dynamisch verändernden Situationen, in denen Unvorhersehbarkeit herrscht, Angst und Panik keine adäquate Antwort seien. Vielmehr müssen wir lernen, mit Ungewissheit umzugehen. In dem Zusammenhang wiederholte er, dass wir "auch heute nicht [wissen], ob wir das Virus unter- oder überschätzen und wie unsere gemeinsame Zukunft aussehen wird."[13] In diesem und anderen Interviews rät er, Menschen den Umgang schon in der Schule zu lehren.[14][15]

Mitgliedschaften (Auswahl)

Auszeichnungen

Schriften

  • Messung und Modellbildung in der Psychologie. UTB/Reinhardt, München/Basel 1981, ISBN 978-3-497-00895-7.
  • Rationality for Mortals. 2008.
  • mit Christoph Engel: Heuristics and the Law. 2006
  • Adaptive Thinking. 2000.
  • mit P. M. Todd: Simple Heuristics That Make Us Smart. 1999.
  • mit Reinhard Selten: Bounded Rationality. 2001
  • mit Daniel G. Goldstein: Models of Ecological Rationality: The Recognition Heuristic. In: Psychological Review. Vol. 109, No. 1, 2002, ISSN 0033-295X, S. 75–90.
  • mit Peter M. Todd, ABC Research Group (Hrsg.): Simple heuristics that make us smart. Oxford University Press, New York 1999, ISBN 0-19-514381-7.
  • Das Einmaleins der Skepsis. Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken. Berlin Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-8270-0079-3.
  • Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. Bertelsmann, München 2007, ISBN 978-3-570-00937-6. Goldmann, München 2008.
    • englisch: Gut Feelings. Viking, New York 2007, ISBN 978-0-670-03863-3.
  • mit J. A. Muir Gray als Hrsg.: Better Doctors, Better Patients, Better Decisions. Envisioning Health Care 2020. MIT Press, Cambridge Massachusetts 2011, ISBN 978-0-262-01603-2.
    • deutsch: mit J. A. Muir Gray als Hrsg.: Bessere Ärzte, bessere Patienten, bessere Medizin. Aufbruch in ein transparentes Gesundheitssystem. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2013, ISBN 978-3-941468-82-5.
  • Risk Savvy.
    • deutsch: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. C. Bertelsmann Verlag, München 2013, ISBN 978-3-570-10103-2.
  • mit Thomas K. Bauer und Walter Krämer: Warum dick nicht doof macht und Genmais nicht tötet. Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik. Campus Verlag, Frankfurt am Main/ New York City 2014, ISBN 978-3-593-50030-0.
  • Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. Aus dem Englischen von Hainer Kober, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KH, Hamburg 2016, ISBN 978-3-946456-06-3.
  • Klick. Wie wir in einer digitalen Welt die Kontrolle behalten und die richtigen Entscheidungen treffen, C. Bertelsmann Verlag, September 2021, ISBN 978-3-570-10445-3[16]

Siehe auch

Weblinks

Commons: Gerd Gigerenzer – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Video

Einzelnachweise

  1. Impressum | Harding-Zentrum für Risikokompetenz. Abgerufen am 18. Februar 2021.
  2. Die Fliege im Klo - und die Stupser der Kanzlerin zeit.de, 10. März 2015, abgerufen am 15. Jänner 2020
  3. «Bauchgefühle sind das Produkt von einfachen Faustregeln. Diese Faustregeln sind uns meist gar nicht bewusst, und oft stützen sie sich auf einen einzigen Grund.»; «Trotzdem sind intuitive Entscheide nicht nur ökonomischer und schneller, sondern oftmals auch einfach besser.»
  4. Lilo Berg: Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, über die Kunst, schnell gute Entscheidungen zu treffen: "Auch Halbwissen kann zum Erfolg führen". In: Berliner Zeitung. 27. August 2005.
  5. Anja Dieckmann, Gerd Gigerenzer: Macht Halbwissen klug? In: Berliner Ärzte. Heft 07/2005, Online-Version (PDF; 488 kB)
  6. Gerd Gigerenzer, Thomas Bauer, Walter Krämer: Unstatistik des Monats. RWI Essen, abgerufen am 21. November 2017.
  7. mrna-schutzimpfung-gegen-covid-19. Abgerufen am 12. Mai 2021.
  8. Covid-19: Resources to Make Sense of the Numbers. Abgerufen am 12. Mai 2021.
  9. Kai Schmieding: Über das Corona-Virus, Angst und wahre Lebensrisiken. Ein Gespräch mit Risikoforscher Prof. Gerd Gigerenzer über die Gefahr des Corona-Virus in Deutschland. 17. Februar 2020, abgerufen am 2. Januar 2021.
  10. Florian Neuhann: Risikoforscher zu Coronavirus - "Müssen Angst haben vor unserer eigenen Angst". 7. März 2020, abgerufen am 2. Januar 2021.
  11. Stefanie Maeck: Risikoforscher über die Coronakrise: "Es ist die Zeit, mehr zu verstehen und sich weniger zu fürchten". 25. März 2020, abgerufen am 12. Mai 2021.
  12. Adrian Hartschuh: „Irgendein Risiko muss man eingehen“. 20. Oktober 2020, abgerufen am 2. Januar 2021.
  13. Martina Kind: Gerd Gigerenzer im Gespräch: Risikoforscher über unsere Corona-Angst: „Haben nie gelernt, mit Zahlen umzugehen“. 29. Oktober 2020, abgerufen am 2. Januar 2021.
  14. Gerd Gigerenzer über die Bedeutung statistischen Denkens. Abgerufen am 18. Februar 2021.
  15. Bascha Mika: „Mit unberechenbaren Risiken rechnen“: Coronavirus und die Statistik: Was die Zahlen sagen – und was nicht. 13. Mai 2020, abgerufen am 12. Mai 2021.
  16. Alexander Armbruster: KI und Digitalisierung: Die Gefahren der Überwachung. In: FAZ.NET. 6. Oktober 2021, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 7. Oktober 2021]).