Hans Kelsen

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Hans Kelsen (* 11. Oktober 1881 in Prag, Österreich-Ungarn; † 19. April 1973 in Orinda bei Berkeley, USA) gilt als einer der bedeutendsten Rechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Insbesondere brachte er im Staatsrecht und im Völkerrecht herausragende Beiträge hervor, auch gilt er als exzellenter Rechtstheoretiker. Gemeinsam mit Georg Jellinek und dem Ungarn Félix Somló gehörte er der Gruppe der österreichischen Rechtspositivisten an, deren Denken er mit seinem Hauptwerk, die Reine Rechtslehre, maßgeblich beeinflusste. Neben dem Einfluss H. L. A. Harts auf den Rechtspositivismus des 20. Jahrhunderts gilt der Kelsens als sehr bedeutend.

Aufnahme von Georg Fayer (~1930)
Hans Kelsen, Büste von Ferdinand Welz in der Universität Wien

Schon 1920 erklärte Kelsen den Respekt gegenüber Minderheiten als „höchsten Wert“ einer repräsentativen Demokratie und gilt als Architekt der im selben Jahr geschaffenen österreichischen Bundesverfassung. Diese ist bis heute großteils noch in Kraft.

Leben

Kelsen entstammte einer deutschsprachigen jüdischen Familie in Prag. Der Vater Adolf Kelsen (1850–1907) stammte aus Brody im östlichen Galizien, seine Mutter Auguste Löwy (1860–1950) aus Neuhaus in Böhmen.

Gedenktafel an Kelsens ehemaliger Schule

Studium und Lehrtätigkeit in Wien

Die Familie zog bald nach Wien; sein Vater wollte dort mit seinem Lampengeschäft expandieren. Hans besuchte zunächst eine private evangelische Volksschule. Wegen finanzieller Schwierigkeiten seines Vaters musste Kelsen danach eine städtische Volksschule besuchen, was er zeitlebens als Demütigung empfand. Danach absolvierte er das durchaus elitäre Akademische Gymnasium in Wien. Einer seiner Schulkollegen war Ludwig von Mises, später Professor für Nationalökonomie und Verfechter des wirtschaftlichen Liberalismus. 1905 trat Kelsen zum römisch-katholischen Glauben über; 1912 wechselte er zur Evangelischen Kirche des Augsburger Bekenntnisses.

Kelsen studierte an der Universität Wien Rechtswissenschaften und habilitierte sich 1911 in Staatsrecht und Rechtsphilosophie. Außerdem besuchte er ein Seminar der Universität Heidelberg, wo er dem Staatsrechtsprofessor Georg Jellinek (1851–1911) begegnete. 1912 heiratete Kelsen Margarete Bondi (1890–1973). Das Paar hatte zwei Töchter: Hanna (1914–2001) und Maria (1915–1994).

1917 wurde Kelsen außerordentlicher Professor an der Universität Wien, 1919 Ordinarius. Zu seinen Schülern zählten unter anderen Hersch Lauterpacht und Leo Gross.

Berater des letzten k.u.k. Kriegsministers

Während des Ersten Weltkrieges wurde Kelsen vorerst als dienstuntauglich eingestuft und kurzzeitig in der zentralen Hemdenvergabestelle eingesetzt. In der Folge war er als Mitarbeiter des letzten k.u.k. Kriegsministers, Rudolf Stöger-Steiner, an militärpolitischen Plänen beteiligt, die von der zu erwartenden Ablösung der österreichisch-ungarischen Realunion durch eine bloße Personalunion ausgingen.

Kelsen befasste sich u. a. in einem Aufsatz mit der dann erforderlichen Teilung der k.u.k. Armee in eine österreichische und eine ungarische Armee. Diese Teilung fand schließlich auf Grund des von Kaiser Karl I. in seiner Funktion als König Karl IV. von Ungarn sanktionierten Beschlusses Ungarns, die Realunion aufzukündigen, am 31. Oktober 1918 statt. Allerdings konnten der gemeinsame Kriegsminister, der gemeinsame Ministerrat oder die k.k. österreichische Regierung darauf keinen Einfluss mehr nehmen.

Im Oktober 1918 wurde von Kelsen eine staatsrechtliche Denkschrift mit Planungen zur Vermeidung einer ökonomischen und politischen Katastrophe auf dem Gebiet der Monarchie ausgearbeitet. Heinrich Lammasch und Kelsen erhielten daraufhin persönlich vom Kaiser im Hauptquartier in Baden den offiziellen Auftrag zur Bildung einer „Liquidations-Kommission“, die staatsrechtliche Verhandlungen zur „Rettung des Gemeinwesen“ zu führen hatte. Die anschließenden Verhandlungen, die Lammasch mit den Vertreter der verschiedenen Nationalitäten führte, gestalteten sich anfänglich günstig. Aber am 20. Oktober 1918 berichtete Lammasch Kelsen, dass die Mission wegen der Weigerung der tschechischen Politiker, mitzumachen, nicht durchführbar ist. Kelsen übernahm die Benachrichtigung des Kaisers in Gödöllö. Unmittelbar darauf wurde von Lammasch, Redlich und Kelsen die dem Kaiser vorzuschlagende Ministerliste der Regierung Lammasch, des Liquidationsministeriums, erstellt, die dann nur mehr zwei Wochen amtierte, bis der Kaiser aufgab.

Verfassungsexperte der Republik Österreich

Nach Ausrufung des am 30. Oktober 1918 gegründeten Staates Deutschösterreich als Republik am 12. November 1918 wurde Kelsen vom sozialdemokratischen Staatskanzler Karl Renner immer wieder als Experte für Verfassungsfragen herangezogen. Im März 1919 wurde er mit der Ausarbeitung der Verfassung des neuen Staates beauftragt. Das von der Konstituierenden Nationalversammlung beschlossene Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920 ist zwar nicht, wie es oft heißt, von ihm allein verfasst, aber von ihm maßgeblich mitgestaltet worden. Das so genannte B-VG (der Bindestrich grenzt es von auf Grund der Verfassung erlassenen Bundesverfassungsgesetzen ab) gilt in der Fassung von 1929 (Stärkung der Rechte des Bundespräsidenten, Neugestaltung des Verfassungsgerichtshofes) mit den Modifikationen durch den EU-Beitritt 1995 bis heute.

Verfassungsrichter

1919 wurde Kelsen als parteiunabhängiger Experte Mitglied des Verfassungsgerichtshofes (VfGH). Die Tätigkeit als Verfassungsrichter und vor allem die behauptete Nähe zur Sozialdemokratischen Partei trugen ihm viel Kritik ein, nachdem ab 1920 konservative Regierungen amtierten. Der sozialdemokratische Wiener Bürgermeister Jakob Reumann hatte entgegen dem Ersuchen des konservativen Innenministers die Aufführung von Arthur SchnitzlersReigen“ nicht verboten; die von der Bundesregierung gegen Reumann vor dem Verfassungsgerichtshof erhobene Anklage scheiterte. Reumann hatte weiters ohne Genehmigung der Regierung ein Krematorium in Wien errichten lassen; der VfGH erkannte, er habe sich in einem entschuldbaren Rechtsirrtum befunden.

Besonderen Anstoß nahmen die Konservativen an einem familienrechtlichen VfGH-Erkenntnis. Die Ehescheidung war damals in Österreich noch nicht eingeführt. Der sozialdemokratische niederösterreichische Landeshauptmann, Albert Sever, hatte jedoch per Dispens die standesamtliche Wiederverheiratung nach einer Trennung gestattet; man sprach von so genannten Dispensehen oder Sever-Ehen. Hatte der von der Bundesregierung dagegen angerufene Oberste Gerichtshof diese Ehen für ungültig erklärt, so hob der Verfassungsgerichtshof die Dispensehen nicht auf und entfachte damit wütende Reaktionen der katholischen Kirche und der Christlichsozialen.[1] Kelsen wurde beschuldigt, der geistige Vater dieser VfGH-Erkenntnisse gewesen zu sein.

Anlässlich der Neugestaltung des Verfassungsgerichtshofes 1929/30 wurden die Mandate der bisherigen Verfassungsrichter ex lege beendet. Die konservative Bundesregierung nahm Kelsen nicht in ihren auf Grund der Verfassungsnovelle 1929 zu erstellenden Ernennungsvorschlag an den Bundespräsidenten für von ihr zu besetzende Mandate auf. Die Sozialdemokraten, stärkste Fraktion im Nationalrat, boten ihm an, ihn auf die Liste der vom Nationalrat zu wählenden Verfassungsrichter aufzunehmen. Kelsen lehnte das Angebot ab, weil er nicht Richter von Gnaden einer Partei werden wollte.

Kelsen in Köln, Genf und Prag

Kelsen verließ Österreich in der Folge und wurde 1930 auf Anregung des Oberbürgermeisters Konrad Adenauer (katholische Zentrumspartei)[1] Professor für Völkerrecht an der Universität zu Köln. Dort wurde er 1933 nach der Machtübernahme Hitlers wegen seiner bekannten demokratischen Auffassungen und seiner jüdischen Abstammung auf der Grundlage des NS-Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 von seinem Amt als Hochschullehrer beurlaubt. Carl Schmitt war der einzige Fakultätskollege, der sich einer an die preußische Regierung gerichteten Petition der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zugunsten Kelsens nicht anschloss. 1933 wurde Kelsen in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. Im Jahr 1934 wurde er als Professor der Universität Köln in den Ruhestand versetzt.

Noch 1933 trat Kelsen eine Professur für Völkerrecht am Institut universitaire de hautes études internationales in Genf an, wo er bis 1940 lehrte. Im Jahr 1936 wurde er außerdem von der tschechoslowakischen Regierung als Ordinarius für Völkerrecht an die deutsche Prager Karl-Ferdinands-Universität berufen (bis 1938). Im Jahr 1936 erwarb Kelsen (unter Verlust der deutschen und der österreichischen) die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit. Kelsens Berufung nach Prag löste gewalttätige Proteste deutscher „völkischer“ und nationalsozialistischer Studenten aus.[2] Nach nur drei Semestern war seine Prager Tätigkeit beendet.

Kelsen in den Vereinigten Staaten

1940 emigrierte Kelsen in die USA. An der Harvard University erhielt er ein Ehrendoktorat, aber keine feste Anstellung. 1942 wechselte er an die University of California, Berkeley, wo er 1945 zum „Full Professor“ ernannt wurde und bis 1957 Politikwissenschaft lehrte.

Von Österreich wurde Kelsen nach 1945 in die Österreichische Akademie der Wissenschaften aufgenommen und offiziell geehrt, jedoch nicht zur Rückkehr nach Wien eingeladen.

Kelsen starb infolge Herzstillstandes am 19. April 1973 im Hospiz von Orinda. Seinem Wunsch entsprechend wurde er eingeäschert und seine Asche im Pazifik verstreut.[3]

Hauptbetätigungsfelder Kelsens

Überblick

Kelsen, der philosophisch dem Marburger Neukantianismus nahestand, war der Begründer der Reinen Rechtslehre, mit der er den Rechtspositivismus auf eine neue theoretische Grundlage stellte. Die von ihm geprägte Verfassungsgerichtsbarkeit wirkte in ganz Europa beispielgebend. Er bekam elf Ehrendoktorate (Utrecht, Harvard, Chicago, Mexiko-Stadt, Berkeley, Salamanca, FU Berlin, Wien, New School for Social Research New York, Paris, Salzburg) für sein Lebenswerk.

Geistige Antipoden waren Carl Schmitt, Hermann Heller und Rudolf Smend, die ein stärker soziologisches, manchmal auch als „geisteswissenschaftlich“ bezeichnetes, Rechtsverständnis hatten (s. auch Der juristische und der „soziologische“ Staatsbegriff in der Weimarer Staatstheorie).

Ein zentrales Anliegen Kelsens war die Verteidigung der Freiheit, insbesondere der geistigen Freiheit, gegen jegliche Form der Unterdrückung. Ausdruck fanden diese Ideen des demokratisch und ideologiekritisch eingestellten Rechtsphilosophen in seiner klassischen Schrift Staatsform und Weltanschauung sowie im Aufsatz „Verteidigung der Demokratie“.

Rechtstheorie

Der Kelsen-Spezialist Horst Dreier würdigte Hans Kelsen als den „Juristen des 20. Jahrhunderts“. Tatsächlich war sein Streben nach einer formalen Analyse des Rechts prägend für den deutschsprachigen Raum. Dabei vertrat Kelsen einen rein formalen Standpunkt, den er bereits in Hauptprobleme der Staatsrechtslehre herausarbeitete: In Abkehr von Georg Jellinek begriff er den Staat erstmals nicht mehr anhand der soziologisch tatsächlichen Kategorien „Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt“. Kelsen sah den Staat vielmehr als die Gesamtheit von rechtlichen Sollenssätzen. In Anlehnung an Immanuel Kant, sei Hauptmerkmal des Staates daher das Vorhandensein einer objektiven Rechtsordnung.

Die einzelnen Rechtsnormen werden in ihrer Entstehung durch eine in der von Adolf Merkl entwickelten Normenpyramide höherstehende Rechtsnorm bedingt, und jede Rechtsnorm bedingt ihrerseits wiederum das Entstehen einer im Rang niedrigeren Norm (Stufenbau der Rechtsordnung). Dadurch gelangt man allerdings in einen unendlichen Regress, da über jeder Norm eine höhere stehen müsste. Um dieses Problem zu lösen, führte Kelsen die so genannte hypothetische Grundnorm ein. Die hypothetische Grundnorm dient als transzendentallogische Voraussetzung, um die Geschlossenheit eines Rechtssystems zu gewährleisten. Eine Norm gehöre nämlich nur dann einer Rechtsordnung an, wenn sie sich auf diese Grundnorm zurückführen lasse. Ursprünglich meinte Kelsen, dass die Grundnorm eine Hypothese sei, später ging er dazu über, in ihr eine Fiktion zu sehen.

Kelsen legte größten Wert auf die Unterscheidung der Kategorien Sollen und Sein (siehe Humes Gesetz). Allein auf Grund der Tatsache, dass etwas ist, kann nicht darauf geschlossen werden, dass es auch so sein soll. Es handelt sich daher um verschiedene Denkkategorien im Sinne Kants. Normen gehören dem Bereich des Sollens an. Ihre spezifische Existenz wird Geltung genannt. Eine Norm kann ihre Geltung nur von einer anderen – höheren – Norm herleiten, niemals aus einer bloßen Tatsache (etwa Macht).

Gegenstand der Rechtswissenschaft sind nach Kelsen ausschließlich Rechtsnormen. Natürlich gäbe es auch andere Normensysteme wie Sitte und Moral; letztere sei aber Gegenstand der Ethik, die sich eben mit Normen der Moral befasse. Der Rechtswissenschaftler habe in seiner Darstellung des geltenden Rechts nicht zu prüfen, ob eine Norm nach bestimmten Moralvorstellungen gerecht oder ungerecht erscheine. Dies wäre eine unzuverlässige Vermengung von verschiedenen Normensystemen und widerspräche der Forderung nach Reinheit der Rechtslehre.

Kennzeichnend für Kelsens System ist, dass er sich aus methodologischen Gründen gegen das „Naturrecht“ wendet. Als „Naturrecht“ wird ein System von Rechtsgrundsätzen bezeichnet, in dem die gleichbleibende Natur des Menschen als vernünftiges Wesen aus der Natur der Dinge abgeleitet wird, wobei der Ursprung wie auch die Geltung vom menschlichen Handeln unabhängig sind, so dass diese ein über der positiven Rechtsordnung eigenständiges Dasein führen können. In diesem Zusammenhang bleibt die Frage offen, was die „hypothetische Grundnorm“ anderes als Naturrecht sein soll, beziehungsweise eine Norm aus der Natur der Sache.

Kelsen räumte aber auch ein, dass bei der Rechtsgestaltung und Rechtserzeugung ethische und soziologische Fragen eine Rolle spielen.

Soziologie

Hans Kelsen erhielt mehrere Ehrendoktorwürden, unter anderem von der „New School for Social Research

Auf dem Gebiet der Soziologie ist vor allem sein Briefwechsel mit Eugen Ehrlich (Kelsen-Ehrlich-Debatte) zu erwähnen, in dem der Rechtspositivismus Kelsens auf das Rechtsverständnis Ehrlichs trifft, das der damals noch herrschenden Begriffsjurisprudenz durch einen stärkeren Bezug zur Rechtswirklichkeit entgegentritt. Kelsen trennte in dieser Diskussion zwischen der Soziologie und dem Recht. Die strikte Trennung beruht auf seiner Ausfassung, dass die Soziologie genauso eine Seinslehre sei wie die Mathematik und wie jede Naturwissenschaft. Diesen Wissenschaften ist gemein, dass sie Aussagen treffen über etwas, das dem Beweis zugänglich ist und damit als wahr oder falsch bestimmt werden kann. Die Rechtswissenschaft hingegen sei eine Sollenswissenschaft, deren Aussagen weder verifiziert noch falsifiziert werden könnten. Das liege daran, dass die Rechtswissenschaft Aussagen alleine darüber treffe, ob etwas sein soll, ob etwas gelten soll, getan, geduldet oder unterlassen werden soll. Solche Aussagen könnten nur gültig sein oder nicht gültig sein. Als sein auf diesem Gebiet bedeutendstes Werk wird Der soziologische und der juristische Staatsbegriff aus dem Jahre 1922 angesehen.

Demokratietheorie

Kelsen selbst war ein Verfechter der Demokratie, für die er schon 1920 das Prinzip von Mehrheit und legitimer Opposition im Sinne eines modernen Pluralismus formulierte und mit dem Relativismus von weltanschaulichen Überzeugungen begründete. Gegen die sowjetische Form der Diktatur, die sich ihm als „Absolutismus eines politischen Dogmas“ und eine „dieses Dogma vertretende Parteiherrschaft“ darstellt, erklärte er 1920 als „höchsten Wert“ der Demokratie, dass sie „den politischen Willen jedermanns gleich einschätzt“ und „jeden politischen Glauben, jede politische Meinung … gleichermaßen achtet“. Das hat Folgen: „Die für die Demokratie so charakteristische Herrschaft der Majorität unterscheidet sich von jeder anderen Herrschaft dadurch, daß sie eine Opposition — die Minorität — ihrem innersten Wesen nach nicht nur begrifflich voraussetzt, sondern auch politisch anerkennt und in den Grund- und Freiheitsrechten, im Prinzipe der Proportionalität schützt.“[4] Die Politik der Demokratie, so Kelsen, sei „eine Politik des Kompromisses“. In seiner Denkschrift Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1920 erstmals erschienen, diskutierte er intensiv das Prinzip der demokratischen Repräsentation.

Ebenfalls im Jahre 1920 wurde Kelsens Auseinandersetzung mit dem Marxismus unter dem Titel Sozialismus und Staat: eine Untersuchung zur politischen Theorie des Marxismus, veröffentlicht. Sozialismus war für Kelsen nur durch den Staat möglich, nicht aber ohne den Staat. Er gab damit der Idee Ferdinand Lassalles vom Staatssozialismus den Vorzug gegenüber der marxistischen Theorie.

Staatsrecht

Kelsen wird mit Recht als der Begründer der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit angesehen. Er gilt zwar weithin als der Schöpfer der österreichischen Bundesverfassung von 1920, mitgearbeitet hat er allerdings nur am Teilbereich der Verfassungsgerichtsbarkeit selbst. Grundgedanke war, die legislatorischen Akte (Rechtsschöpfungsakte) letztinstanzlich durch ein aus der Fachgerichtsbarkeit ausgegliedertes Gericht kontrollieren zu lassen. Dadurch wird eine einheitliche Rechtsanwendung ermöglicht und einer rechtlichen Zersplitterung entgegengewirkt. Dass Kelsens Theorie sich nicht vollkommen in der Praxis durchsetzte, zeigte der Streit der Fachgerichtsbarkeit mit dem österreichischen Verfassungsgerichtshof, an dem auch Kelsen Richter war, über die Auslegung der Voraussetzungen einer Ehescheidung. Während Kelsen und der Verfassungsgerichtshof davon überzeugt waren, eine wirksame Ehescheidung liege schon bei einer staatlichen Scheidungsentscheidung vor, beharrten die Fachgerichte auf dem Standpunkt, hierfür bedürfe es zwingend eines kirchlichen Aktes. Die Folge war, dass Kelsen sein Richteramt niederlegte und Wien verließ.

In Köln traf Kelsen auf Carl Schmitt und antwortete auf dessen Staatsansicht mit der Schrift Wer soll der Hüter der Verfassung sein. Schmitt propagierte das System der absoluten Macht mit der These „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, Kelsen stellte dem das Prinzip der Verfassungsgerichtsbarkeit entgegen.

Im Zuge der Gleichschaltung unter der Machtergreifung wurde Kelsen aufgefordert, die Universität zu Köln zu verlassen. Eine Petition, unterzeichnet von der gesamten Kölner Rechtslehrerschaft mit Ausnahme von Carl Schmitt, blieb erfolglos.

Völkerrecht

Plakat zur Ausstellung „Hans Kelsen und die Bundesverfassung“ im Bezirksmuseum Josefstadt 2010.
Büste Kelsens im Österreichischen Verfassungsgerichtshof

Die rechtstheoretischen Überlegungen für die letztlich angewendete Konstruktion des Viermächte-Status (etwa die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht) gehen teils auf Arbeiten Kelsens zurück.[5]

Den Alliierten war bereits im Verlaufe des Zweiten Weltkrieges bewusst gewesen, dass sie im Falle der militärischen Besetzung Deutschlands keine handlungsfähige Regierung mehr antreffen würden. Die Alliierten übernahmen demnach die Aufgaben des besiegten Deutschen Reichs als Staats- und Völkerrechtssubjekt als Ganzes, ohne sich dieses anzueignen.

Während seiner Zeit in Berkeley befasste sich Kelsen eindringlicher mit der Anwendung seiner Normenlehre auf das Völkerrecht. So hat er einen heute immer noch in großen Teilen gültigen Kommentar zum Recht der Vereinten Nationen verfasst.

Ehrungen und Forschung

Auszeichnungen (Auszug)

Hans Kelsen-Institut und Hans-Kelsen-Forschungsstelle

Aus Anlass des 90. Geburtstages von Hans Kelsen beschloss die österreichische Bundesregierung am 14. September 1971, eine Stiftung zu gründen, die den Namen „Hans Kelsen-Institut“ trägt. Das Institut nahm seine Tätigkeit 1972 auf; seine Aufgabe ist es, die Reine Rechtslehre und ihren wissenschaftlichen Widerhall im In- und Ausland zu dokumentieren, darüber zu informieren und die weitere Durchdringung, Fortführung und Entwicklung der Reinen Rechtslehre zu fördern. Zu diesem Zweck gibt der Verlag Manz eine eigene Schriftenreihe heraus, in der bis jetzt 33 Bände erschienen sind. Das Institut verwaltet die Rechte Kelsens an seinen Publikationen und verwahrt seinen wissenschaftlichen Nachlass, aus dem immer wieder postum Schriften veröffentlicht wurden und werden (so etwa 1979 die Allgemeine Theorie der Normen).

Zu Geschäftsführern des Hans Kelsen-Instituts wurden 1972 Kurt Ringhofer und Robert Walter bestellt, die dieses Amt bis zu ihrem Tod 1993 bzw. 2010 innehatten. Die gegenwärtigen Geschäftsführer sind Clemens Jabloner (seit 1993) und Thomas Olechowski (seit 2011).

2006 wurde an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg die „Hans-Kelsen-Forschungsstelle“ unter Leitung von Matthias Jestaedt gegründet. Nach dessen Berufung an die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 2011 wurde auch die Forschungsstelle dorthin transferiert. Die Hans-Kelsen-Forschungsstelle gibt in Kooperation mit dem Hans Kelsen-Institut eine historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Kelsens im Mohr Siebeck Verlag heraus.

Außerdem besteht eine Kelsen-Forschungsstelle Kiel an der Universität Kiel. Sie wird von Robert Alexy geleitet. An ihr wirkt als Senior Research Fellow Stanley L. Paulson.[11]

Schriften (Auswahl)

  • Die Staatslehre des Dante Alighieri. Deuticke, Wien/Leipzig 1905.
  • Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht. Nachdr. der 2. Aufl. Tübingen 1928, Scientia Verlag 1962 (Digitalisat).
  • Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze. Mohr, Tübingen 1911, 2., photo-mechanisch gedruckte, um eine Vorrede vermehrte Auflage 1923, unveränderter Neudr., Scientia Verlag 1960 (Digitalisat).
  • Vom Wesen und Wert der Demokratie Mohr, Tübingen 1920; 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 1929; Neudruck der 2. Auflage: Scientia, Aalen 1981, ISBN 3-511-00058-0.
  • Sozialismus und Staat: Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus. Hirschfeld, Leipzig 1920 (Digitalisat); 3. Auflage: Wiener Volksbuchhandlung, Wien 1965.
  • Österreichisches Staatsrecht: Ein Grundriss entwicklungsgeschichtlich dargestellt. Mohr, Tübingen 1923.
  • Allgemeine Staatslehre. Springer, Berlin 1925.
  • Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus. R. Heise, Charlottenburg 1928 (Digitalisat).
  • Wer soll der Hüter der Verfassung sein? W. Rothschild, Berlin-Grunewald 1931.
  • Reine Rechtslehre: Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik. Deuticke, Leipzig/Wien 1934; 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage: Deuticke, Wien 1960.
  • Vergeltung und Kausalität: Eine soziologische Untersuchung. W. P. van Stockum, Den Haag 1941.
  • General Theory of Law and State. Harvard University Press, Cambridge 1945.
  • Society and Nature: A Sociological Inquiry. Kegan Paul, London 1946.
  • The Law of the United Nations: a critical analysis of its fundamental problems. Stevens, London 1950.
  • Was ist Gerechtigkeit? Deuticke, Wien 1953.
  • Principles of International Law. Rinehart, New York 1952; 2. Auflage 1966.
  • Allgemeine Theorie der Normen. Im Auftrag des Hans-Kelsen-Instituts aus dem Nachlass hrsg. von Kurt Ringhofer u. Robert Walter. Manz, Wien 1979.
  • Werke. Hrsg. von Matthias Jestaedt. In Kooperation mit dem Hans-Kelsen-Institut. Mohr Siebeck, Tübingen 2007 ff., ISBN 978-3-16-149420-8.

Literatur

  • Hauke Brunkhorst (Hrsg.): Rechts-Staat. Staat, internationale Gemeinschaft und Völkerrecht bei Hans Kelsen. Nomos, Baden-Baden 2008.
  • Tamara Ehs (Hrsg.): Hans Kelsen. Eine politikwissenschaftliche Einführung. Facultas, Wien 2009.
  • Carsten Heidemann: Die Norm als Tatsache. Zur Normentheorie Hans Kelsens. Nomos, Baden-Baden 1997.
  • Ulrich Klug: Prinzipien der Reinen Rechtslehre. Hans Kelsen zum Gedächtnis (= Kölner Universitätsreden. Nr. 52). Mit einer Ansprache von Klemens Pleyer Scherpe, Krefeld 1974.
  • Friedrich Koja (Hrsg.): Hans Kelsen oder die Reinheit der Rechtslehre. Böhlau, Wien/Köln/Graz 1988.
  • Horst Dreier: Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen. Nomos, Baden-Baden 1986.
  • Horst Dreier: Kelsen im Kontext. Beiträge zum Werk Hans Kelsens und geistesverwandter Autoren. Mohr Siebeck, Tübingen 2019, ISBN 978-3-16-158191-5. (Rezension)
  • Wilhelm Jöckel: Hans Kelsens rechtstheoretische Methode. Darstellung und Kritik ihrer Grundlagen und hauptsächlichsten Ergebnisse. Scienta, Aalen 1977.
  • Norbert Leser: Hans Kelsen (1881–1973). In: Neue Österreichische Biographie. Band 20, Wien 1979, S. 29–39.
  • Rudolf Aladár Métall: Hans Kelsen. Leben und Werk. Deuticke, Wien 1969.
  • Rudolf Aladár Métall (Hrsg.): 33 Beiträge zur Reinen Rechtslehre. Wien 1974.
  • Gerhard Oberkofler, Eduard Rabofsky: Hans Kelsen im Kriegseinsatz der k.u.k. Wehrmacht. Eine kritische Würdigung seiner militärtheoretischen Angebote (=Rechtshistorische Reihe 58). Frankfurt am Main u. a. 1988.
  • Thomas Olechowski: Hans Kelsen. Biographie eines Rechtswissenschaftlers. Mohr Siebeck, Tübingen 2020, ISBN 978-3-16-159292-8.
  • Robert Chr. van Ooyen: Der Staat der Moderne. Hans Kelsens Pluralismustheorie. Duncker & Humblot, Berlin 2003.
  • Robert Chr. van Ooyen: (Hrsg.): Hans Kelsen. Wer soll der Hüter der Verfassung sein? Mohr Siebeck, Tübingen 2008.
  • Robert Chr. van Ooyen: Hans Kelsen und die offene Gesellschaft. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010.
  • Stanley L. Paulson, Michael Stolleis (Hrsg.): Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Mohr Siebeck, Tübingen 2005.
  • Ramon Pils: Terminologiewörterbuch Hans Kelsen. Deutsch-englisches Glossar für die Übersetzungspraxis (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 37). Manz, Wien 2016, ISBN 978-3-214-14758-7.
  • Peter Römer: Hans Kelsen. Dinter, Köln 2009, ISBN 978-3-924794-54-5.
  • Günther Schefbeck: Hans Kelsen und die Bundesverfassung. In: Bezirksmuseum Josefstadt (Hrsg.): Hans Kelsen und die Bundesverfassung. Geschichte einer josefstädter Karriere. Ausstellungskatalog. Wien 2010, S. 48–57.
  • Wolfgang Schild: Die zwei Systeme der Reinen Rechtslehre. Eine Kelseninterpretation. In: Wiener Jahrbuch für Philosophie. Band 4 (1971), S. 150–194.
  • Robert Walter: Kelsen, Hans. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 11, Duncker & Humblot, Berlin 1977, ISBN 3-428-00192-3, S. 479 f. (Digitalisat).
  • Robert Walter: Hans Kelsen als Verfassungsrichter. Manz, Wien 2005, ISBN 3-214-07673-6.
  • Robert Walter, Werner Ogris, Thomas Olechowski, (Hrsg.): Hans Kelsen. Leben, Werk, Wirksamkeit. Manz, Wien 2009.

Weblinks

Commons: Hans Kelsen – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b Eric Frey: Frühes Exil ohne versöhnliche Heimkehr, Bericht über die von Thomas Olechowski derzeit verfasste wissenschaftliche Kelsen-Biografie, in: Tageszeitung Der Standard, Wien, 3. März 2010, S. 16
  2. Vgl. hierzu die Einzelheiten bei Rudolf A. Métall, Hans Kelsen. Leben und Werk, Wien 1969, S. 69 ff
  3. H. Kelsen, veröffentlichte Schriften 1905–1910 und Selbstzeugnisse. Tübingen 2007. S. 91.
  4. Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 36 (1920) online: [1]
  5. Matthias Etzel, Die Aufhebung von nationalsozialistischen Gesetzen durch den Alliierten Kontrollrat (1945–1948), Band 7 von Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Verlag Mohr Siebeck, 1992, ISBN 3-16-145994-6
  6. H. R. Klecatsky / Rene Marcic / Herbert Schambeck (Hrsg.): Die Wiener rechtstheoretische Schule: Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, Verlag Österreich, 2010, S. 1933.
  7. Wiener Rathauskorrespondenz, 22. Dezember 1953, Blatt 2102
  8. Wiener Rathauskorrespondenz, 16. Jänner 1954, Blatt 67
  9. Ehrendoktorat der Universität Wien
  10. Deceased Fellows. British Academy, abgerufen am 17. Juni 2020.
  11. Kelsen-Forschungstelle Kiel auf uni-kiel.de (zuletzt abgerufen am 5. März 2022).