Jean Jaurès

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Jean Jaurès (1904)
Denkmal für Jean Jaurès in Carmaux

Jean Jaurès [ʒɑ̃ ʒoˈʁɛs] (* 3. September 1859 in Castres, Département Tarn; † 31. Juli 1914 in Paris) war ein französischer Historiker und sozialistischer Politiker und in seinem Heimatland einer der bekanntesten Vertreter des Reformsozialismus am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Er wurde am 31. Juli 1914, unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkriegs, von einem französischen Nationalisten ermordet.

Leben und Werk

Der Sohn eines bürgerlichen Textilhändlers schlug eine akademische Laufbahn ein. Er besuchte das bekannte Pariser Gymnasium Lycée Louis-le-Grand und studierte an der Pariser Elitehochschule École normale supérieure. Bei verschiedenen Auswahlverfahren gehörte er zu den Landesbesten seines Jahrgangs. Nach seiner Ausbildung kam er in seine Heimatgegend zurück, wo er anfangs Lehrer des Lycée in Albi war und kurz darauf 1883 als Dozent für Philosophie an die Universität in Toulouse berufen wurde.

Ab 1885 engagierte er sich in der Politik und wurde für das gemäßigte republikanische Lager mit 26 Jahren als deren jüngster Abgeordneter[1] in die Nationalversammlung gewählt. Nach gescheiterter Wiederwahl 1889 nahm er wieder seine Lehrtätigkeit auf, promovierte, arbeitete bei der Zeitung La Dépêche du Midi, später beim Midi Socialiste mit und widmete sich der Lokalpolitik, wo er sich langsam immer stärker dem sozialistischen Lager zuwandte.

Ein wichtiger Schritt war dabei sein Einsatz für die 1892 streikenden Minenarbeiter von Carmaux, gegen die 1500 Soldaten mobilisiert worden waren. Unter dem Druck des Streiks und der von Jaurès hergestellten Öffentlichkeit entschied die zum Schiedsrichter bestellte Regierung im Streit zugunsten der Arbeiter. Der Marquis de Solages, Eigentümer der Mine und zugleich Abgeordneter in der Nationalversammlung, trat von seinem politischen Amt zurück, und Jean Jaurès wurde im folgenden Jahr auf den freigewordenen Sitz in die Nationalversammlung gewählt.

Von 1893 bis 1914 war Jaurès mit vierjähriger Unterbrechung linksrepublikanischer Abgeordneter in der Nationalversammlung. Er galt als glänzender Redner mit rhetorischem Geschick. Unter anderem forderte er während der Dreyfus-Affäre die Revision.

Währenddessen war Jaurès auch mit akademischen Studien beschäftigt, darunter einer 1901 veröffentlichten, für eine französische Sichtweise bemerkenswert neutralen, aber heute fast unbekannten Analyse der Gründe des Deutsch-Französischen Krieges von 1870–1871 (s. u., #Werke).

1902 gehörte Jaurès zu den Mitgründern der Französischen Sozialistischen Partei (Parti socialiste français – nicht zu verwechseln mit der Parti socialiste de France unter der Leitung von Jules Guesde, mit der sie sich 1905 zur Section française de l’Internationale ouvrière (SFIO) zusammenschloss). Zusammen mit dem späteren Minister und Ministerpräsidenten Aristide Briand gründete er 1904 deren Parteizeitung L’Humanité und leitete sie bis zu seinem Tod. Sie wurde später zum Sprachrohr der PCF.

1905 wurde Jaurès Präsident der von ihm, Jules Guesde und Édouard Vaillant wesentlich geprägten Vereinigung sozialistischer Gruppen in der Section française de l’Internationale ouvrière (SFIO). Seine Vorstellung vom Sozialismus, die auf einer humanistischen Grundlage beruhte und eine Veränderung der Gesellschaftsordnung auf parlamentarisch-demokratischem Wege anstrebte, brachte ihn in Konflikt mit dem revolutionären marxistischen Flügel der SFIO. Das Programm der SFIO war ein Kompromiss verschiedener Strömungen und enthielt sowohl marxistische Ideen und ein Bekenntnis zum Klassenkampf als auch reformerische Ziele. 1911[2] unternahm er eine Reise nach Argentinien,[2] um für seine Ideen zu werben, was dort eine nachhaltige[2] Wirkung hatte.

Als einer der profiliertesten Verfechter des Reformsozialismus auf humanistisch-pazifistischer Grundlage setzte sich Jaurès am Vorabend des Ersten Weltkrieges leidenschaftlich für die Sache des Pazifismus und gegen den drohenden Krieg ein. Bei Friedensdemonstrationen und im Parlament trat er für eine politische Verständigung mit Deutschland ein. Dafür war er bei der politischen Rechten verhasst. Sein Denken wurde von so unterschiedlichen Personen wie Pierre J. Proudhon, Auguste Blanqui, Karl Marx, Henri de Saint-Simon, Auguste Comte, Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Ferdinand Lassalle, Leo Tolstoi oder Pjotr Alexejewitsch Kropotkin geprägt.

Ermordung

Unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkrieges wurde Jean Jaurès am 31. Juli 1914 in einem Pariser Café bei einem Attentat von dem französischen Nationalisten Raoul Villain ermordet. Nach dem siegreichen Krieg und entsprechend langer Untersuchungshaft wurde der Mörder am 29. März 1919 von einer Cour d’assises (Geschworenengericht) freigesprochen. Zudem wurden die Kosten der Witwe Jaurès’ aufgebürdet.

Am 23. Dezember 1924[3] wurden Jaurès’ sterbliche Überreste unter der Anteilnahme Tausender[4] von seiner ursprünglichen Grabesstätte in die nationale Ruhmeshalle Panthéon überführt.

Werke (Auswahl)

  • Die idealistische Geschichtsauffassung. Diskussion zwischen Jean Jaurès und Paul Lafargue, gehalten im Quartier-Latin in einer öffentlichen, von der Gruppe kollektivistischer Pariser Studenten einberufenen Versammlung. Vortrag. In: Die neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens. 13.1894–95, 2. Band (1895), Heft 44, S. 545–557 fes.de
  • Die Einigung der französischen Sozialisten. In: Socialistische Monatshefte. 3 = 5 (1899), Heft 1, S. 3–9.
  • Histoire socialiste de la révolution française.
  • La guerre franco-allemande (1870–1871) (Der französisch-deutsche Krieg 1870–1871). In: Histoire socialiste ..., Bd. 11, J. Rouff, Paris 1901. 496 Seiten. gallica.bnf.fr (bislang nicht auf deutsch).
  • Aus Theorie und Praxis. Socialistische Studien. Verlag der Socialistischen Monatshefte, Berlin 1902 archive.org
  • Einbildung oder Wirklichkeit? In: Socialistische Monatshefte. 6 = 8 (1902), Heft 3, S. 163–167 fes.de
  • Discours parlementaires. É. Cornély & Cie, Paris 1904.
  • Die neue Armee. Eugen Diederichs, Jena 1913.

Rezeption

Gedenken

Der expressionistische Autor Walter Hasenclever, geboren in Aachen, schrieb zwei Gedichte auf Jaurès: Jaurès Tod und Jaurès Auferstehung, die 1916 veröffentlicht und auch in Frankreich rezipiert wurden.[5]

Kurz nach dem Mord an Jean Jaurès am 31. Juli 1914 erschien das Gedicht Jaurès zum Gedenken an ihn. Das Gedicht vom Arbeiterdichter Rudolf Lavant erschien in der Leipziger Volkszeitung am 5. August 1914. Die Todesanzeige und ein Nachruf sind am 1. August 1914 ebenfalls in der Leipziger Volkszeitung erschienen.[6]

In seinem Geburtshaus in Castres gibt es seit 1954 ein Museum.[7]

Im Gedenken an Jaurès, an seinen entschlossenen Einsatz für den Frieden und an die Verheerungen des Ersten Weltkrieges haben sehr viele Kommunen in Frankreich Straßen und Plätze nach ihm benannt. Kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden 1914 die Avenue d’Allemagne in Paris in Avenue Jean Jaurès und die nahe Métrostation Rue d’Allemagne in Jaurès umbenannt.[8] 1980 wurde im Pariser Vorort Boulogne-Billancourt eine weitere Station (Boulogne – Jean Jaurès) der Pariser Metro eröffnet, die seinen Namen trägt.[9] Auch in Lille und Toulouse tragen U-Bahn-Stationen seinen Namen. Die Université Toulouse II ist seit 2014 nach ihm benannt.

In Berlin bekam ein Abschnitt der im Ortsteil Waidmannslust des Bezirks Reinickendorf liegenden Cyclopstraße am 1. November 1987 den Namen Jean-Jaurès-Straße.[10] Mitte 2014 wurde in Neuenburg am Rhein eine entsprechende Benennung diskutiert.[11]

In Wien wurde 1919 die Jaurèsgasse und eine 1925–1926 errichtete kommunale Wohnhausanlage Jean-Jaurès-Hof benannt.

Jacques Brel widmete ihm ein Chanson mit dem Titel Jaurès (1977). Die Sozialistische Partei Frankreichs ehrte ihn, indem sie ihrer politischen Stiftung den Namen „Fondation Jean-Jaurès“ gab.

Die deutsche Autorin kroatischer Abstammung Marica Bodrožić widmet Jean Jaurès ein Prosagedicht mit dem Anfang „HÖRT MIR ZU, ich werde euch die Wahrheit sagen, schrie er, und die Wahrheit war, dass er dafür sein Leben lassen wollte.“ (Marica Bodrožić: Lichtorgeln. Gedichte, Salzburg-Wien, Otto Müller 2008, S. 103).

2014 erinnerte das französische Nationalarchiv durch eine Ausstellung im Hôtel de Soubise an Jaurès.[12] Am 31. Juli 2014 gedachte der französische Staatspräsident François Hollande gemeinsam mit dem deutschen SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel des Ermordeten.[13]

Filme

  • Jean Jaurès. Die Flamme des Sozialismus; Frankreich 2013, gesendet auf Arte am 8. Juli 2014

Literatur

  • Heinz Abosch: Jean Jaurès. Die vergebliche Hoffnung. Hrsg. von Martin Gregor-Dellin und Reinhard Merkel, Piper, München 1986, ISBN 3-492-05202-6.
  • Badische Zeitung: Eine Symbolfigur des Pazifismus. vom 20. Juni 2014.
  • Max Beer: Jean Jaurès. Sein Leben und Wirken. Verlag Internationale Korrespondenz, Berlin-Karlshorst 1915.
  • Urs Brand: Jean Jaurès. Internationalist und Patriot. In: Persönlichkeit und Geschichte, Bd. 73, Musterschmidt Verlag, Göttingen, 1973.
  • Ulrike Brummert (Hrsg.): Jaurès. Frankreich, Deutschland und die Zweite Internationale am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Narr, Tübingen 1989, ISBN 3-87808-793-4.
  • Henri Guillemin (Hrsg.): L’arrière-pensée de Jaurès. Édition d’Utovie, Bats 2000, ISBN 2-86819-723-X.
  • Hedwig Hintze: Jean Jaurès und die materialistische Geschichtstheorie. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Band 68. 1932/33. S. 194–218.
  • Hedwig Hintze (unter dem Pseudonym 'Peregrina'): Jean Jaurès und Karl Marx. In: Tijdschrift voor Geschiedenis. No. 51, 1936, S. 113–137.
  • Helmut Hirsch: Jean Jaurès als Historiker. In: derselbe: Denker und Kämpfer. Gesammelte Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 1955, S. 149–181.
  • Valérie Lecoulant: Jaurès, historien de la révolution française. Editions du Musée d’histoire vivante, Montreuil 1993.
  • Matthias Lemke: Republikanischer Sozialismus. Positionen von Bernstein, Kautsky, Jaurès und Blum. Campus, Frankfurt am Main / New York NY 2008, ISBN 978-3-593-38600-3 (Zugleich Dissertation an der Hochschule Vechta 2007).
  • Hans-Martin Lohmann: Marxismus. Campus, Frankfurt am Main 2001, S. 71 f., ISBN 3-593-36777-7 (= Campus Einführungen).
  • Jost Meyen: Jean Jaurès. Ein Leben für den Frieden. Neuenburg 2018, ISBN 9783738650266
  • Arno Münster: Die Glocken von Basel. der Freitag, 13. August 2014.
  • Else Peerenboom: Jean Jaurès. Freiburg i.Br. 1921, OCLC 252225183 (Zugleich Dissertation an der Universität Freiburg im Breisgau 1921).
  • Madeleine Rebérioux Jaurès: la parole et l’acte, Gallimard, 1994 (französisch).
  • Jean-Pierre Rioux: Jean Jaurès. Perrin, Paris 2006, ISBN 2-262-01295-4 (französisch).
  • Victor Schiff (Hrsg.): Die Stimme aus dem Grabe. Reden von Jean Jaurès (Originaltitel: La Voix d’outre-tombe). Singer, Berlin 1919 (DNB 574092595).
  • Volker Ullrich: Krieg dem Krieg. In: Die Zeit, Nr. 37/2009; zum 150. Geburtstag von Jaurès.
  • Marc Zitzmann: Hundert Jahre Heiligkeit. Jean Jaurès am 31. Juli 1914 ermordet. In: NZZ, 31. Juli 2014
  • Stefan Zweig: Jaurès. In: Kurze Texte über historische Persönlichkeiten, 1916

Weblinks

Wikisource: Jean Jaurès – Quellen und Volltexte (französisch)
Wikisource: Jean Jaurès – Quellen und Volltexte
Commons: Jean Jaurès – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Ruth Jung: Warum haben sie Jaurès getötet? Deutschlandfunk, Kalenderblatt, 31. Juli 2014 (31. Juli 2014)
  2. a b c Alain Rouquié: Amérique latine – Introduction à l’Extrême-Occident. In: Points Essais. 2. Auflage. Nr. 373. Éditions du Seuil, Paris 1998, ISBN 978-2-02-020624-2, S. 177 (ouvelle édition revue et augmentée).
  3. Chronologie
  4. Kurt Tucholsky, Weltbühne. In: Ruth Jung: Warum haben sie Jaurès getötet? Deutschlandfunk, Kalenderblatt, 31. Juli 2014
  5. Walter Hasenclever: Lyrik. In: Annelie Zurhelle und Christoph Brauer (Hrsg.): Sämtliche Werke. Band 1. v.Hase & Köhler, Mainz 1994, ISBN 3-7758-1306-3, S. 203–205.
  6. (Seite 1 und Seite 3)
  7. Musée Jean Jaurès
  8. Gérard Roland: Stations de métro d’Abbesses à Wagram. Christine Bonneton, Clermont-Ferrand 2011, ISBN 978-2-86253-382-7, S. 122.
  9. Gérard Roland: Stations de métro d’Abbesses à Wagram, S. 67.
  10. Jean-Jaurès-Straße. In: Straßennamenlexikon des Luisenstädtischen Bildungsvereins (beim Kaupert). Die Straße liegt an einem damaligen Wohngebiet der französischen Truppen.
  11. Friedenskämpfer wird Namenspate. In: Badische Zeitung, 23. Juli 2014 (Link folgt, derzeit nicht erreichbar: 30. Juli 2014)
  12. Angaben auf der Seite des Nationalarchivs (Memento vom 10. August 2014 im Internet Archive), abgerufen am 31. Juli 2014
  13. Meldung zum Gedächtnis. nouvelobs.com, 31. Juli 2014, abgerufen am 31. Juli 2014