Pastoralmacht

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Pastoralmacht ist nach Michel Foucault eine insbesondere christliche-religiöse Machttechnik, die mit dem Aufspüren einer „inneren Wahrheit“ – beispielsweise durch Techniken der Versprachlichung (Diskursivierung) – einhergeht, wie in der christlichen Beichte. Die Funktion der Pastoralmacht besteht in der Beförderung einer Subjektwerdung (Subjektivierung). Dieser Prozess führt zu einer Unterwerfung („Subjektivation“ von lat. sub-iacere) des Individuums unter die gesellschaftlichen Verhältnisse, wie dies schon Louis Althusser, einer von Foucaults Lehrern, beschrieben hatte. Im Laufe der Entwicklung der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft wurde Pastoralmacht säkularisiert und spielt nach Foucault eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung und Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Dieser Machttechnik liegt die Konzeption einer „Regierung der Seelen“ zugrunde, wie sie sich in der Metapher der Beziehung von Hirte (lateinisch Pastor) und Herde findet.[1]

Foucault legt Wert auf den Unterschied zu antiken Techniken der Selbstsorge. Während in der Antike der Meister, der Pädagoge, zur Wahrheit führte, konnte im Christentum das Individuum die Wahrheit nur in sich entdecken: „das Christentum koppelt die Psychagogik von der Pädagogik ab und fordert von der psychagogisierten und geführten Seele, dass sie eine Wahrheit sagt, die nur sie sagen kann, die nur sie besitzt und die zwar nicht das einzige, aber eines der fundamentalen Elemente jener Operation ist, durch die seine Seinesweise verändert werden wird; und genau darin besteht dann das christliche Geständnis.[2]

Michel Foucault wollte seine Buchreihe „Sexualität und Wahrheit“ (1975/1984) mit einem Band zur „Herausbildung der Doktrin und der Pastoral des Fleisches“ abschließen.[3] Die Pastoralmacht wird hier zentral behandelt. Dieser vierte Band („Die Geständnisse des Fleisches“) ist jedoch erst vor kurzem posthum veröffentlicht worden.[4]

Pastoralmacht in der geschichtlichen Entwicklung

Mit der Hervorhebung des Prinzips des Erkenne dich selbst wurde nach Foucault der Aufstieg des Christentums zu einer herrschaftlichen Religion möglich. Die antike Form der Selbstkultur, ausgedrückt in dem Anspruch einer Sorge um sich (‚Selbstsorge‘), rückte in den Hintergrund.[5]

Im christlichen Mittelalter vollzogen sich die Subjektivierungstechniken in Form von Leitung und Kontrolle.

Die Pastoralmacht wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Zuge der Kasernierungen (Gefängnisse, Militärkasernen, Schulen, Fabriken) durch nichtkirchliche Institutionen übernommen und insbesondere im Gefolge der Herausbildung der Humanwissenschaften, vor allem der Psychologie und Psychoanalyse „säkularisiert“ und veränderte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer neuen Machtkonfiguration, welche Foucault „Biomacht“ nennt. „In gewisser Hinsicht kann man den modernen Staat als eine Individualisierungs-Matrix oder eine neue Form der Pastoralmacht ansehen.[6] Der moderne, sich säkularisierende Staat fungiert mit Hilfe des Pastoratsgedankens als „eine verwickelte Kombination von Individualisierungstechniken“[6].

Mit der Transformation der Regierungsziele bildeten sich auch äußerst heterogene Regierungskünste aus, die in der neoliberalen Gouvernementalität das individuelle Interesse mit dem staatlichen Interesse in eins setzen. Damit wird die dichotome Trennung zwischen Staat und Individuum zugunsten des ‚zivilgesellschaftlich fähigen Bürgers' aufgehoben. Dieser ist Hirte seiner selbst – also sich selbst gegenüber rechenschaftspflichtig und verantwortlich für das Erlangen seiner individuell gesetzten Ziele und Zufriedenheit. Er wird außerdem über die Ansprache und Anrufung einer individuellen Sorge gesellschaftlich integriert. Sich selbst als politisches Subjekt zu erkennen, an gesellschaftlichen Prozessen zu partizipieren und Verantwortung, nicht nur für das individuelle Wohlergehen, sondern auch für die soziale Ordnung zu übernehmen, steht innerhalb der politischen Ordnung des Neoliberalismus, die auf den Zerfall der Integrationsfähigkeit des traditionellen kapitalistischen Wirtschafts- und Sozialsystems antwortet. Gleichwohl ist in der neoliberalen Gouvernementalität der Wille zum Regieren nicht obsolet geworden, vielmehr ist das Subjekt selbst Objekt des Regierens, aber nun in der Form, dass es sich selbst zum Gegenstand und Mittel der Regierungspraxis macht: Das Interesse als Bewußtsein jedes einzelnen Individuums, das mit den übrigen die Bevölkerung bildet, und das Interesse der Bevölkerung – ganz gleich, was die individuellen Interessen und Bestrebungen derer, aus denen sie sich zusammensetzt, sein mögen – sind Zielscheibe und das Hauptinstrument der Regierung der Bevölkerung.[7]

Rezeption

Pastoralmacht ist ein zentraler Begriff in der Theologie von Hans-Joachim Sander.[8]

Siehe auch

Literatur

  • Michel Foucault: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3. Frankfurt am Main 1989
  • Michel Foucault: Das Subjekt und die Macht. In: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt am Main 1987, S. 243–261.
  • Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1982). Nachschrift und Übersetzung von Helmut Becker in Zusammenarbeit mit Lothar Wolfstetter. In: Michel Foucault: Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorlesung 1982. Frankfurt a. M. 1985, ISBN 3-88535-102-1
  • Hermann Steinkamp: Seelsorge als Anstiftung zur Selbstsorge. Lit-Verlag, 2005, ISBN 978-3825875527
  • Torsten Junge: Selbstführung als postpastorale Macht. In: Malte-Christian Gruber, Sascha Ziemann (Hrsg.): Die Unsicherheit der Väter. Zur Herausbildung paternaler Bindungen, Berlin 2009, S. 305ff., ISBN 978-3-89626-8860.

Einzelnachweise

  1. Thomas Lemke: Gouvernementalität (PDF-Datei; 130 kB)
  2. Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts, S. 60.
  3. Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit Band 2, S. 20.
  4. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Vierter Band. Die Geständnisse des Fleisches, hrsg. von Frédéric Gros, Verlag Suhrkamp, Berlin 2019, ISBN 978-3-518-58733-1.
  5. Torsten Junge: Selbstführung als postpastorale Macht, In: Malte-Christian Gruber, Sascha Ziemann (Hrsg.), Die Unsicherheit der Väter. Zur Herausbildung paternaler Bindungen, Berlin 2009, S. 305ff.
  6. a b Michel Foucault: Das Subjekt und die Macht, S. 249.
  7. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität, S. 158f.
  8. Vgl. z. B. https://www.feinschwarz.net/coronakrise-und-pastoralmacht-kirche/

Weblinks