Quelltext der Seite Hypothese der somatischen Marker

[[Datei:Ventromedial prefrontal cortex.png|mini|Lage des ventromedialen [[Präfrontaler Cortex|präfrontalen Cortex]]]]
Die '''[[Hypothese]] der somatischen Marker''' (auch '''Somatische-Marker-Hypothese''', {{enS}}: ''somatic marker hypothesis'', kurz '''SMH'''; vom [[Griechische Sprache|griechischen]] ''soma'' für Körper) ist eine Theorie der [[Neurobiologie]] über [[mensch]]liches [[Entscheidung]]sverhalten. Nach der SMH sind [[Emotion|emotionale]] [[Erfahrung]]en im Menschen verkörperlicht und beeinflussen so Entscheidungen. Formuliert wurde die SMH von [[António Damásio]]. Somatische Marker sind im ventromedialen [[Präfrontaler Cortex|präfrontalen Cortex]] (PFC) verortet.

== Begriffsgeschichte  ==
[[Datei:Phineas gage - 1868 skull diagram.jpg|mini|Zeichnung der Kopfverletzung von Phineas Gage (1868)]]
Ursprung der Hypothese der somatischen Marker ist die [[Beobachtung]] von [[Patient]]en, deren [[Frontallappen]] durch einen Unfall o.&nbsp;Ä. geschädigt wurde. Betroffene einer solchen [[Läsion]] zeigen – bei gleichbleibender [[Intelligenz]] – oft eine grundlegende Veränderung im [[Verhalten (Psychologie)|Verhalten]].

Berühmt ist der Fall des [[Phineas Gage]], dessen Kopfverletzung im [[19. Jahrhundert]] aus einem freundlichen Mitmenschen eine ungeduldige und leicht [[Irritation|irritierbare]] Person machte. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts berichtete António Damásio in einer [[Wissenschaftliche Publikation|wissenschaftlichen Publikation]] von einem Patienten, in dessen ventromedialen präfrontalen Cortex ein [[Hirntumor|Tumor]] entdeckt und dann entfernt wurde. Die Person – 35 Jahre alt, intelligent und mit funktionierendem sozialen Umfeld – entwickelte Schwierigkeiten Entscheidungen zu treffen. Alltägliche Situationen, etwa die Wahl der Kleidung oder eines Restaurants, wurden nur mühsam bewältigt, obwohl jede Option korrekt beschrieben werden konnte. [[Intelligenztest|Intelligenz-]] und [[Neurophysiologie|neurophysiologische]] Untersuchungen bestätigten weiterhin die Intelligenz des Patienten, der aber nicht weiter über die [[Implikation|implizite]] Bedeutung verfügen konnte und so auf eine aufwändigere Betrachtung zurückgreifen musste.<ref group="A">Nach [[Peter Kenning]]s „Consumer Neuroscience“ wird von A. R. Damasio, D. Tranel, H. Damasio: ''Individuals with sociopathic behavior caused by frontal damage fail to respond autonomically to social stimuli.'' (In: ''Behavioural brain research.'' Band 41, Nummer 2, Dezember 1990, S.&nbsp;81–94, PMID 2288668.) „manifeste“ von „impliziter“ Bedeutung unterschieden.</ref>
[[Datei:Antonio Damasio.jpg|mini|António Damásio (2008)]]
António Damásio leitete daraus ab, dass in dem verletzten ventromedialen präfrontalen Cortex „somatische Marker“ nicht weiter abgerufen werden könnten, die sonst bei Entscheidungen aktiviert würden. Diese „somatischen Marker“ entstünden aus bereits erworbenen Erfahrungen, die Alternativen und Konsequenzen einer Handlung – mit einer positiven oder negativen Emotion behaftet – körperlich „markieren“.<ref name="cn" />

{{Zitat|
I propose that the ventromedial prefrontal cortex establishes a simple linkage, a memory in fact, between the disposition for a certain aspect of a situation […] and the disposition for the type of emotion that in past experience has been associated with the situation.<ref name="ulf" />
|Übersetzung= Ich behaupte, dass der ventromediale präfrontale Cortex eine einfache Verknüpfung, eine Erinnerung vielmehr, schafft, zwischen der Disposition eines bestimmten Aspekts einer Situation und der Disposition für eine Art der Emotion in der Vergangenheit, die mit der Situation [[Assoziation (Psychologie)|assoziiert]] wird.}}

[[Evolution]]ärer Vorteil einer [[Entscheidung]] mit Unterstützung der oder durch die somatischen Marker sei die deutlich höhere Geschwindigkeit, mit der Abwägungen auf Basis eben schon vorhandener Erfahrungen getroffen werden – mittels einer arbeitsintensiven [[Analyse]], wie im oben skizzierten Fall, die viele kognitive Ressourcen (wie [[Aufmerksamkeit]] oder [[Arbeitsgedächtnis]]) einbinde, würden [[Heterogenität|heterogene]] Informationen deutlich später zur Entscheidungsfindung verfügbar sein.<ref name="ulf" />

== Somatische Marker ==
Nach Damásio sind [[Emotion]]en und [[Fühlen (Psychologie)|Gefühle]] zu unterscheiden. Emotionen stellen die Veränderungen im Gehirn oder im Körper dar und können in primäre und sekundäre Emotion untergliedert werden. Primär sind Emotionen, die „durch feste, angeborene Stimulussituation [[subkortikal]] ausgelöst werden können“ (diese werden in der [[James-Lange-Theorie]] beschrieben). Diese Assoziationen sind im ventromedialen präfrontalen Cortex (VMPFC) zu finden.

Sekundär sind Emotionen, die auf Erfahrungen basieren und – der [[Konditionierung]] entsprechend – in Verbindung zu den primären Emotionen stehen.

Gefühle sind die Wahrnehmung dieser Veränderungen.<ref name="ulf" />

=== Funktionsweise der somatischen Marker ===
Somatische Marker können, analog zum [[Wissen]] und zu den Emotionen, angeboren oder erworben sein.

Grundsätzlich werden, nachdem im VMPFC Assoziationen gegeben sind, Aktivitäten in [[Amygdala]] oder ventralen [[Inselrinde|Insula]] ausgelöst, was Aktivität im [[Hypothalamus]], in der [[Gyrus cinguli|Gürtelwindung]] des limbischen Systems und im [[Hirnstamm]] bewirkt.

=== Primäre und sekundäre Auslöser ===
[[Stimulus|Stimuli]], die unmittelbar angenehme oder unangenehme körperliche Zustände bewirken, zählen zu den primären Auslösern ''(inducers)''. Beispiele sind die positiven Reaktionen auf den Erhalt von Geld oder einer guten Bewertung gegenüber beispielsweise dem Verlust von Gütern.
Davon abgegrenzt sind sekundäre Auslöser, die sich auf die Stimuli der primären Auslöser beziehen. Diese [[Vorstellung]]en, [[Gedanke]]n oder [[Erinnerung (Psychologie)|Erinnerung]]en eines solchen Auslösers selbst bewirkten eine entsprechende Reaktion.

=== „Körper-Schleife“ und „Als-ob-Körper-Schleife“ ===
Die Wirkung der somatischen Marker kann auf zwei unterschiedliche Arten stattfinden, in der „Körper-Schleife“ ''(body loop)'' und in der „Als-ob-Körper-Schleife“ ''(as-if body loop)''.

Im ''body loop'' werden Veränderungen der [[Physiologie]] des [[Menschlicher Körper|menschlichen Körpers]], die im Laufe der Entwicklung des Menschen mit einer Emotion verknüpft wurden, direkt in eine Reaktion verarbeitet. Im ''as if body-loop'' werden die körperlichen Veränderungen vom Gehirn „konstruiert“ und lösen dann die Reaktion aus.

== Überprüfung ==
[[Datei:IowaGamblingTask.gif|mini|Visualisierung des „Iowa Gambling Task“-Spielkonzeptes]]
Zur [[Empirie|empirischen]] Überprüfung der SMH gibt es verschiedene Methoden. Weitreichend [[Zitat#Wissenschaftliche_Zitierrichtlinien|zitiert]] wird die [[Iowa Gambling Task]] von [[Antoine Bechara]], [[António Damásio|António]] & [[Hanna Damásio]] und Steven Anderson.<ref name="iowa" /> Darüber hinaus fanden Bestätigungen der SMH durch Studien mit [[Funktionelle Magnetresonanztomographie|funktioneller Magnetresonanztomographie]] und anderen Versuchskonzepten statt.<ref name="cn" />

== Siehe auch ==
*[[Facial-Feedback-Hypothese]]
*[[Power Posing]]

== Literatur ==
* António R. Damásio: ''Descartes’ Irrtum – Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn'', [[Ullstein Verlag|List-Verlag]], München 1994, ISBN 3-471-77342-8.

* [[Maja Storch]]: Das Geheimnis kluger Entscheidungen: Von Bauchgefühl und Körpersignalen, [[Piper]] Taschenbuch; 12. Edition 2011, ISBN 978-3492264082

== Weblinks ==
* Barnaby D. Dunn, Tim Dalgleish, Andrew D. Lawrence [http://cel.huji.ac.il/courses/structureandprocesses/Bibliography/Somatic_Marker_%202006.pdf The somatic marker hypothesis: A critical evaluation]
* Ulf Hlobil: [http://psydok.psycharchives.de/jspui/bitstream/20.500.11780/609/1/Hlobil_2008_Eine_theoretische_Kritik_der_SMH.pdf Eine theoretische Kritik der Somatischen Marker Hypothese Antonio Damasios]
* [http://neurorelay.com/2012/05/15/emotions-create-our-preferences-the-somatic-marker-hypothesis/ Emotions Create Our Preferences: The Somatic Marker Hypothesis]

== Anmerkungen ==
<references group="A" />

== Einzelnachweise ==
<references>
<ref name="cn">[[Peter Kenning]]: ''Consumer Neuroscience – ein transdisziplinäres Lehrbuch'', [[Kohlhammer Verlag]], Stuttgart 2014, ISBN 978-3-17-020727-1.</ref>
<ref name="ulf">Ulf Hlobil: [http://psydok.sulb.uni-saarland.de/frontdoor.php?source_opus=2532&la=de Eine theoretische Kritik der Somatischen Marker Hypothese Antonio Damasios], [[Magister]]arbeit, 14. September 2008.</ref>
<ref name="iowa">B. D. Dunn, T. Dalgleish, A. D. Lawrence: ''The somatic marker hypothesis: a critical evaluation.'' In: ''Neuroscience and biobehavioral reviews.'' Band 30, Nummer 2, 2006, S.&nbsp;239–271, {{DOI|10.1016/j.neubiorev.2005.07.001}}, PMID 16197997 (Review). Abgerufen am 31. Januar 2016.</ref>
</references>

[[Kategorie:Neuropsychologie]]
[[Kategorie:Emotion]]