Benutzer:Carodan/DasEinhorn(Roman)

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Der 1966 veröffentlichte Roman Das Einhorn ist Martin Walsers dritter Roman und der zweite Teil der Anselm-Kristlein-Trilogie, welche zudem die Werke Halbzeit (1960) und Der Sturz (Roman) (1973) umfasst. Der Roman baut auf dem ersten Teil Halbzeit auf und schließt an dessen Handlungsverlauf an. In Das Einhorn wird die von kapitalistischen und individualistischen Mustern geprägte, fiktive Gesellschaft der sechziger Jahre aus der Perspektive der Hauptperson Anselm Kristlein, welche gleichzeitig als Erzähler fungiert, dargestellt.

Handlung

Einleitung

Das Einhorn setzt sich aus zwei Handlungssträngen zusammen, der Rahmenhandlung und der inneren Handlung. In der Rahmenhandlung schreibt die Hauptperson Anselm Kristlein ein Sachbuch über die Liebe. Auf der metafiktionalen Ebene wird der Inhalt des Buches wiedergegeben.[1]

Kapitel 1

Das erste Kapitel ist betitelt mit „Lage I“[2]. Es enthält drei Unterkapitel. Dem Leser wird darin die klägliche Situation des Protagonisten erläutert, der nach den Geschehnissen, welche er in den darauffolgenden Kapiteln erzählt, im Bett liegt. Anselm Kristlein hat sich dazu entschlossen eine Krankheit vorzutäuschen, um nicht mehr aus dem Bett aufstehen zu müssen.

Kapitel 2

Das zweite Kapitel trägt den Titel „Der Auftrag“[3]. In sieben Unterkapiteln wird die Eingliederung Anselms in die Münchner Gesellschaft beschrieben, welche ihren Höhepunkt in einem Fest hat, das Hans Beumann, ein in München bekannter Filmregisseur, gibt. Dieser ist befreundet mit Freunden der Familie Kristlein, daher sind sie zu dem Fest eingeladen. Das Fest gibt dem Leser Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse der beschriebenen Schicht und führt dazu, dass Anselm Kristlein durch eine auf dem Fest geschlossene Bekanntschaft zu einem neuen Arbeitsverhältnis gelangt. Er bekommt einen Schreibauftrag von einer schweizerischen Verlegerin, namentlich Melanie Sugg. Der Auftrag für das Buch beruht auf der Kenntnis der Verlegerin über Anselms erstes Buch, welches in Halbzeit eine zentrale Rolle spielt und zudem den Umzug der Familie Kristlein, aufgrund Birgas (in Halbzeit Alissa) Unbehagen weiterhin in Stuttgart zu wohnen, verursacht hat. Wichtig zu erläutern ist hierbei, dass Anselm den Arbeitsvertrag dringend braucht, da er arbeitslos ist. Zudem hat er zu Birgas Überdruss einen Jaguar gekauft, den die Familie sich nicht leisten kann. Anselm reist nach Zürich und schließt den Vertrag über das Buch mit Melanie Sugg ab. Die Bedingungen für das Buch sind folgende: Es soll ein Buch über Liebe sein, welches nur die Realität widerspiegelt, es soll kein Roman im traditionellen Sinne, sondern eher ein Sachbuch über sexuelle Erfahrungen aus der Sicht des Autors, Anselm Kristlein, sein. Eine erste Erfahrung, an der er sich orientieren kann, wird ihm durch die Verlegerin vorgegeben. Diese schickt ihm ironischerweise ein Skript von der Nacht, die Anselm mit ihr im Hotel in Zürich verbracht hat, als er den Auftrag angenommen hat.

Kapitel 3

Im nächsten Kapitel „Wörter für die Liebe“[4] beginnt Anselm den „Entwurf eines Sachromans“[5] zu schreiben, in welchem er selbst als Held seiner Geschichte in Deutschland herumreist und an Diskussionen teilnimmt. Die Diskussionen sind politischer Art. Anselm nimmt in verschiedenen Gesprächsrunden verschiedene Meinungen ein, ist quasi ein Lückenfüller, welcher nur am Geschehen teilhat, um es interessanter zu gestalten. Auf seinen Reisen lernt er verschiedene Frauen kennen, mit denen er sexuelle Verhältnisse hat. Im Zug auf dem Weg von Stuttgart nach Duisburg beschreibt Anselm zum einen Teil politische Geschehnisse, welche er in Zeitungen liest und zum anderen verschiedene Passagiere. Angekommen in Duisburg verspürt er den Drang eine Frau namens Barbara anzurufen, die seinem Notizbuch zufolge nach Duisburg gezogen ist und welche er zu seiner Podiumsdiskussion einlädt.[6] Vor der Podiumsdiskussion lernt er allerdings Barbara Salzer kennen, die als Sekretärin arbeitet und Anselm zur Podiumsdiskussion in Duisburg geleitet. Im Anschluss an die Diskussion gehen die Teilnehmer in ein Lokal. Anselm verhofft sich eine Chance darauf mit Barbara Salzer die Nacht zu verbringen, wird jedoch von ihr abserviert und muss sich auf ein Treffen am nächsten Tag vertrösten lassen. Verstimmt von der Begegnung betrinkt er sich und geht spät ins Hotel, wo auf ihn an seiner Zimmertür schlafend, seine alte Bekanntschaft Barbara wartet. Er nimmt sie mit aufs Zimmer, wobei er jedoch nicht mehr in der Lage ist ihre sexuellen Bedürfnisse zu stillen und vertröstet sie daher auf den darauffolgenden Tag, hält diese Verabredung jedoch nicht ein.

Am nächsten Tag trifft er sich jedoch mit Barbara Salzer und fährt mit ihr nach Bielefeld zu einer Diskussion und daraufhin nach Düsseldorf in ihre Wohnung. Anselm schiebt an dieser Stelle eine Zwischenbemerkung für die Verlegerin Melanie Sugg ein und erklärt ihr ausführlich, dass er nicht dafür geschaffen ist sexuelle Erlebnisse in ihrer Ausführlichkeit zu schildern. Er fährt daher fort die Geschichte Barbara Salzers zu erzählen und schildert ihre heimliche Beziehung zu einem reichen Bankier, die recht kompliziert zu sein scheint. Barbara Salzer enttarnt sich als versessen in Anselm und will ihn gar nicht mehr gehen lassen, sperrt Anselm ein und lässt ihn nur wiederwillig gehen.

Das vorerst letzte Kapitel Anselms Buch beschreibt die Heimkehr zu seiner Frau. Im dritten Unterkapitel des dritten Kapitels befragt Anselm seine Frau zu dem bisher verfassten Romanteil. Im vierten Unterkapitel erläutert er zunächst eine wichtige Eigenschaft seiner selbst, nämlich die Aufgespaltenheit in verschiedene Persönlichkeiten. Er nennt sich selbst „Dividuum“[7]. Er erfährt in diesem Kapitel von dem Protokoll, welches ihm Melanie Sugg von ihrer gemeinsamen Nacht zuschickt und schreibt daraufhin ein weiteres Kapitel in seinem Buch mit dem Titel „Eine gewöhnlich verlaufene Reise (Fortsetzung. Februar 1962)“[8] in dem er über seine Reise nach Zürich berichtet. Anselm erhält im darauffolgenden Unterkapitel einen Brief von Melanie Sugg, indem sie klarstellt, dass sein bisheriger Roman nichts mit Liebe zu tun hat und dass er an dieser Tatsache etwas ändern muss. Sie schlägt ihm einen Aufenthalt im Seehaus von Blomich vor, wo er ungestört arbeiten kann.

Kapitel 4

Das vierte Kapitel „Vergangenheitsform für einen Sommer“[9] ist örtlich an das Seehaus Blomichs am Bodensee gebunden. Anselm verbringt seine Zeit dort, beobachtet das Geschehen und vergisst darüber an seinem Roman weiterzuarbeiten, verkehrt aber mit den zahlreichen Gästen, die im Seehaus Blomichs eingeladen sind, sowie mit Blomich selbst. Melanie Sugg reist ebenfalls an den Bodensee, scheinbar um Anselm Gesellschaft zu leisten, damit dieser der Geliebten Blomichs, Rosa, nicht zu nahe kommt. Diese scheint jedoch nicht so sehr an Blomich, sondern an Anselm interessiert zu sein und lässt ihn dies bei einem gemeinsamen Essen in der Villa durch Berührungen unter dem Tisch merken.[10] Anselm seinerseits hofft, dass Blomich davon nichts mitbekommt, da er ihn insgeheim zu dem neuen Helden seines Romanes machen will. Blomich, Rosa, Melanie Sugg und Anselm verbringen den Tag gemeinsam, zuerst im Kasino und später verbringt Anselm die halbe Nacht mit seiner Verlegerin. Am nächsten Morgen wieder in seinem eigenen Bett schleicht sich Rosa in sein Zimmer und überrascht Anselm. Dieser lässt sich von ihr in die Rolle des Sex-Experten drängen. Da er ja ein Buch darüber schreibt und sie Teil dieses Buches sein will überredet sie ihn mit ihr zu schlafen. An den nächsten Tagen reisen verschiedene Gäste an, welche zu einem Fest geladen sind, das Blomich in seiner Villa gibt. Unter den Gästen befindet sich auch NDB, welcher schon in München auf der Feier Hans Beumanns mit seiner auffallenden Persönlichkeit für großes Aufsehen gesorgt hat. Er ist Opernkomponist und eine Art Ehrengast auf jeder Feier, da die Leute zu ihm aufschauen. Die Beschreibung des Fests zeigt deutlich, dass NDB und Rosa die Protagonisten dieses sind. Es wird erläutert, wie die restlichen Besucher sie belagern. Rosa versucht bei Tisch NDB’s Aufmerksamkeit zu erhaschen, scheitert jedoch und wird von NDB bloßgestellt. Darauf entschuldigt sie sich und entfernt sich vom Fest. Im weiteren Verlauf des Festes kommt es zu einer Prügelei zwischen den Fahrern der Gäste. Diesen wurde gestattet zu trinken, woraufhin es zu besagter Prügelei kommt, die durch Herrn Blomichs Gäste geschlichtet wird. Das Kapitel endet mit dem Ende der Feier und einer kurzen Beschreibung des nächsten Tages aus der Sicht Anselms. Am Tag darauf trifft im Seehaus eine neue Gruppe von Arbeiterinnen der Fabrik Blomichs ein, die ihre Ferien dort verbringen.

Kapitel 5

Im vorletzten und fünften Kapitel mit dem Titel „Nachruf“[11] wird beschrieben, wie Anselm wieder in seinem Bett liegt. Er erzählt rückwirkend, wie er Orli in der Nähe der Blomich-Villa kennenlernt und sie zu erobern versucht, obwohl diese mit ihrem Freund Bamber zum Bodensee gekommen ist und dort mit ihm zeltet. Es gelingt Anselm, Orli von ihm zu überzeugen und bringt Bamber so dazu abzureisen. Anselm verbringt seine Tage daraufhin mit Orli auf dem Campingplatz, macht mit ihr eine Motorradtour bis nach Ramsegg seinem Heimatort und geht mit ihr an den Strand. Die beiden sind verliebt, sagen sich gegenseitig Gedichte auf und wohnen auf dem Campingplatz. Als es dann jedoch Herbst wird und alle abreisen, reist Orli ebenfalls ab und lässt Anselm zurück. Anselm kehrt daraufhin wieder zu Blomich zurück und trifft dort seine Verlegerin. Melanie Sugg lässt ihn wissen, dass er nicht mehr schreiben muss, da sie ihren Roman jetzt in die Hände viel offenerer Amerikaner gelegt hat, welche ebenfalls in Blomichs Villa untergebracht werden. Sie bezahlt Anselm jedoch weiterhin, allerdings für Sex und nicht für das Schreiben. Als dann jedoch eine Orgie im Haus Blomichs von den Amerikanern geplant wird, steht Anselm nicht der Sinn danach und reist ab, nach München.

Kapitel 6

Im letzten Kapitel „Lage II“[12] liegt Anselm in seinem Bett und denkt nach. Besonders werden seine Gedanken über Orli in diesem Kapitel erläutert. Das Buch endet mit dem insgeheimen Versprechen Anselms an Birga, dass er sich eine neue Arbeit sucht, da die Verlegerin Melanie Sugg ihn nicht weiter bezahlt.

Personen

Anselm Kristlein

Er stellt die Hauptperson des Romans, sowie der Trilogie dar. Gleichzeitig fungiert er als Erzähler des Romans, sowie seines Buches, in dem er in der dritten Person über sich selbst schreibt. Anselm, der in Halbzeit noch Vertreter und Werbetexter von Beruf war wird in Das Einhorn Schriftsteller. Er bekommt den Auftrag ein Buch über Liebe zu schreiben, scheitert jedoch bei dem Versuch. Er macht sich selbst zum Protagonisten seines Buches und ist auf dieser metafiktionalen Ebene ebenfalls Schriftsteller, jedoch verdient er sein Geld mit Podiumsdiskussionen. Anselm ist verheiratet und hat vier Kinder (Lissa, Drea, Phillip und Guido). Seine Frau hat sich nach dem Umzug von Stuttgart nach München umbenannt und heißt nun nicht mehr wie in Halbzeit Alissa, sondern Brigitte bzw. Birga. Anselms Charakter zeichnet sich durch seine Aufgespaltenheit aus. Er versucht in jeder Situation auf alles vorbereitet zu sein und funktioniert im Umgang mit anderen Menschen wie eine Maschine, da er zu strategisch und zu wenig mit Herz handelt. Dieser Charakterzug scheint durch sein Berufsleben (ehemaliger Vertreter) auch in sein Privatleben eingedrungen zu sein. Anselm, der sich selbst als Held für seinen Roman auswählt, hat in diesem Sinne nicht wirklich heldenhafte Charakterzüge. Er sticht nicht aus der Masse hervor, sondern passt sich ihr eher an. Daher kann man ihn eher einen Antihelden, als einen Helden nennen.

Birga Kristlein

Birga ist Anselms Frau. Sie hat sich mit dem Umzug von Stuttgart nach München umbenannt, damit niemand, der Anselms ersten Roman gelesen hat, sie wiedererkennt. Sie hat eher eine nebensächliche Funktion im Roman. Obwohl Anselm sie mehrere Male mit anderen Frauen betrügt, nimmt sie dies hin.

Melanie Sugg

Ist Verlegerin und kommt aus der Schweiz, aus Zürich. Anselm lernt sie auf einer Party von Hans Beumann in München kennen. Sie macht ihm daraufhin ein Angebot ihn als Schriftsteller anzustellen. Anselm nimmt das Angebot an und versucht für sie ein Buch über Liebe zu schreiben. Gleichzeitig ist Melanie Sugg jedoch auch an Anselm selbst interessiert. Das Arbeitsverhältnis beruht also nicht nur auf dem Verfassen des Buches, sondern auch auf sexuellen Aspekten.

Hans Blomich

Ist Fabrikant. Er besitzt eine Süßwarenfabrik und eine Villa am Bodensee. Die Villa spielt eine entscheidende Rolle im Buch, da sich ein Großteil der Handlung dort abspielt.

Hans Beumann

Er ist Filmregisseur, scheint jedoch nicht sehr erfolgreich zu sein. Er gibt eine große Party in seinem Haus in München und ist auch geladener Gast im Hause Blomichs.

Rosa

Ist eine junge Frau, die zu Anfang des Romans als Geliebte Blomichs dargestellt wird. Mehr und mehr stellt sich aber heraus, dass diese Blomich mit mehreren Männern hintergeht, sowie auch mit Anselm und schlussendlich mit einem Rennradfahrer nach Zürich geht.

Orli (Aurelia Laks)

Ist ebenfalls eine junge Frau. Anselm lernt sie am Bodensee kennen und verliebt sich in sie. Orli ist surinamesischer Herkunft und wohnt in den Niederlanden. Sie spricht Englisch mit Anselm. Obwohl Anselm und sie ineinander verliebt sind, endet die Geschichte so, dass beide auseinandergehen.

NDB (Nacke Dominick Bruut)

Ist Komponist und wird in das Einhorn als Superstar dargestellt. Er wird auf jede Party eingeladen, hält die längsten Reden und ist sehr erfolgreich. Er steht als Symbol für Erfolg und für den Aufstieg in den elitären Kreis der Gesellschaft.

Themen

In Das Einhorn werden die Themen Gesellschaft, Schreiben und Erinnern, sowie das Thema Liebe ausführlich vom Autor behandelt.

Gesellschaft

Die Gesellschaft, die in Martin Walsers Werk das Einhorn beschrieben wird, ist eine starre Klassengesellschaft. Die Mehrheit der Personen im Buch gehören der gehobenen Schicht an. Die untere Gesellschaftsschicht wird nur am Rande erwähnt und immer wieder in Zusammenhang mit ihren Arbeitgebern gebracht. Es sind Fabrikanten, Industrielle, Autoren, Regisseure, Komponisten, welche Walser in Einhorn zu seinen Hauptpersonen macht. Heike Doane schreibt in Bezug auf diesen Aspekt „In Ehen in Phillipsburg und in Halbzeit werden hauptsächlich die Protagonisten der Gesellschaft vorgeführt, und diese Darstellungsweise, die am Verhalten der gesellschaftlichen Elite die Mängel des Systems aufzeichnet, findet im Einhorn ihren Höhepunkt.“[13]

Dass Walser Kultur und Wirtschaft durch seine Personenauswahl in Zusammenhang bringt scheint kein Zufall zu sein. Anthony Waine wertet Einhorn darum als „provozierende Satire auf den der Dekadenz verfallenden Kulturbetrieb“[14] . Doane zufolge ist Einhorn vor allem ein Buch über Gesellschaftskritik, während Wilhelm Johannes Schwarz schreibt „Walsers Romane sind nicht so sehr als gesellschaftskritische Werke zu verstehen, in denen der Autor wie Heinrich Böll dem Rest der Menschheit mit erhobenem Zeigefinger gegenübertritt“[15] . Natürlich kann man die Gesellschaftskritik Walsers nicht als direkte Kritik werten, dennoch regt sie den Leser, sei es denn ein hermeneutischer Leser, zum Nachdenken über die Zustände in der Gesellschaft an. Die Parallelen zur Gesellschaft der Nachkriegsjahre sind einfach zu ziehen, da unter anderem Bezug zu damals aktuellen politischen Ereignissen genommen wird, wie zum Beispiel zu der Ermordung Patrice Lumumbas. Auch Waine greift diesen Punkt in seinem Werk über Walser auf. Er postuliert:

„Walser verlegt den zentralen Handlungsabschnitt in das Jahr 1962, genau gesagt in den Sommer dieses Jahres. Diese Wahl ist zweifellos absichtlich, denn dieses Jahr, und auch das Jahr 1961, in dem ein Teil der Handlung spielt, gehen in die Geschichtsbücher als weltweite Krisenzeit ein.“[16]  

In diesem Zusammenhang betrachtet, kann man die kritische Haltung Walsers der Gesellschaft gegenüber nicht leugnen. Da Walser den schon beschriebenen elitären Kreis für seinen Folgeroman wählt, ist es auch nicht verwunderlich, dass Anselm in diesem Teil der Trilogie einen Beruf hat (Schriftsteller), der ihm einen Einblick in die gehobene Schicht ermöglicht. Dieser Beruf ist der Schlüssel zur elitären Gesellschaft. Dadurch kann Anselm an den Feiern Blomichs in dessen Villa am Bodensee teilhaben und die verschiedenen Charaktere genau beobachten. Bei den Schilderungen dieser Feste wird deutlich, dass es eine Gesellschaft ist, die auf Konkurrenz baut. Daher rühren auch die zahlreichen Konflikte der Personen auf den Festen, bei denen jeweils einer als Verlierer und der andere als Gewinner vom Feld gehen muss. Heike Doane schreibt dazu „Die Klassengesellschaft scheint sich in einer Teilung von Starken und Schwachen zu polarisieren“[17] . Diese Polarisierung ist ihrer Meinung nach ausgelöst durch die „zahlreichen Abhängigkeitsverhältnisse“[18] . Hierzu kann man als Beispiel Anselm Kristlein selbst (in Bezug auf sein Verhältnis zu Melanie Sugg), aber auch Barbara Salzer nehmen, welche auf der metafiktionalen Ebene im Manuskript zu Anselms Roman beschrieben wird und ökonomisch abhängig ist von ihrem Geliebten, der von Beruf Bankier und somit Teil der Elite ist. Für Barbara ist die Bindung zu ihm die einzige Möglichkeit in der Gesellschaft aufzusteigen. Anselm bewertet diesen Aspekt als negativ. Er schreibt „Solidarität, solange wir im Souterrain schuften, aber jeder weiß, daß jeder versucht, sobald als möglich und unter allen Umständen, hinaus- und hinaufzukommen!“[19] . Heike Doane bemerkt allerdings, dass Barbara ihn für ihresgleichen hält.[20] Sie weist in ihrem Buch „Die gesellschaftspolitischen Aspekte in Martin Walser‘s Kristlein-Trilogie“ weiterhin darauf hin, dass es in der starren Gesellschaft, trotzdem Aufsteiger gibt, sie betont „die Hoffnung“[21], die dadurch für die restliche Bevölkerung besteht, auf einen „raschen Aufstieg“[22]. Anselm selbst ist so ein Aufsteiger, aber auch Nacke Dominick Bruut (NDB). Diese Hoffnung sorgt ihrerseits dafür, dass jeder kämpft und das für sich selbst. Es ist ein Klassenkampf in dem jeder gegen jeden ist.[23] Während die Mehrheit der Bevölkerung nach diesem Muster lebt, hat Anselm Kristlein für sich eine etwas andere Art von Überlebensmethode ausgewählt. Es ist eine Aufspaltung seiner Persönlichkeit, die vor allem in seinem Roman deutlich wird. Unter diesem Aspekt kann man Wilhelm Schwarz's Bemerkung darüber, dass „Walsers Romane (…) vielmehr Ausdruck der eigenen Problematik, der eigenen Zweifel, des eigenen Suchens“[24] besser verstehen. Denn auf Anselm bezogen, entspricht diese Schlussfolgerung auch der Wahrheit.

Anselm macht im Verlaufe des Romans einen Prozess durch, einen Prozess der Selbstfindung. Man erkennt dies deutlich an der Wortneuschöpfung Walsers „Dividuum“[25] , mit der er sich auf Anselms fehlende Individualität bezieht, welche vor allem bei den Diskussionsrunden zum Vorschein kommt, sowie an dem Zusammenfügen der verschiedenen Rollen zu einem Ganzen als Anselm die wahre Liebe in der Orli Episode erfährt. Auch Heike Doane hält dies fest: „Die Erfüllung seiner Hoffnung auf Einzigartigkeit, bisher durch sein Rollengebaren unmöglich gemacht, steht unmittelbar bevor.“[26].

Sie geht in ihrer Ausführung sogar soweit, dass sie schreibt „Krankheit kann als Anzeichen für die im Daseinskampf zugetragenen Wunden angesehen werden“[27] . Das wiederum kann man in Verbindung mit Anselms Bettlägerigkeit bringen, welche zu Anfang und Ende des Romans hin stark thematisiert wird.[28] Im letzten Kapitel beschreibt er seinen Schlaf sogar als eine Art „Ohnmacht“[29]. Wichtig ist an dieser Stelle jedoch folgenden Einwand Anthony Waines anzubringen:

„Dennoch darf man sich von Anselms Rhetorik nicht blind für die Wahrheit machen lassen. Daß Anselm sich gern als Opfer der (gesellschaftlichen) „Schlacht“ porträtiert, entspringt seinem Hang zur Selbsttäuschung, denn er arbeitet selber an dem Prozeß mit, der zu seiner Entfremdung führt.“[30]  

Anhand dieser zwiespältigen erzählerischen Perspektive, die der Autor dem Leser vorführt, kann dieser einen umfangreichen Einblick in die tückische Problematik der Gesellschaft der Nachkriegszeit gewinnen.

Das Schreiben und Erinnern

Das Schreiben ist eines der Hauptthemen in Das Einhorn. Anselm Kristlein, der Protagonist des Romans, wird zum Schriftsteller mit offiziellem Auftrag aus Zürich. Georg Eggenschwiler verweist darauf, dass das Erzählen eine „zentrale Funktion“ in Das Einhorn darstellt.[31] Die Grundhaltung Anselms zum Schreiben wird, wie Anthony Waine erkennt, schon im ersten Kapitel erläutert, er vermerkt: „Daß das Experiment und damit der Roman als „Schlamassel“ (suhrkamp taschenbuch 159, S.10) endeten, erfahren wir gleich auf den ersten Seiten aus dem Munde Anselms, der krank im Bett liegt und seine Niederlage eingesteht.“[32].

Für die Frage warum es zu diesem Scheitern Anselms als Schriftsteller kommt, gibt das Buch mehrere Antworten her. Zum einen muss es schon durch den gesellschaftskritischen Aspekt des Werkes Walsers zu einem Scheitern kommen, da er Anselm als einen „Tausendfalt“[33] ohne richtige Identität darstellt. Würde Anselms Roman gelingen, wäre die Aussage des Romans eine vollkommen andere und kaum eine kritische.

Als weiterer Punkt wird Bezug zu Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, sowie zu Augustins Confessiones genommen. Das Konzept des Erinnerns steht im Mittelpunkt einiger Kapitel, welche mit dem Titel „Der erste Anlaß, über unser Erinnerungsvermögen verwundert zu sein“[34] eingeführt und durch Zitate an verschiedenen Kapitelanfängen nochmals unterstrichen werden. Thomas Beckermann ist der Meinung „Die Funktion dieser Abschnitte (…) ist es aber, die durch Prousts a la recherche du temps perdu genährte Hoffnung, in der Wiedererweckung vergangener Ereignisse zur Identität und zu einem glücklichen Leben zu kommen, radikal zu negieren“[35]. Die anschaulichste Episode in Das Einhorn ist dafür die Orli-Episode. Sich im Nachhinein sich klar machend, dass die Erinnerung nichts nützt, schreibt Anselm „Man hat doch nichts davon, sich zu vergegenwärtigen, wie Orli zärtlich war, wenn man davon, daß man sich das vergegenwärtigt nicht hat. ENTSINNEN, ja. Von REMEMBERN keine Spur".[36]

Herrmann Kinder postuliert, dass die drei großen Themenbereiche (Gesellschaft, Liebe und das Erinnern in Form des Schreibens) „klar miteinander verknüpft“ sind.[37] Weiterhin schreibt er: „Denn der Sinn des Nach-Denkens über das Erinnern liegt nicht in der, schon in >>Halbzeit<< (H280) formulierten, Widerlegung der Augustinischen These von der Abrufbarkeit vergangener sinnlicher Erlebnisse, sondern im Versuch zu dementieren, daß Erinnern, wie Augustin meinte, notwendig zur Erkenntnis Gottes, zur Gewißheit des Glückseligen Lebens (beata vita) führe, oder daß, so Proust, sich im Erinnern die promesse de bonheur einstelle. Im >>Einhorn<< weist Erinnern die Grundlage der Lebensbeurteilung in die Gegenrichtung, daß nämlich sich die Geschehnisse in uns erhalten je nach dem Schmerz, den sie einmal verursachten (E21).“[38]

Es wird hier wie gesagt eine Gegenthese zu Proust und Augustinus vom Autor aufgestellt. Erinnern heißt hier sich die negativen Aspekte des Erlebten vor Augen führen. Rainer Nägele erklärt dazu „Er will und kann Proust nicht verstehen und dessen Erinnerungsarbeit, es sei denn als ungeheure Sisyphos-Arbeit“[39]. Er verweist außerdem auf die Erwartung, welche in Roman in Form des Symbols des Einhorns immer wieder auftaucht.„Der frustrierenden, weil alles im Leben negierenden Erinnerung entspricht symmetrisch die immer wieder frustrierte und negierte Erwartung, dargestellt im Fabeltier, dem Einhorn“.[40] Diese Erwartung resultiert aus der Hoffnung, dass alles sich doch zum Guten wendet und findet somit in der Suche nach dem Glück, welche omnipräsent in den Charakterzügen und im Handeln Walsers Personen ist, ihren Ausdruck.

Anselm hat diese Hoffnung jedoch aufgegeben, im letzten Kapitel wird dies deutlich durch das Einhorn, welches Anselm bittet den Namen Orlis zu schreiben. Es bietet ihm sogar sein Horn an, um den Namen zu schreiben, aber Anselm lehnt gewissenhaft ab. Er fragt „Was soll der Bettlägrige mit einem Einhorn?“.[41] An diesem Punkt wird das Aufgeben Anselms, welches sich in seiner „Lage“ widerspiegelt, nochmals verdeutlicht. Man kann an dieser Stelle nur Schlussfolgern, dass Walser der Erinnerung die Aufgabe der Aufarbeitung aller Erlebnisse zuschreibt. Dies im Zusammenhang mit dem Zeitpunkt, zu dem das Werk veröffentlicht wurde gesehen, ergibt einen klaren Aufruf von Seiten Walsers am kollektiven Gedächtnis zu arbeiten.

Liebe

Das Wort Liebe wird in Das Einhorn auf verschiedene Weise ausgelegt und ist oft irreführend, wie man schon am Romantitel Anselms erfahren kann. Das Buch, dass er schreibt soll ein Roman mit dem Titel „Liebe“ sein, inhaltlich jedoch sexuelle Eskapaden schildern. Man kann also festhalten, dass es hier zu einer Perversion des Begriffs „Liebe“ kommt. Es wird auf eine Bedeutungsverschiebung aufmerksam gemacht, die sich von der traditionellen Bedeutung Liebe als „Bezeichnung für die stärkste Zuneigung und Wertschätzung“[42] ab- und sich hin zu einer Auslegung der freien Liebe wendet. Die Vermutung, dass Walser diesen Titel extra deswegen wählte, um auf den gesellschaftlichen Umbruch aufmerksam zu machen, liegt nahe.

Im Roman ist Birga diejenige, die Anselm darauf aufmerksam macht, dass sein Romanentwurf nichts mit wirklicher Liebe zu tun hat. Sie sagt „Mit Liebe hat Dein Geschreibe natürlich nichts zu tun, ich würde Dir empfehlen, dieser Frau Sugg rechtzeitig anstatt Liebe einen anderen Titel vorzuschlagen.“[43] Anselm nennt darauf den Romanentwurf um in „Anstatt Liebe“.[44] In seinem Roman beschreibt er wie er auf Reisen immer neue Frauen kennenlernt, er beschreibt die sexuellen Erlebnisse eher auf eine prüde Art und Weise und umschreibt vieles. Wilhelm J. Schwarz erklärt, er scheitert bei seinem Romanentwurf „denn er findet keine dem Thema angemessene Sprache“.[45]

In demselben Abschnitt, in dem Alissa ihm den neuen Buchtitel vorschlägt, wird deutlich wie die gesellschaftliche Tendenz, Liebe durch Sex zu ersetzen auch im Hause der Familie Kristlein angekommen ist. Durch Anselms sexuelle Eskapaden und durch seine Unverfrorenheit diese nicht einmal zu verheimlichen, verliert auch Alissa mit der Umbenennung in Birga ihren Glauben an die Liebe in der Ehe. Als Anselm fragt „Was wäre aber dann Liebe“, antwortet Birga „Frag Alissa, sagte sie, ich weiß es nicht mehr“.[46] An diesem Beispiel wird deutlich, dass der Idealismus, der in Halbzeit einer der stärksten Charakterzüge Alissas ist, im Folgeroman keinen Platz mehr findet. Er löst sich mit einer Umbenennung in Luft auf, was zeigt, dass dafür auch in der Gesellschaft kein Platz mehr ist.

Auch die Hoffnung und die Erwartung, symbolisiert durch das Einhorn, die die Orli-Episode mit sich bringt wird zerschlagen. Auffallend ist, dass Anselm bei Orli eine Ausnahme macht und sich während des ganzen Sommers enthaltsam zeigt. Er ist nicht darauf aus mit ihr zu schlafen, er erträgt seine tagelang anhaltende Erektion und versucht sie vor ihr zu verbergen, damit sie nichts Schlechtes von ihm denkt. Solange Anselm sich mit Orli auf dem Campingplatz aufhält, solange der Sommer anhält, hält die Luftblase, in der sich das Wort Liebe verbirgt, an. Als diese platzt, bemerkt der Leser, dass es verliebt sein und keine wahre Liebe war, oder diese zumindest nicht stark genug war, um dem gesellschaftlichen Druck standzuhalten. Er kapituliert vor der Gesellschaft: „Anselm vermag keine Welt auszudenken, in der es ihm gelänge, Orli zu schützen“.[47] Er ist mittellos und kann Orli daher keine gesicherte Zukunft bieten, weshalb er zurückkehrt zu seiner Familie und sich in sein Bett legt.

Schlussfolgernd kann man sagen, dass Martin Walser das Thema Liebe in der Gesellschaft kritisch beleuchtet und als nicht in Einklnag mit dem gesellschaftlichen Leben beschreibt. Er zeichnet den Menschen eher in seiner Form als sexuelles Wesen, welches dem sexuellen Drang erliegt. Für Anselm ist es ein Kraftakt diesem Drang zu widerstehen, er schafft dies nur solange er bei Orli ist. Im gesellschaftlichen Leben kann er diesem Druck nicht standhalten, um des Geldes willen schläft er abermals mit seiner Verlegerin und rechtfertigt dies damit, eine Zukunft für sich und Orli zu erkaufen. Diese Rechnung geht jedoch nicht auf.

Stil und Form

Der Roman Einhorn zeichnet sich zum einen durch seine erzählerische Perspektive aus. Anselm Kristlein ist Erzähler, Autor, sowie Protagonist seines eigenen Romans und gibt uns Einblick in seine Welt, in sein Innenleben. Wilhelm J. Schwarz unterstreicht in folgendem Zitat die uniperspektive Erzählweise des Autors: „In Halbzeit und Einhorn wird abwechselnd in der ersten und der dritten Person erzählt. Die beiden Erzählhaltungen sind jedoch ihrem Wesen nach nicht so sehr voneinander verschieden. Der Erzähler (nicht der Autor) wahrt eine völlige Kongruenz zwischen sich und seinem Medium, gleich ob dieses in der Ich-Form oder der Er-Form auftritt. Nirgends gibt es einen zusätzlichen Erzähler, der den Verlauf der Handlung aus einer anderen Perspektive als der des Helden sieht.“[48] Aus dieser Grundstruktur entwickeln sich verschiedene erzählerische Techniken, welche Martin Walser in seinem Roman anwendet. Hierzu zählen vor allem „der erzählte Zweifel“[49] , der „zyklische Charakter“[50] und „das stetige kritische Prüfen der eigenen Erinnerungs- und Erzählleistung“[51].

Die abgerundete Form des Romans resultiert daraus, dass Anselm Kristlein seine Geschichte aus der Retrospektive erzählt. Die Handlung spielt sich zwischen „Lage I“ und „Lage II“ ab, ist jedoch reine Erinnerung und somit ist die Zeitspanne zwischen den beiden ähnlich betitelten Kapiteln minimal, Anita Gröger beschreibt sie als „rahmende Erzählung“[52]. Der Erzähler Anselm gibt sich als unwissender Erzähler. Wilhelm Schwarz beschreibt dies folgendermaßen: „Er durchlebt jedoch jede Situation noch einmal mit dem Leser als völlig Unwissender, das heißt, er ist von jeder überraschenden Wendung selbst überrascht“ und bewertet dies positiv, denn es verleihe „dem Ganzen etwas Spontanes und Frisches“.[53] Er schreibt weiterhin „Walser ist in dieser Haltung konsequent bis zur Grenze der Pedanterie“ und verweist auf ein Beispiel, in dem eine Figur (Barbara) Anselms Rechtschreibung zweier Namen verbessert.[54]

Anita Gröger weist außerdem auf die „unzähligen Rückblenden und Vorgriffe“[55] hin, welche dem Leser immer wieder das Gefühl des Wiedererkennens geben. Manchmal jedoch wird eine Episode, da Anselm sich nicht mehr sicher ist wie sie wirklich verlaufen ist, mehrmals erzählt. Wilhelm Schwarz nennt dies den „sogenannten >>Gantenbein-Effekt<<“[56]. Dies steht im direkten Zusammenhang mit der Erinnerung, die konstant auf den Prüfstand gestellt wird.[57] Dieser kritische Blick auf die eigene Erzählung ist die Basis des Erzählens der Erinnerung für Walser, ohne diesen wäre die Erzählung nicht wahrheitsgetreu, denn es würde die Fehlbarkeit des Erzählers verborgen werden.

In Bezug auf die Sprache, welche Walser in seinem Roman verwendet, ist es vor allem auffällig, dass kaum Verben, sondern verhältnismäßig viele Nomen und Adjektive verwendet werden. Walser ist ein Virtuose der Wortneuschöpfung, er spielt mit der Sprache. Schwarz schreibt über Walsers Sprache:

„Martin Walser zeigt in seinen Büchern vor nichts Respekt, und seine Sprache ist eine respektlose Sprache. Wenn sie nicht so wendig und nuancenreich wäre, könnte man sie eine Vertretersprache nennen, denn Walser drückt sich am liebsten flott, burschikos und jargonmäßig aus. Er liebt den familiären Ton von Ausdrücken (…)“.[58] 

Die Tendenz zur Umgangssprache zeigt sich also deutlich. Außerdem wird Walser ein „satirisch-ironischer“ Ton nachgesagt, der „den betreffenden Stellen eine gewollte Komik“ verleiht.[59] Weiterhin prägen die auffallend vielen Wiederholungen, sowie ellenlange Sätze Walsers Stil in Einhorn.

Das teils verwirrende an Walsers Stil ist das stetige abdriften von der Handlung hin zu Reflexionen. Sie sorgen für die Fülle des Buches, wobei man sagen kann, dass Walser ihretwegen seinen Roman Halbzeit auch so leichtfertig kürzen konnte. Es sind oft Ausführungen von Alltäglichem, die die Seiten füllen. Man bekommt das Gefühl, dass Walser alltägliche Erlebnisse detailliert und kritisch festhält. Durch die Aneinanderreihung von Nomen und Adjektiven, durch die Wiederholungen und Reflexionen, sowie dem gesähten Zweifel wird dem Leser die Rolle eines kritischen Lesers, der alles hinterfragt, zugeschrieben. Denn wenn nicht einmal der Erzähler sich sicher ist, muss der Leser umso skeptischer sein.

Stellung in der Literaturgeschichte

Der Roman Das Einhorn kann in die Nachkriegsliteratur eingeordnet werden. Er befasst sich inhaltlich mit politisch und gesellschaftlich relevanten Themen der sechziger Jahre und macht durch seine stetige Auseinandersetzung mit der Erinnerung auf die Importanz des kollektiven Gedächtnisses aufmerksam. Der Einfluss Franz Kafka auf Walsers Romane ist in der Literaturkritik oft erwähnt worden und durch seine Dissertation über Kafkas Werk naheliegend. In das Einhorn erinnert vor allem Anselms Bettlägrigkeit (Lage I und Lage II) an den Protagonisten Gregor Samsa in Die Verwandlung von Kafka.

Einordnung in das Werk des Autors

Das Einhorn ist der dritte Roman Walsers nach Ehen in Philippsburg und Halbzeit. Er ist der zweite Roman der Anselm Kristlein Trilogie, die ansonsten die Romane Halbzeit und Der Sturz (Roman) umfasst. Man kann ihn daher zum Frühwerk Martin Walsers zählen.

Rezeption

Rezeption bei Erscheinen

Der Roman wurde von der Kritik auf sehr verschiedene Weisen aufgenommen, es überwiegt jedoch im Allgemeinen die Meinung, dass Walser mit seinem Roman gescheitert ist. Es wurden viele Rezensionen zu dem Roman verfasst, welche den Roman in seine Einzelteile zerlegten und nicht in seiner Ganzheit beurteilten. Heike Doane schreibt „Kurz nach dem Erscheinen des Romans Das Einhorn (1966) erhoben sich in literarischen Kreisen die widersprüchlichsten Meinungen über Form und Aussage dieses Romans“, weiterhin bemerkt sie „So wurde als erstes das Einhorn als eine Auseinandersetzung mit Proust aufgefaßt“.[60] Sie erklärt, dass der Roman jedoch eigentlich so facettenreich ist, dass er nicht auf einen Teil reduziert und für im Ganzen verstanden erklärt werden kann.[61] Zu den Kritiken, auf die sich Doane hier bezieht, kann man unter anderem die Günther Blöckers zählen, welche 1966 veröffentlich wurde mit dem Titel „Die endgültig verlorene Zeit“.[62]

Marcel Reich-Ranicki nennt den Roman ein „gallertartiges Gebilde“ und wirft Walser vor, dass sich der Roman „in Einzelne Bestanteile“ auflöst.[63] Weiterhin wurde Walsers Sprache als zu „strapaziert“[64] beschrieben. Rolf Michaelis schrieb sogar, dass der Roman „an das Serienprodukt einer pausenlos stanzenden Wortmaschine denken läßt“.[65] Heinrich Vormweg kritisiert Walsers „Zitierzwang“ der scheinbar dazu führt, dass Walser „nicht mehr zur Sache“ kommt.[66]

Doch trotz der vielen schlechten Kritik wurden auch positive Kritiken zum Roman verfasst. Katrin Sello kontert „Der Vorwurf, daß Walsers sprachlicher Aufwand in keinem Verhältnis zum Vorgeführten steht, wird im Kontext einer Poetik des ironischen Erzählens hinfällig“.[67] Hans Magnus Enzensberger erkennt Walsers Wesen und seine Intention in seiner allgemeinen Kritik, welche nicht direkt auf Das Einhorn bezogen ist, da vorher veröffentlicht, jedoch trifft sie auch auf Das Einhorn zu, da sie Walsers Stil im Allgemeinen beschreibt. Er erklärt „Walsers epische Breite hat nicht die Totale, sondern die Nahaufnahme im Sinn, entwirft keine Bilderbogen, sondern präpariert mit erbarmungsloser Bescheidenheit mikroskopische Verästelungen, an denen der makroskopische Befund des Gemeinwesens abzulesen ist.“[68]

Gerade dieser Aspekt wird von den meisten Kritiken als negativ bewertet, er ist jedoch ein wesentlicher Zug Walsers Schreibfertigkeit.

Literatur

Textausgaben

Walser, Martin: Das Einhorn. 1. Aufl., Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1966.

Sekundärliteratur

  • Beckermann, Thomas: Epilog auf eine Romanform. Martin Walsers Roman "Halbzeit" (1960); mit e. kurzen Weiterführung, die Romane "Das Einhorn" (1966) und "Der Sturz" (1973) betreffend. In: Der deutsche Roman nach 1945. Buchner, Bamberg 1993. S.73-101.
  • Doane, Heike: Gesellschaftspolitische Aspekte in Martin Walsers Kristlein-Trilogie. Halbzeit, das Einhorn, der Sturz. 1. Auflage, Bouvier, Bonn 1978.
  • Eggenschwiler, Georg: Vom Schreiben schreiben. Selbstthematisierung in den frühen Romanen Martin Walsers.Lang, Bern; Berlin; Bruxelles; Frankfurt a. M.; New York; Oxford; Wien 2000.
  • Gröger, Anita: Der monströse Versuch, Vergangenheit herzustellen. Aspekte des >erzählten Zweifels< in Martin Walsers Roman "Das Einhorn". In: Wörter für die Katz?. Martin Walser im Kontext der Literatur nach 1945. Hg. von Miriam Seidler. Lang, Frankfurt am Main 2012, S.73-85.
  • Kinder, Hermann: Anselm Kristlein. eins bis drei - Gemeinsamkeiten und Unterschied. In: Von gleicher Hand: Aufsätze, Essays zur Gegenwartsliteratur und etwas Poetik. Isele, Eggingen 1995. S.39-52.
  • Schwarz, Wilhelm Johannes: Der Erzähler Martin Walser. Mit einem Beitrag. „Der Dramatiker Martin Walser“ von Hollmuth Karasek. Bern, München (Francke Cop.) 1971.
  • Waine, Anthony: Martin Walser. the development as dramatist 1950-1970. 1.Aufl., Bouvier, Bonn 1978.

Einzelnachweise

  1. Wilhelm Johannes Schwarz: Der Erzähler Martin Walser. Mit einem Beitrag. „Der Dramatiker Martin Walser“ von Hollmuth Karasek, Bern, München (Francke Cop.) 1971, S.44.
  2. Das Einhorn: S.7-18
  3. Das Einhorn: S.19-90
  4. Das Einhorn: S.91-223
  5. Das Einhorn: S.93
  6. Das Einhorn: S.117
  7. Das Einhorn: S.190
  8. Das Einhorn: S.195
  9. Das Einhorn: S.225-340
  10. Das Einhorn: S.255
  11. Das Einhorn: S. 341-467
  12. Das Einhorn: S. 469-489
  13. Doane, Heike: S. 9-10
  14. Waine, Anthony: S.87
  15. Schwarz, Wilhelm Johannes: S.46
  16. Waine, Anthony: S.78
  17. Doane, Heike: S.92
  18. Doane, Heike: S.92
  19. Das Einhorn: S.162
  20. Doane, Heike: S.67
  21. Doane, Heike: S.67
  22. Doane, Heike: S.67
  23. Doane, Heike: S.67ff.
  24. Schwarz, Wilhelm: S.46
  25. Einhorn: S.190
  26. Doane, Heike: S.100
  27. Doane, Heike: S.90
  28. Das Einhorn: S.7ff. und S.471ff.
  29. Das Einhorn: S.471
  30. Waine, Anthony: S.81
  31. Eggenschwiler, Georg: S.127
  32. Waine, Anthony: S.76
  33. Das Einhorn: S.190
  34. Das Einhorn: S.59
  35. Beckermann, Thomas: S.94
  36. Das Einhorn: S.476
  37. Kinder, Hermann: S.41
  38. Kinder, Hermann: S.41
  39. Nägele, Rainer: S.115
  40. Nägele, Rainer: S.115
  41. Das Einhorn: S.473
  42. Wikipedia: Liebe - https://de.wikipedia.org/wiki/Liebe
  43. Das Einhorn: S.187
  44. Das Einhorn: S.187
  45. Schwarz, Wilhelm: S.44
  46. Das Einhorn: S.188
  47. Das Einhorn: S.419
  48. Schwarz, Wilhelm: S.30
  49. Gröger, Anita: S.75
  50. Gröger, Anita: S.74
  51. Gröger, Anita: S.77
  52. Gröger, Anita: S.75
  53. Schwarz, Wilhelm: S.30
  54. Schwarz, Wilhelm: S.30-31
  55. Gröger, Anita: S.77
  56. Schwarz, Wilhelm: S.32
  57. Gröger, Anita: S.77
  58. Schwarz, Wilhelm: S.50
  59. Schwarz, Wilhelm: S.36
  60. Doane, Heike: S.55
  61. Doane, Heike: S.56-57
  62. Schwarz, Wilhelm: S.76
  63. Schwarz, Wilhelm: S.94
  64. Wilhelm Schwarz: S.98
  65. Schwarz, Wilhelm: S.91
  66. Schwarz, Wilhelm: S.98-99
  67. Schwarz, Wilhelm: S.96
  68. Schwarz, Wilhelm: S.81