Benutzer:Otfrid Nies
Otfrid Nies, 1937 in Giessen/Deutschland geboren, stammt aus einem Musikerelternhaus und erhielt seine erste geigerische und musikalische Ausbildung von seinem Vater. Er studierte von 1956 bis 1959 an den „Seminários Pro Arte“ in Rio de Janeiro Tonsatz, Komposition und Dirigieren sowie von 1960 bis 1964 bei Max Rostal das Hauptfach Violine an der Staatlichen Hochschule für Musik Köln. Nach verschiedenen Engagements war er von 1971 bis 2000 1. Konzertmeister des Staatsorchesters Kassel. Neben seiner Orchestertätigkeit hat Nies sich der Kammermusik in verschiedenen Formationen, dabei vor allem in den Besetzungen Klaviertrio, Klavierquintett und Duo Violine und Klavier, gewidmet. Er besuchte die „Mödlinger Schönberg-Seminare“, wo unter der Anleitung von Rudolf Kolisch, dem Geiger und Schwager Arnold Schönbergs, die Kammermusik der Neuen Wiener Schule einstudiert und aufgeführt wurde.
Otfrid Nies setzt sich besonders für die Musik des 20. Jahrhunderts ein. Auf seine Initiative wurden 1982 während der „documenta 7“ in Kassel an 30 Tagen die damals noch kaum bekannten Kompositionen für mechanisches Klavier von Conlon Nancarrow vorgestellt. Ein Schlüsselerlebnis war für ihn die erste Begegnung mit der Musik des französischen Komponisten Charles Koechlin im Jahre 1967: Eher per Zufall hörte er Koechlins symphonische Dichtung Les Bandar-log op. 176 (1939/40) in der inzwischen schon legendären BBC-Schallplatten-Produktion unter der Leitung von Antal Dorati. In dieser Zeit war es enorm schwierig, an Notenmaterial von Charles Koechlin überhaupt zu gelangen. Früher veröffentlichte Werke waren vergriffen, die meisten Kompositionen warteten aber noch auf ihre Veröffentlichung. Erst durch intensives Suchen in französischen Antiquariaten und durch die dann entstandene Freundschaft mit der Familie Koechlin wurde ihm ein großer Teil von Koechlins Lebenswerk zugänglich. Besonders hilfreich war ihm dabei die 1972 veröffentlichte Dissertation des englischen Musikwissenschaftlers Robert Orledge „A Study of the Composer Charles Koechlin“ (seit 1989/95 in gekürzter Form unter dem Titel „Charles Koechlin – His Life and Works“ bei Harwood Academic Publishers erschienen). Aus der Erfahrung der eigenen Schwierigkeiten hat Nies seit 1984 das von ihm geleitete ARCHIV CHARLES KOECHLIN in Kassel aufgebaut. Es bietet Gelegenheit, das umfangreiche kompositorische und musikschriftstellerische Œuvre des französischen Komponisten Charles Koechlin (1867-1950) zu studieren. Nachdem die Quellen nun mehr und mehr zugänglich wurden, hat Nies ab 1983 zusammen mit seinen Kammermusikpartnern einen großen Teil von Koechlins Kammermusik aufgeführt, u. a. die Sonate pour piano et violon op. 64 (1915/16), das Quintette pour piano et cordes op. 80 (1908-21) als deutsche Erstaufführung und als Uraufführung das Deuxième Quatuor à cordes op. 57 (1911-15).
1986 hat er für die Kasseler Uraufführung von Koechlins Ballet Voyages op. 222 die vom Komponisten lediglich als Particell hinterlassenen Interludes op. 214 zu Voyages orchestriert (Éd. Max Eschig/BMG France). In den Jahren 1999/2000 hat er Koechlins ebenfalls unvollendet hinterlassene Danses pour Ginger op. 163 nach den autographen Manuskripten ergänzt, für Klavierduo gesetzt und für den Verlag Schott Musik International herausgegeben.
Nach Beendigung seiner Orchestertätigkeit im Jahre 2000 betreute er für Éditions Max Eschig/BMG France die Herausgabe der Partitur und des Orchestermaterials von Koechlins großem Orchesterwerk Le Docteur Fabricius op. 202 (1941-44; orch. 1946), das Heinz Holliger dann mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR für Hänssler Classic eingespielt hat. Mit dem französischen Musikwissenschaftler Philippe Cathé besorgte Nies die Veröffentlichung einer Reihe von Koechlin-Orchesterliedern für die Verlage Combre/Paris und Salabert/BMG France, die - mit der Sopranistin Juliane Banse und dem SWR-Orchester unter der Leitung von Heinz Holliger - 2005 bei Hänssler Classic erschienen sind und mit dem "MIDEM Classical Award 2006" ausgezeichnet wurden. Zusammen mit Robert Orledge arbeitet Nies an der Ergänzung, Instrumentierung und Herausgabe von Koechlins Le Portrait de Daisy Hamilton op. 140 (1934-38) für den Schott-Verlag. Er betreut ferner für Éditions Max Eschig/BMG France die Koechlin-Neuausgaben des 2. Streich-quartetts op. 57 und des Quintette pour piano et cordes op. 80 nach dem von ihm in der Bibliothek des Conservatoire Royal de Bruxelles entdeckten autographen Uraufführungsmaterial des Quintetts. In Vorbereitung einer für 2007 von SWR Stuttgart/Hänssler Classic (im Rahmen der von Heinz Holliger dirigierten Koechlin-Veröffentlichungen) geplanten Aufnahme des späten Orchesterwerks Offrande musicale sur le nom de BACH op. 187 (1942-46) gibt er diese Komposition bei Éditions Gérard Billaudot/Paris heraus.