Benutzer:Donna Gedenk/bern
Der Artikel beschreibt die Offene Drogenszene in der Stadt Bern in der Schweiz.
Anfang und Odyssee
Kleinere Ansammlungen von drogenkonsumierenden Personen waren in der Stadt Bern ab den 1970er Jahren zu beobachten. In der Öffentlichkeit verursachte dieses neue Phänomen grosse Verunsicherung. Aufgeschreckt durch den zunehmenden Drogenkonsum vieler Jugendlicher, vor allem von Amphetaminen und Haschisch, ergriff die Politik bald Initiative um den Drogenmissbrauch zu bekämpfen. In Bern wurde die Kantonale Kommission zur Bekämpfung des Drogenmissbrauchs geschaffen, mit Teilnehmern aus der kantonalen Politik sowie Drogenexperten.[1] Auch die Medien interessierten sich zunehmend für die neue Erscheinung, zwischen 1970 und 1974 finden sich auch in den Berner Tageszeitungen vermehrt Berichte zu diesem Thema. Der Unterton vieler Artikel war oft von grosser Ratlosigkeit und Verunsicherung geprägt. 1972 zitierte die Zeitung „Der Bund“ einen Berner Stadtpolizisten: „Wir wissen nicht wo wehren. Es war noch nie so viel Stoff in Bern wie seit diesen Sommerferien“.[2] Überschriften wie „Drogen-Banditen bedrohen auch die Schweiz“[3] , „Aufgepasst vor Drogen und Pornographie“[4] , „Drogensüchtige Schweizer vegetieren in Indien“[5] oder „Auch Läuse und Wanzen lebten in der Kommune“[6] über eine Kommune drogensüchtiger Hippies, portieren den Drogenkonsum zu einem angsterfüllten Thema für Berns bürgerliche Bevölkerung. Von Szenebildungen ist in den frühen 1970er Jahren jedoch noch nichts zu lesen. Ungefähr ab 1974 änderte sich dies mit dem Auftreten von Heroin in Bern. Auch andere Schweizer Grossstädte wurden im selben Jahr mit Heroin überflutet. Viele Jugendliche, die vorher ausschliesslich Haschisch konsumiert hatten, stiegen nun auf die deutlich härtere Droge Heroin um. Vieles deutet darauf hin, dass dieser Umstieg von der internationalen Drogenmafia aktiv gefördert wurde, beispielsweise mit dem Beifügen von Heroin in Haschisch und der in Bern und Zürich beobachteten plötzlichen Verknappung von Haschisch und der gleichzeitigen Überschwemmung des Marktes mit billigem Heroin. Die Heroinwelle überrollte den schweizerischen Drogenmarkt.[7] Im selben Jahr finden sich in den Berner Tageszeitungen erste Berichte über eine Drogenszene auf der Münsterplattform, einem kleinen Park neben der Berner Münsterkirche. Dies belegen auch Zahlen des Bundesamtes für Statistik zu in der Schweiz beschlagnahmte Betäubungsmittel: Vor dem Jahr 1972 wurde von den Behörden noch kein Heroin beschlagnahmt. In den Jahren 1972 und 1973 war es jeweils eine Menge unterhalb eines Kilogramms. 1974 steigerte sich die Menge auf 5.7 Kilogramm und ein Jahr später auf gar 21.1.[8] Zu Beginn war die Ansammlung auf der Münsterplattform aber noch keine isolierte Drogenszene wie dies einige Jahre später der Fall war. Vielmehr galt sie als Treffpunkt vieler alternativer Jugendlicher, welche dort Haschisch, Alkohol und härtere Drogen konsumierten.[9] Die Szene umfasste durchschnittlich zwischen fünfzig und hundert Personen und war im Vergleich zu den späteren Standorten unauffällig. Neben Heroin-, Alkohol- und Haschischkonsumenten mischten sich auch Passanten und Quartierbewohner unter die Menge. Aufgrund der zunehmenden Dominanz von drogenkonsumierenden Personen innerhalb der Szene wurde Ansammlung auf der Münsterplattform von der Berner Stadtpolizei aufgelöst. Nach der Schliessung der Münsterplattform verschob sich die offene Drogenszene weiter stadtaufwärts. Es begann eine regelrechte Odyssee: Zwischen 1985 bis 1988 verlagerte sie sich vorerst an wechselnde Standorte in der oberen Altstadt. Im Gegensatz zu der relativ verborgenen Münsterplattform waren die verschiedenen Standorte beim Bärenplatz, in der Neuengasse sowie in der Münstergasse von der Öffentlichkeit stark frequentiert. Die Drogenszenen waren somit sichtbarer und stiessen bei den Anwohnern und Geschäftsinhabern schnell auf Widerstand. So formierte sich die offene Drogenszene Berns während drei Jahren für jeweils kurze Zeit an immer neuen Orten.[10]
Wachstum und Eskalation
Ab 1988 bis Ende 1990 liess sich die offene Drogenszene auf der Kleinen Schanze unweit des Bundeshauses nieder. Hauptgrund für den erneuten Ortswechsel war die Schliessung der Kontakt- und Anlaufstelle in der Münstergasse. Am neuen Standort begann die offene Drogenszene schnell anzuwachsen: Einerseits trafen mit den Punks, den Kiffern und anderen randständigen Jugendlichen neue Szenen auf der Kleinen Schanze ein. Andererseits lösten die guten örtlichen Begebenheiten eine Sogwirkung auf viele Drogensüchtige von ausserhalb aus. Mit der Installation eines Unterstandes mit Licht und fliessendem Wasser entwickelte sich ein Betrieb, in welchem rund um die Uhr insbesondere Heroin, Kokain und Medikamente konsumiert wurden. Szenetypische Nebenerscheinungen, wie professionelle Dealer, Prostituierte, Freier und Voyeure, konnten sich relativ problemlos in das Milieu der offenen Drogenszene auf der Kleinen Schanze einnisten.[11] Ein ehemaliger Szenegänger erzählte von desolaten Zuständen und einer weit fortgeschrittenen Verelendung: Der ganze Park roch nach Erbrochenem und überall waren sogenannte „Filterlileute“, welche kein Geld mehr für den Kauf von Heroin aufbringen konnten und in herumliegenden Spritzen nach Drogenresten suchten.[12] Die Boulevardzeitung „Der Blick“ titelte 1989: „Platzspitz-Verhältnisse nicht nur in Zürich. Berner Drogenhölle vor den Augen der Bundesräte“[13] . Eine durchgeführte Grossrazzia der Polizei ergab, dass lediglich ein Drittel der Szenegänger aus der Stadt Bern stammte. Die Kleine Schanze schien tatsächlich eine grosse Anzahl Drogensüchtige von ausserhalb anzuziehen. Auch die Beschaffungskriminalität hatte ernste Ausmasse angenommen: Raubüberfälle und Hehlerei waren verbreitet, bei der Polizeirazzia wurde zudem eine Schusswaffe gefunden. Die Grösse der Ansammlung und das Ausmass der mit der Szene verbundenen Immissionen wurden von Berns Öffentlichkeit als bedrohlich empfunden, eine erneute Vertreibung stand bevor.[14] Die Szene auf der Kleinen Schanze stellte nicht nur in quantitativer Hinsicht eine Zäsur dar: Bis anhin waren Berns schnell wechselnde offenen Drogenszenen geprägt von einer beschränkten Grösse und einer verhältnismässig geringen Auffälligkeit. Folgende Aspekte kamen ab der offenen Drogenszene auf der Kleinen Schanze hinzu und blieben auch an den darauffolgenden Standorten bis zur Räumung des Kocherparks:[15]
- Unüberschaubare Grösse, 24-Stunden-Drogenkosum
- Anonymität
- Grosse Präsenz des szenetypischen Umfelds: Professionelle Grossdealer, Prostituierte, Freier, Zuhälter wie
- Hohes Gewaltniveau
- Beschleunigte Verelendung der Drogenkonsumenten. Zudem das Erscheinen der subkulturellen Gruppe der „Filterlileute“, welche sich Drogen aus den Filterrückständen anderer Konsumierender beschafften
- Massive Reaktionen der Medien und Bevölkerung
Nächster Halt der stark gewachsenen Drogenszene war die von der Kleinen Schanze gegenüberliegende Bundeshausterrasse. Abends wurden die Szenenangehörigen jeweils von der Polizei in die Nägeligasse vertrieben, wo sich die Kontakt- und Anlaufstelle der Stiftung Contact-Bern befand. Die Präsenz einer offenen Drogenszene an den Mauern des schweizerischen Regierungsgebäudes wurde von vielen als Affront empfunden, so dass auch hier eine erneute Vertreibung bevorstand.[16] Der traurige Höhepunkt erreichte Berns offene Drogenszene ab dem Frühling 1991 im Kocherpark. Grossdealer aus dem Ausland prägten hier den Schwarzmarkt, wodurch der Preis für Heroin stark sank. Auch der Handel mit gestohlenen Waren gehörte zum Alltag. Zusätzlich zum Heroinkonsum wurde von vielen Abhängigen neu auch Kokain geraucht. Das Gewaltniveau, die Verelendung der Drogensüchtigen und damit auch die Empörung in der Bevölkerung stiegen noch einmal an. Grund hierfür war in den Augen einer ehemaligen Gassenarbeiterin die Repressionspolitik der Behörden: „Aus meiner Sicht war dies ein Resultat der jahrelangen Vertreibungsstrategie“.[17] Die miserablen Zustände im Kocherpark waren vergleichbar mit denen auf dem Zürcher Platzspitz, welcher als „Needle Park“ in ganz Europa bekannt war. Nach Angaben des damaligen Kommandant-Stellvertreters der Stadtpolizei Bern hielten sich in den Sommermonaten 1991 bis zu 600 Personen im Kocherpark auf.[18] Aufgrund der Immissionen der Drogenszene im Kocherpark formierte sich in der Nachbarschaft erbitterter Widerstand. Von angrenzenden Mietern, Geschäftsinhabern und Schulen wurde die „Interessensgemeinschaft drogenfreier Kocherpark gegründet“, im Oktober 1991 folgte die Gründung des „Aktionskomitees für eine konsequente Drogenpolitik“ von Grundeigentümern in der näheren Umgebung des Kocherparks. Beide Vereinigungen verlangten die sofortige Räumung des Kocherparks.[19] Im November 1991 gab die Berner Stadtregierung schliesslich bekannt, die offene Drogenszene im Kocherpark schrittweise auflösen zu wollen. Das Fehlschlagen der bisherigen Strategie der kontinuierlichen Vertreibungen erkannte nun auch die Stadtberner Exekutive. Der Fürsorgedirektion teilte der Lokalpresse mit, die Stadt Bern sei nicht mehr bereit, der „Drogensupermarkt für die halbe Schweiz, insbesondere die Westschweiz“ zu sein.[20] Die Problematik der grossen Anzahl auswärtigen Besucher sollte mit Fernhaltemassnahmen entschärft werden. Anfang 1992 wurde beschlossen, die offene Drogenszene endgültig zu schliessen.[21] Einige Wochen später räumte die Polizei das Areal und vertrieb die Drogenabhängigen um ein weiteres Mal. Dies bedeutete gleichzeitig auch das Ende der Odyssee von Berns offener Drogenszene, denn im Zuge der Schliessung des Kocherparks fasste der Gemeinderat den Entschluss, künftig keine offenen Drogenszenen in der Bundesstadt mehr dulden zu wollen. Neue Szenenbildungen wurden in den Folgemonaten und Folgejahren mit grosser Repression bekämpft. Nach Polizeigesetz war eine Szenebildung bereits ab drei Personen erfüllt. Der Handel und Konsum mit Drogen verzettelte sich so in der Innenstadt.[22]
Belege
- ↑ StAB: Drogenpolitik allgemein (1972-1993). Dossier: StaB BB 13.1.568.
- ↑ Der Bund: …nur ein Eindruck von grosser Hilflosigkeit, 02.11.1972. S. 15. StAB: Drogenpolitik allgemein (1972-1993). Dossier: StaB BB 13.1.568.
- ↑ Berner Tagblatt: Drogen-Banditen bedrohen auch die Schweiz, 13.12.1971. StAB: Drogenpolitik allgemein (1972-1993). Dossier: StaB BB 13.1.568.
- ↑ Berner Tagblatt: Aufgepasst vor Drogen und Pornographie, 19.07.1971. S. 7. StAB: Drogenpolitik allgemein (1972-1993). Dossier: StaB BB 13.1.568.
- ↑ Der Bund: Trip ins Drogenverhängnis. Drogensüchtige Schweizer vegetieren in Indien, 24.10.1974. S. 7. StAB: Drogenpolitik allgemein (1972-1993). Dossier: StaB BB 13.1.568.
- ↑ Neue Berner Zeitung: Auch Läuse und Wanzen lebten in der Kommune, 10.09.1971. StAB: Drogenpolitik allgemein (1972-1993). Dossier: StaB BB 13.1.568.
- ↑ Berner Tagblatt: Immer mehr Schweizer lieben harte Drogen Berner Tagblatt, 23.11.1974.S. 22. StAB: Drogenpolitik allgemein (1972-1993). Dossier: StaB BB 13.1.568.
- ↑ Blatt: Bundesamt für Statistik. In der Schweiz beschlagnahmte Drogen (in Kilogramm). StAB: Drogenpolitik allgemein (1972-1993). Dossier: StaB BB 13.1.569.
- ↑ „Fixerorte. 20 Jahre Kontakt- und Anlaufstelle Contact Netz Bern“. Film von Bernhard Giger. Bern 2006. 45′. Min. 1.05-1.45.
- ↑ Die offene Drogenszene. Zwischenbericht über die stiftungsinterne Diskussion zur Frage der Haltung gegenüber der offenen Drogenszene, wie sie sich heute präsentiert, 23.10.1991. SOZARCH: Dokumentation Subkultur Bern (Ar. 472) Dossier: SOZARCH Ar. 472.10.7.
- ↑ Ebenda
- ↑ Fixerorte: Min. 8.00-12.20.
- ↑ Der Blick: Platzspitz-Verhältnisse nicht nur in Zürich. Berner Drogenhölle vor den Augen der Bundesräte, 1989. SOZARCH: Dokumentation Subkultur Bern (Ar. 472) Dossier: SOZARCH Ar. 472.10.8.
- ↑ Ebenda
- ↑ Die offene Drogenszene. Zwischenbericht über die stiftungsinterne Diskussion zur Frage der Haltung gegenüber der offenen Drogenszene, wie sie sich heute präsentiert, 23.10.1991. SOZARCH: Dokumentation Subkultur Bern (Ar. 472) Dossier: SOZARCH Ar. 472.10.7.
- ↑ Ebenda
- ↑ Fixerorte: Min. 12.20-14.15
- ↑ Der Bund, 01.11.1991. SOZARCH: Dokumentation Subkultur Bern (Ar. 472) Dossier: SOZARCH Ar. 472.10.8.
- ↑ Berner Zeitung, 17.10.1991. SOZARCH: Dokumentation Subkultur Bern (Ar. 472) Dossier: SOZARCH Ar. 472.10.8.
- ↑ Der Bund, 1.11.1991. SOZARCH: Dokumentation Subkultur Bern (Ar. 472) Dossier: SOZARCH Ar. 472.10.8.
- ↑ Brief: Auflösung der offenen Drogenszene in Bern. Regierungsrat schreibt mitbetroffenen Kantonen, 27.02. 1992. SOZARCH: Dokumentation Subkultur Bern (Ar. 472) Dossier: SOZARCH Ar. 472.10.8.
- ↑ Brief: Gegen Szene-Neubildung auf der Kleinen Schanze, 01.07.1992. SOZARCH: Dokumentation Subkultur Bern (Ar. 472) Dossier: SOZARCH Ar. 472.10.8.