Ignorantia legis non excusat

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist die aktuelle Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 13. April 2020 um 13:00 Uhr durch imported>Aka(568) (→‎Strafrecht: Punkt hinter Abkürzung gesetzt).
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

Ignorantia legis non excusat, manchmal auch Ignorantia iuris non excusat oder Ignorantia iuris neminem excusat ist ein Rechtsgrundsatz aus dem römischen Recht, der im deutschen Sprachraum als Volksweisheit „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“ bekannt ist.

Deutschland

Allgemeines

Diese Volksweisheit findet sich im deutschen Strafrecht beim vermeidbaren Verbotsirrtum und kann auch bei Fahrlässigkeitsdelikten eine Rolle spielen.

Im Unterschied zu einem Irrtum über die tatsächlichen Verhältnisse („ignorantia facti“) schließt ein Rechtsirrtum, insbesondere ein Verbotsirrtum, die Schuld eines Täters nach deutschem Recht nur dann aus, wenn der Irrtum nicht vermeidbar war (§ 17 StGB).

Beide Grundsätze betreffen die Irrtumslehre im Strafrecht und bei Ordnungswidrigkeiten, die in beiden Rechtsgebieten weitgehend identisch ist.

Unwissenheit bezieht sich auf die fehlende oder mangelnde Kenntnis des Täters über einzelne Tatbestandsmerkmale, die als Rechtsfolge eine Bestrafung nach sich ziehen. Nach der Legaldefinition der § 16 StGB und § 11 OWiG handelt nicht vorsätzlich, wer auch nur einen einzigen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört. Das trifft auch zu, wenn der Irrtum darauf zurückzuführen ist, dass der Täter in Gedankenlosigkeit handelte.[1] Sprachlich ist der Begriff „Irrtum“ irreführend, denn beim so genannten Tatbestandsirrtum geht es nur um die positive Kenntnis bestimmter Tatbestandsmerkmale, beim Verbotsirrtum lediglich um das Bewusstsein, etwas Unerlaubtes zu tun; eine positive gegenteilige Vorstellung vom Tatbestandsmerkmal, was einen Irrtum eigentlich ausmacht, ist hingegen nicht erforderlich.

Der Tatbestandsirrtum schließt den Vorsatz aus, lässt aber eine Ahndung fahrlässigen Verhaltens zu, soweit gesetzliche Vorschriften auch fahrlässiges Handeln unter Strafe beziehungsweise unter eine Bußgeldandrohung stellen. Der Verbotsirrtum hingegen schließt nicht den Vorsatz aus, sondern berücksichtigt ein entschuldbares Fehlen des Unrechtsbewusstseins, das zur Straffreiheit führen kann, sofern es unvermeidbar war. Das Bewusstsein, etwas Unerlaubtes zu tun, setzt nicht voraus, dass konkret jede Verbotsnorm bekannt ist. Vielmehr genügt ein Bewusstsein davon, dass die Tat ein Unrecht von der in der betreffenden Norm beschriebenen Art ist. Es ist also einerseits keine positive Gesetzeskenntnis nötig, aber andererseits reicht eine Bewertung eines Handelns als sozialwidrig oder -schädlich oder moralisch verwerflich nicht aus.[2]

Deutsche Rechtsgeschichte

Einige Staaten des deutschen Bundes hatten in ihre Strafgesetzbücher eine Vorschrift aufgenommen, wonach Unkenntnis des Strafgesetzes die Strafbarkeit nicht ausschließe (so Braunschweig 1840 in § 31, Hessen 1841 in Art 41, Sachsen-Altenburg 1841 in Art 68, Baden 1845 in § 73, die Thüringischen Staaten 1852 in Art 63 Abs. 3, Österreich 1852 in § 3, Sachsen 1855 in Art 95 Abs. 2). Bayern hatte im Jahr 1848 die entgegengesetzte Vorschrift des Strafgesetzbuchs von 1813 (Artikel 39) aufgehoben. Er basierte auf der Lehre von Anselm von Feuerbach, die noch die Kenntnis des Strafgesetzes für dessen Wirksamkeit forderte.[3] Bei der Schaffung des Preußischen Strafgesetzbuchs von 1851 hatte man bewusst von einer entsprechenden Vorschrift abgesehen, weil „die Unwirksamkeit des Rechtsirrtums schon gemeinen Rechtens sei“[4] und im Einführungsgesetz vom 14. April 1851 den Titel 20 Teil II des Allgemeinen Landrechts mit seinen Bestimmungen über die Wirkung der Unkenntnis der Strafgesetze aufgehoben.

Strafrecht

Die heutige strafrechtliche Irrtumslehre geht davon aus, dass eine im Irrtum begangene Straftat nicht bestraft werden kann beziehungsweise milder bestraft wird, wenn der Irrtum hätte vermieden werden können (§§ 16, 17 StGB). Dem Täter muss bei Begehung der Tat die Einsicht fehlen, Unrecht zu tun. Bei Fehlen des Unrechtsbewusstseins liegt ein Verbotsirrtum vor. Dabei kann der Irrtum auf fehlender Gesetzeskenntnis oder zu enger Auslegung der Norm (so genannter Subsumtionsirrtum als Unterform des Verbotsirrtums) beruhen. Dieser Irrtum muss unvermeidbar sein. Ein unvermeidbarer Verbotsirrtum wird bei ungeklärten Rechtsfragen angenommen, die in der juristischen Literatur nicht einheitlich beantwortet werden, insbesondere wenn die Rechtslage insgesamt sehr unklar ist[5] oder eine kundige Rechtsberatung zu keinem eindeutigen Ergebnis führt.[6] Ein Irrtum ist vermeidbar, wenn der Täter fahrlässig einen Tatbestand rechtswidrig verwirklicht, indem er objektiv gegen eine Sorgfaltspflicht verstößt und durch diesen Pflichtverstoß eine Rechtsgutverletzung verursacht, die er nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vorhersehen konnte.[7] Ein vermeidbarer Irrtum führt zur Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB. Ein Tatbestandsirrtum schließt gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Begehungsweise aus, denn Vorsatz setzt die Kenntnis aller zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden Umstände voraus.

Das Unrechtsbewusstsein ist nach der Schuldtheorie – der der BGH folgt – ein selbständiges Schuldelement.[8] Zum Entfallen der Schuld führt gemäß § 17 Satz 1 StGB nur ein unvermeidbarer Verbotsirrtum. Dafür wird vom Täter verlangt, dass er trotz gehöriger Gewissensanstrengung die Verbotenheit seines Verhaltens nicht erkennen konnte. Bei Vermeidbarkeit steht es dem Gericht frei, ob es die Strafe mildern will (§ 17 Satz 2 StGB). Diese Bestimmung stellt die einzige Ausnahmeregelung von der alten deutschen Volksweisheit dar und kommt selten zur Anwendung. Der vom Reichsgericht übernommene Satz, der Irrtum über das Strafgesetz schließe die Strafbarkeit nicht aus, führt demnach bei unverschuldetem Verbotsirrtum zur Bestrafung, obwohl ein Schuldvorwurf gegen den Täter nicht erhoben werden kann und damit zur Verletzung des Grundsatzes allen Strafens, dass Strafe Schuld voraussetzt.[8] Was Recht und Unrecht ist, sei nicht mehr selbstverständlich. Damit eröffne sich die Möglichkeit des Verbotsirrtums, und zwar auch des unverschuldeten.[8]

Ordnungswidrigkeitenrecht

Auch im Ordnungswidrigkeitenrecht schützt der Irrtum (die Unwissenheit) nicht vor der Ahndung mit einer Geldbuße. Fehlt dem ordnungswidrig Handelnden das Unrechtsbewusstsein, befindet er sich im Verbotsirrtum. Nach § 11 OWiG liegt ein Irrtum nicht nur bei einer falschen Vorstellung, sondern auch beim Fehlen jeglicher Vorstellung vor. Ein ordnungswidriges Verhalten wird mangels Vorwerfbarkeit nur dann nicht geahndet, wenn der Irrtum nicht zu vermeiden war.[9] Ordnungswidriges Handeln ist vermeidbar, wenn unter Anspannung aller geistigen Erkenntniskräfte und sittlichen Wertvorstellungen[10] Verbotenheit und Erlaubtheit abgegrenzt werden können. Es kommt darauf an, ob der Täter nach seinen individuellen Fähigkeiten[11] und nach objektiv zu fordernder Sorgfalt (notfalls durch Prüfung und Erkundigung) zur Unrechtseinsicht hätte kommen können.

Das Ordnungswidrigkeitenrecht beinhaltet keine dem § 17 Abs. 2 StGB entsprechende Milderungsvorschrift. Im Falle eines vermeidbaren Verbotsirrtums ist jedoch die vorsätzliche Bußgelderfüllung milder zu beurteilen. Wer ohne Unrechtsbewusstsein handelt, verhält sich nicht vorwerfbar, wenn er die mangelnde Unrechtseinsicht nicht vermeiden konnte (§ 11 Abs. 2 OWiG). Das Unrechtsbewusstsein fehlt, wenn der Täter die Bußgeldnorm nicht kennt. Wer in unvermeidbarer Unkenntnis etwas Unerlaubtes tut, handelt ohne Unrechtsbewusstsein und damit insgesamt nicht vorwerfbar.[9] Wenn dem ordnungswidrig Handelnden jegliches Unrechtsbewusstsein fehlt, befindet er sich im Verbotsirrtum. War der Verbotsirrtum nicht zu vermeiden, wird die Tat mangels Vorwerfbarkeit nicht geahndet. Das Gesetz geht allerdings davon aus, dass bei einem einsichtsfähigen Täter (§ 12 OWiG) das Vorhandensein von Unrechtsbewusstsein die Regel und sein Fehlen die Ausnahme darstellt.

Österreich

Der alte Rechtsgrundsatz „ignorantia legis non excusat“ gilt auch in Österreich, denn in § 2 des ABGB wird klargestellt: „Sobald ein Gesetz gehörig kund gemacht worden ist, kann sich niemand damit entschuldigen, daß ihm dasselbe nicht bekannt geworden sey.“ Diese Bestimmung wollte ursprünglich die unwiderlegbare Vermutung des Verschuldens an der Unkenntnis einer Gesetzesvorschrift aufstellen.[12] Inzwischen ist man von der Auslegung als unwiderlegbarer Fiktion des § 2 ABGB abgerückt und legt die Vorschrift dahingehend aus, dass sich niemand allein mit Gesetzesunkenntnis entschuldigen kann.[12] Die Anwendung eines geltenden Gesetzes hängt nicht von der Kenntnis des Gesetzesinhalts durch die Normadressaten ab.[13] Im früheren österreichischen Strafrecht (1852–1945) war geregelt, dass sich mit der Unwissenheit des gegenwärtigen Gesetzes niemand entschuldigen kann (§§ 3, 233 ÖStG).[14]

Auch das österreichische Strafgesetzbuch kennt den Verbotsirrtum. Er ist als Rechtsirrtum in § 9 StGB normiert.

Schweiz

In der Schweiz gilt der zivilrechtliche Rechtsgrundsatz „Rechtsunkenntnis schadet“ (ignorantia iuris nocet). Wer das Gesetz nicht kennt, schadet sich selbst. Die Behauptung, man hätte eine Vorschrift nicht gekannt, wird vor Gericht nicht gehört. Im Schweizer Strafrecht sieht Art. 21 StGB vor, dass Rechtsirrtum nicht oder milder bestraft wird, es sei denn, dieser war vermeidbar.

Common Law

In angelsächsischen Ländern kann man sich bei der Geltung des Common Law vertragsrechtlich nicht damit entschuldigen, seinen Pflichten wegen eines Rechtsirrtums nicht nachgekommen zu sein. William David Evans hatte schon 1806 darauf aufmerksam gemacht, dass die Maxime „ignorantia legis non excusat“ für das Gebiet der vertraglichen Pflichtverletzungen gelte („no man shall, under the pretence of an ignorance of the law, excuse himself from the performance of his own obligations“).[15][16]

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Erich Göhler, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 13. Aufl. 2002, Rdnr. 1 zu § 11.
  2. OLG Stuttgart NStZ 1993, 344; OLG Hamm NJW 2003, 1061.
  3. Carsten-Friedrich Stuckenberg, Vorstudie zum Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht, 2007, S. 592 f.
  4. Theodor Goltdammer: Die Materialien zum Strafgesetzbuche für die Preußischen Staaten, 1851, Teil I § 44 Anm. IV.
  5. vgl. Wolfgang Joecks in: Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl., § 17 Rn. 58
  6. LG Köln, Urteil vom 7. Mai 2012, Az.: Wa 151Ns 169/11Beschneidung, S. 8 f. (PDF; 68 kB)
  7. vgl. Thomas Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 15 Rdnr. 12
  8. a b c @1@2Vorlage:Toter Link/marxen.rewi.hu-berlin.de(Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven: BGHSt 2, 194(PDF; 128 kB))
  9. a b Peter Schwacke, Recht der Ordnungswidrigkeiten, 2008, S. 38 f.
  10. BGHStE 4, 1 ff.
  11. BGHStE 21, 18, 20
  12. a b Helmut Koziol/Peter Bydlinski/Raimund Bollenberger, Kurzkommentar zum ABGB, 2007, S. 2 f.
  13. JBl 1960, 604
  14. Helmut Fuchs, Österreichisches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2004, S. 185 f.
  15. niemand darf sich unter dem Vorwand der Unkenntnis über gesetzliche Bestimmungen von der Erfüllung seiner Verpflichtungen befreien
  16. Hans Stoll u. a., Festschrift für Hans Stoll zum 75. Geburtstag, 2001, S. 105 und Fußnote 174