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Disputatio d. Iohannis Eccii, et p. Martini Luther in studio Lipsensi futura, Leipzig: Martin Landsberg, 1519. Exemplar Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Sign.: I F 149a

Als Leipziger Disputation wird ein akademisches Streitgespräch zwischen dem Ingolstädter Theologieprofessor Johannes Eck und den Wittenberger Theologieprofessoren Andreas Bodenstein genannt Karlstadt und Martin Luther bezeichnet, das vom Montag, dem 27. Juni bis Samstag, dem 16. Juli 1519 in Leipzig stattfand. Im Mittelpunkt stand die Disputation über den päpstlichen Primat, der von Luther kritisch in Frage gestellt und von Eck verteidigt wurde. Eine öffentliche Diskussion über dieses Thema hatte es so in der Geschichte des Christentums noch nicht gegeben.

Vorgeschichte

Vor Beginn der Auseinandersetzungen standen Johannes Eck und Martin Luther in einem freundschaftlichen Briefkontakt. Der Nürnberger Diplomat und Humanist Christoph Scheurl hatte die beiden miteinander bekannt gemacht. Johannes Eck übersandte an Martin Luther seine Wiener Disputationsthesen, und Luther ließ Eck seine Disputationsthesen gegen die scholastische Theologie und über den Ablass überbringen.[1]

Eck verfasste Anmerkungen (Adnotationes) zu achtzehn von Luthers 95 Thesen, die für den Eichstätter Fürstbischof Gabriel von Eyb als Kanzler der Universität Ingolstadt bestimmt waren. Der Augsburger Domherr Bernhard Adelmann ließ diesen Text im März 1518 Luther zukommen.[2] Eck hatte seine in polemischem Ton gehaltene Schrift Obelisci, Spießchen, genannt. Die antike Literaturwissenschaft benutzte Obelisci als Zeichen für unechte, auszumerzende Textstellen. Im Mittelalter wurden ketzerische Sätze auf diese Weise gekennzeichnet. So war der Titel von Eck auch gemeint.[3] Schon hier behauptete Eck, Luthers Verständnis der Kirche (Ekklesiologie) verbreite „böhmisches Gift“. Der Vorwurf Ecks, Luthers stehe dem als Ketzer in Konstanz verbrannten Jan Hus nahe, zieht sich als Leitmotiv durch die folgende Auseinandersetzung, bis das Thema beim Rededuell in Leipzig zwischen Eck und Luther öffentlich ausgetragen wurde.[4]

Luther verfasste 1518 eine Gegenschrift mit dem auf die Obelisci Bezug nehmenden Titel Asterisci, Sternchen. Mit diesen textkritischen Zeichen wurde der wertvollere Text markiert. Über Wenzeslaus Linck sandte Luther Eck die Asterisci am 19. Mai zu.[5] In dem beigefügten Begleitbrief zeigte sich Luther verletzt über Ecks scharfen Ton. Scheurl unternahm im Juni einen Versöhnungsversuch zwischen Eck und Luther.

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Verteidigungsschrift Ecks gegen Karlstadt (1518)

Unterdessen hatte Karlstadt, Dekan der theologischen Fakultät der Wittenberger Universität, die Obelisci gelesen. Er publizierte mit Datum vom 9. Mai 1518 ohne Luthers Wissen 406 Thesen (380 plus 26 für den Druck hinzugefügte), von denen sich die Thesen 103 bis 213 gegen Eck richteten. Ihm ging es darum, den guten Ruf der Universität zu verteidigen. Diese sogenannten Apologeticae conclusiones stellen zugleich Karlstadts persönliche theologische Standortbestimmung dar. Die Bibel war für ihn die höchste Autorität. Er vertrat die Unfähigkeit des menschlichen Willens zum Guten und die Passivität des Menschen gegenüber der Gnade Gottes.[6] Über diese Thesen wollte er im Sommer 1518 öffentlich disputieren. Eck antwortete brieflich: Er berief sich auf die frühere Freundschaft, die Obelisci seien den Wittenbergern durch eine Indiskretion bekannt geworden, und ihm liege nicht an einem Streit. Auch Luther schrieb noch einmal deeskalierend an Eck, doch Karlstadts Disputationsvorhaben hatte nun seine Eigendynamik gewonnen – Eck musste reagieren. Er tat das mit seiner Verteidigungsschrift, die am 14. August 1518 im Druck erschien (Defensio contra amarulentas D. Andreae Bodenstein Carolstatini invectiones). Auf dem Titelblatt schlug er Karlstadt vor, die strittigen Fragen vom apostolischen Stuhl und den Universitäten Rom, Paris oder Köln entscheiden zu lassen. Als Datum für die Disputation schlug er den 3. April 1519 vor, den Ort solle Karlstadt bestimmen. Während einer Verfahrenspause auf dem Reichstag zu Augsburg im Oktober 1518 trafen sich Luther und Eck und verständigten sich über die Bedingungen der Disputation. Luther trat dabei als Unterhändler für Karlstadt auf.[7] Die Wittenberger schlugen Leipzig oder Erfurt vor, und Eck wählte Leipzig.[8]

Eck wandte sich nun über Herzog Georg von Sachsen an die Universität Leipzig, um deren Zustimmung zur Disputation zu erhalten. Aber die Leipziger Theologen sträubten sich zunächst, da die Angelegenheit ihrer Meinung nach auf einer Provinzialsynode oder von päpstlichen Kommissaren verhandelt werden solle. In diesem Sinne verwandte sich auch Bischof Adolf von Merseburg beim Herzog; dem Landesherrn war es aber ein persönliches Anliegen, die Disputation stattfinden zu lassen.[9] Georg von Sachsen war für eine geistliche Laufbahn ausgebildet worden und daher imstande, der theologischen Diskussion zu folgen und sich selbst ein Urteil zu bilden. Vor allem wollte er mit der Ausrichtung der Disputation das Ansehen seiner Landesuniversität vermehren.[10]

Als textliche Grundlage zur Disputation mit Karlstadt veröffentlichte Eck am 29. Dezember 1518 zwölf Thesen. Dabei griff er aber Themen aus Luthers 95 Thesen auf, die Karlstadt gar nicht erwähnt hatte: Absolution, Fegefeuer, Ablass. Besonders offensichtlich war das bei der Schlussthese, die auf Luthers Kommentar zu seinen 95 Thesen (den Resolutiones) Bezug nahm: die Oberherrschaft der römischen über die anderen Kirchen habe, so Luther, vor Papst Silvester I. nicht bestanden. Damit wurde das Thema des päpstlichen Primats auf die Agenda der Leipziger Disputation gesetzt.[11]

Luther, der zu diesem Zeitpunkt gar nicht als Disputationsteilnehmer vorgesehen war, reagierte mit 12 Gegenthesen, die er einem offenen Brief an Karlstadt vom 4./5. Februar 1519 beifügte. In der am 14. März 1519 gedruckten Disputatio et excusatio Johannis Eccii adversus criminationes F. Martini Lutter ordinis Eremitarum erweiterte Eck seine Thesenreihe. Die brisante Schlußthese zur Frage der Superiorität der römischen Kirche wurde dadurch zu Ecks dreizehnter These. Luther formulierte 13 Gegenthesen (Disputatio et excusatio adversus criminationes Johannis Eccii). Mit der Schlußthese zum päpstlichen Primat ging Luther über seine bisherigen Äußerungen zum Thema hinaus: „Daß die römische Kirche über allen anderen steht, wird bewiesen aus den eiskalten Dekreten der römischen Päpste in den letzten 400 Jahren, gegen welche die bewährte Geschichte der ersten 1100 Jahre, der Text der Hl. Schrift und der Beschluß des Nizänischen Konzils, des heiligsten von allen, steht.“[6] Dieses Konzil hatte die altkirchlichen Patriarchate für gleichberechtigt erklärt.[12]

Während Luther von Eck und Herzog Georg weiterhin im Unklaren gelassen wurde, ob er als Disputationsteilnehmer überhaupt zugelassen würde, spitzte sich der Konflikt zwischen Eck und Luther durch ihren folgenden Briefwechsel auf die Autorität des Papstes zu.[13] Karlstadt positionierte sich in dieser Frage deutlich anders als Luther. In seinen Thesen gegen Eck, die er im April 1519 publizierte, hob er hervor, dass er ein „Verehrer des Papstes und gehorsames Glied der Kirche“ sei.[14] Aber nicht nur Karlstadt, sondern auch andere Wittenberger Kollegen und der Nürnberger Scheurl fanden Luthers Schlußthese problematisch. Auf Spalatins Nachfrage erläuterte Luther, Eck habe ihm eine Falle gestellt. Aber Eck wolle wahrscheinlich mit den älteren Primatsansprüchen der Päpste argumentieren, und er bereite sich speziell darauf vor, diese zu widerlegen. Dazu trieb er eingehende Studien des Kirchenrechts und der Kirchengeschichte. Deren Ergebnis ist die am 6. Juni 1519 veröffentlichte Abhandlung Resolutio Lutheriana super propositione decima tertia de potestate papae.[15] „Diese Schrift hat gegenüber der Disputation den Vorzug, daß Luther hier weitaus systematischer seine Auffassung vom Papsttum entfalten konnte, als es in der Disputation möglich war,“ so Bernhard Lohse.[16]

Ablauf

Die Zeitgenossen erwarteten von der Leipziger Disputation eine Klärung der von Luther seit den 95 Thesen aufgeworfenen Fragen. Christopher Spehr charakterisiert dieses Ereignis als „Theologenkongress von nationaler Bedeutung mit öffentlich-inszeniertem Rahmenprogramm.“[17] Herzog Georg war zeitweise persönlich anwesend; die Organisation und Leitung der Veranstaltung hatte er seinem Rat Caesar Pflugk und seinem Kanzler Johann Kochel übertragen. Hieronymus Emser nahm als Hofgeistlicher des Herzogs teil, und der Abt von Lehnin war vom Brandenburger Bischof entsandt worden. Wegen des großen öffentlichen Interesses waren zahlreiche Beobachter angereist: beispielsweise der Erfurter Johann Lang, Thomas Müntzer, der kursächsische Rat Hans von der Planitz und der mansfeldische Rat Johann Rühel. Auch ein böhmischer Orgelmacher namens Jakubek war Zeuge der Disputation.[18] Eck behauptete mehrfach, in der Zuhörerschaft säßen etliche aus Prag angereiste „Häretiker“.[19]

Johannes Eck traf bereits am 22. Juni 1519 in Begleitung eines Dieners in Leipzig ein. Die Leipziger Lokaltradition, Eck habe beim Bürgermeister Benedikt Beringershain in dessen Wohnhaus Petersstraße / Ecke Thomasgäßchen gewohnt, ist unbelegt.[20] Emser organisierte für Eck ein Ehrengeleit aus Leipziger Studenten. Am 24. Juni zog die Wittenberger Delegation durch das Grimmasche Tor in die Stadt ein: Im vorderen Wagen saß Karlstadt, der zahlreiche Bücher mitführte. Im zweiten Wagen saßen Luther und Melanchthon zusammen mit dem späteren Herzog Barnim IX. von Pommern-Stettin, damals Ehrenrektor der Wittenberger Universität. Nikolaus von Amsdorf und Johann Agricola hatten sich als Kollegen der Delegation angeschlossen. Rund 200 bewaffnete Wittenberger Studenten gingen als Ehrengeleit neben den Wagen her. Während des etwa dreiwöchigen Streitgespräches wohnten die Wittenberger Reformatoren bei dem Buchdrucker Melchior Lotter in dessen Haus in der Hainstraße. Randalierende Wittenberger Studenten stellten den Leipziger Stadtrat vor Probleme. Ihr Quartier wurde bewacht.[21] Noch unmittelbar vor Beginn der Veranstaltung erließ Adolf von Merseburg ein Verbot der Disputation, das an einer Kirchentür angeschlagen wurde; Herzog Georg ließ den Boten verhaften, das Verbotsmandat dem Bischof zurückschicken und traf Vorkehrungen, etwaige Störungen der Disputation zu verhindern.[22]

Da die Universität Leipzig keinen großen Saal zur Verfügung stellen konnte, fand die Disputation in der Hofstube der Pleißenburg statt. Der Raum war mit Tapisserien hergerichtet. Für die Kontrahenten waren zwei Katheder aufgestellt. Die Zuhörer wählten ihre Plätze nahe dem Katheder des von ihnen bevorzugten Disputanten, dabei saßen die Vertreter der Leipziger Universität auf der Seite Ecks. 76 bewaffnete Leipziger Bürger sicherten die Veranstaltung ab.[23]

Der 26. Juni war der Absprache organisatorischer Fragen zwischen Eck und Karlstadt gewidmet. Die Absprachen zwischen Eck und Luther wurden erst am Folgetag getroffen – weil Luther bis zum Beginn der Veranstaltung offiziell als Begleiter Karlstadts, aber nicht als Disputant galt. Schiedsrichter der Disputation zwischen Karlstadt und Eck sollte die Universität Erfurt sein, bei der Disputation Ecks mit Luther dagegen die Universitäten Erfurt und Paris gemeinsam. Eck hätte gerne nach „italienischer“ Weise in freier Rede disputiert. So hätte er als geübter Disputationsredner mit seiner Schlagfertigkeit punkten können. Karlstadt ließ sich aus gutem Grund nicht darauf ein. Vier Notare protokollierten alle Reden, die ihnen von den Disputierenden in die Feder diktiert wurden. Dadurch sank der Unterhaltungswert gegenüber der „italienischen“ Disputation, andererseits konnte das Publikum bei dem geruhsamen Tempo der Argumentation genauer folgen. Wie sich herausstellte, schrieben auch einige Zuhörer mit. Der Plan, die Akten der Disputation nur dem Schiedsgericht zugänglich zu machen, wurde durch diese zirkulierenden inoffiziellen Mitschriften gegenstandslos.[24]

Die Disputation begann am 27. Juni mit einem Festakt. Nach der Begrüßung des gesamten Auditoriums durch Simon Pistoris den Älteren ging man gemeinsam zum Gottesdienst in die Thomaskirche, wo der Thomanerchor eine eigens vom Thomaskantor Georg Rhau komponierte zwölfstimmige Messe aufführte. Es folgte die Prozession zur Pleißenburg. Die Eröffnungsrede in der Hofstube hielt Petrus Mosellanus, der als humanistischer Ireniker zu einem fairen Disputationsstil aufrief. Daraufhin knieten alle Anwesenden nieder, und die Thomaner sangen, begleitet von den Stadtpfeifern, „Komm heiliger Geist“.[23]

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Die erste bildliche Darstellung Luthers, Druck einer Predigt, die Luther während der Leipziger Disputation hielt (1519)

Am 29. Juni, dem Peter- und Paulstag, fand keine Disputation statt. Barnim XI. von Pommern hatte sich eine Predigt Luthers in der Schlosskirche gewünscht. Man konnte ihm das schlecht abschlagen. Wegen Überfüllung der Kirche fand die Predigt dann im Disputationssaal statt. Zufällig war Mt 16,13–19 LUT Tagesevangelium. Das war für Luther eine willkommene Gelegenheit, seine Position auch in Predigtform vorzutragen; diese Predigt erschien überarbeitet später im Druck. Eck hielt anschließend in mehreren Leipziger Kirchen Gegenpredigten.[25]

Das Streitgespräch folgte der Form von These und Gegenthese. Der Auftritt der Disputanten wurde vom Publikum verglichen; es liegen mehrere Beschreibungen vor. Mosellanus beispielsweise schrieb, Luther sei mittelgroß und hager, höflich und freundlich, aber ein scharfer Polemiker. Karlstadt sei klein von Gestalt, habe eine dunkle Gesichtsfarbe, eine undeutliche Stimme und sei reizbar. Eck dagegen sei auffallend groß und kräftig, ein guter Redner mit vortrefflichem Gedächtnis. Durch die schiere Menge an angeführten Zitaten und Argumenten, die oft nicht zum Thema gehörten, verwirre er seine Gegner.[26]

Es gab drei Gesprächsgänge und siebzehn Disputationstage:

  • 27. und 28. Juni, 30. Juni bis 3. Juli: Eck gegen Karlstadt;
  • 4. bis 9. Juli und 11. bis 13. Juli: Eck gegen Luther;
  • 14. und 15. Juli: Eck gegen Karlstadt.

Die Dauer der Veranstaltung war dadurch vorgegeben, dass Kurfürst Joachim von Brandenburg im Anschluß daran bei Herzog Georg von Sachsen zu Gast war, die Pleißenburg also anderweitig genutzt werden sollte.[27]

Positionen des Disputs

Eck und Karlstadt disputierten über den freien Willen und sein Verhältnis sowohl zur göttlichen Gnade wie zu den guten Werken. Karlstadt war kein guter Redner, und Eck konnte seinen Vorteil auf diesem Gebiet dadurch zur Geltung bringen, dass er Karlstadt das Zitieren aus Büchern verbieten ließ. Argumentativ war Eck in der schwierigeren Position, denn er vertrat die Kooperation des menschlichen Willens mit der göttlichen Gnade, wobei es den Anschein des Pelagianismus zu vermeiden galt. Es gelang Karlstadt aber nicht, die Schwächen von Ecks Argumentation für sich zu nutzen.[28]

Der Schlagabtausch zwischen Eck und Luther gilt als Höhepunkt der Leipziger Disputation. Ab dem 4. Juli wurde über den Primat diskutiert. Eck war bereit, seine Argumente überwiegend aus der Bibel und den Schriften der Kirchenväter zu nehmen. Damit kam er Luther entgegen. Die Scholastik war in dieser Diskussion von untergeordneter Bedeutung. Eck konnte für seine Position, dass der Papst aufgrund göttlichen Rechts der Monarch der Kirche sei, mit dem Neuen Testament argumentieren. Offenbar hatte Simon Petrus eine Sonderstellung unter den Jüngern. Luther stützte sich zur Relativierung der von Eck angeführten Bibelstellen auf die Autorität des Paulus: Christus sei das Haupt der Kirche. Eck las die Bibel grundsätzlich mit den Interpretationen der Kirchenväter, während Luther bereit war, nur mit der Bibel (und Augustinus) gegen die Kirchenväter zu argumentieren. Die Diskussion verlagerte sich auf das Feld der Kirchengeschichte, wofür sich Luther besonders präpariert hatte. Er vertrat einen Ehrenvorrang des Bischofs von Rom, aber die Selbständigkeit der östlichen Kirchen sei eine historische Tatsache. Die ekklesiologische Wirklichkeit der Ostkirchen stehe gegen den Primatsanspruch der römischen Kirche. Eck dagegen behauptete, die Orthodoxen seien als Schismatiker und Häretiker von der römischen Kirche abgefallen.[29] Eck begründete den päpstlichen Primat mit der Bulle Unam sanctam (1302), in dem die Heilsnotwendigkeit des päpstlichen Primats in pointierter Form gelehrt wurde.[30] Er betonte, dass John Wyclif und Jan Hus aufgrund ihrer Kritik an dieser Bulle als Ketzer verdammt worden seien. Luther ging darauf ein und formulierte provokant, dass nicht alle Thesen von Hus, die das Konstanzer Konzil verdammt hatte, häretisch seien. Einige davon seien sogar ganz christlich und evangelisch.[31] (Herzog Georg empörte das so, dass er fluchend aufsprang.) Während Luther inhaltlich über die verurteilten Sätze diskutieren wollte, reichte für Eck die bloße Tatsache, dass das Konzil sie für häretisch erklärt hatte. Eck trat nun als Verteidiger des Konstanzer Konzils auf. Luther wollte eigentlich an der Autorität von Konzilsentscheidungen festhalten, wurde aber durch Ecks geschickte Argumentation genötigt, ihre Irrtumsfähigkeit zuzugeben.[32] Thomas Kaufmann beurteilt diese kritische Phase der Disputation so: „Mit der Affirmation irgendeines verurteilten Artikels war für Eck eo ipso der Sachverhalt der Ketzerei gegeben; dass Luther unter den ‚verdammenswürdigen Irrtümern‘ Hussens christliche Aussagen finden zu können meinte, interpretierte er logisch zwingend als Infragestellung der Autorität der Konzilien. Diese formale Kriteriologie reichte nach Eck für den Nachweis der Ketzerei Luthers aus.“[33] Im Gegensatz zu anderen Kirchenhistorikern sieht Kaufmann Luther hier aber in einer aktiven Rolle. Anders als Eck, der mit einer allgemeinen Abscheu vor der hussitischen Ketzerei rechnete, habe Luther gespürt, dass die Öffentlichkeit ein positiveres Bild von Hus hatte. Schon vor der Leipziger Disputation habe Luther Sympathien für Hus anklingen lassen und sich mit der Forderung des Laienkelchs später die hussitische Parole schlechthin zu eigen gemacht.[34] Dass Konzilien irrtumsfähig seien, konnte Luther bei Panormitanus lesen.[35] Über Panormitanus hinausgehend, fand Luther zu der Formulierung, das Konzil sei ein „Geschöpf des Wortes“, das heißt, eine historisch gewachsene Institution, die der Autorität der Heiligen Schrift unter- und nachgeordnet sei.[36] Luther hat im weiteren Verlauf der Diskussion präzisiert, dass weder ein ganzes Konzil noch die Kirche insgesamt in Glaubensfragen geirrt habe.[37] Für Eck dagegen war undenkbar, dass ein rechtmäßiges Konzil auch nur in einer Einzelentscheidung irren könne. Alles, was ein rechtmäßig versammeltes Konzil festgesetzt habe, sei ganz gewiss, da der Heilige Geist dabei anwesend gewesen sei.[38][39]

Der weitere Verlauf der Disputation zwischen Eck und Luther hatte nicht die gleiche Intensität. Ab dem 8. Juli wurde über das Fegefeuer diskutiert, am 11. Juli stand der Ablass auf der Agenda, und an den beiden letzten Tagen ging es um das Thema Buße.[40] Bei der Diskussion über das Fegefeuer unterschied Luther erstmals zwischen kanonischen biblischen Büchern und Apokryphen; das Fegefeuer wurde nämlich mit der Belegstelle 2 Makk 12,46 LUT begründet. Luther vertrat hier die Ansicht, dass nicht alle biblischen Sätze gleich wichtig seien, sondern in ihrer Bedeutung von der Mitte der Schrift her gewichtet werden sollten.[37]

Nachgeschichte und Folgen

Vereinbarungsgemäß hätten nun die Universitäten Erfurt und Paris nach Prüfung der Akten gemeinsam einen der Disputanten zum Sieger erklären sollen. Am 29. Dezember 1519 gaben die Erfurter Theologen aber bekannt, aus formalen Gründen kein Urteil abgeben zu können. Nach Einschätzung von Martin Brecht hatte Luthers Parteigänger Johann Lang für dieses Votum in Erfurt geworben.[41] Unterdessen schritt die öffentliche Meinungsbildung voran. Die Disputanten meldeten sich mit eigenen Publikationen zu Wort, aber auch aus dem Leipziger Publikum gab es Berichte und Stellungnahmen unterschiedlicher Qualität, ein Indiz für das hohe öffentliche Interesse. Eck schrieb im Herbst 1519 an Papst Leo X.. Er teilte ihm mit, dass er bei der Leipziger Disputation gesiegt habe und machte Vorschläge zum weiteren Vorgehen gegen Luthers hussitische Häresie. Er selbst wünschte als Inquisitor in Thüringen, Meißen und der Mark Brandenburg tätig zu werden. Eck verfasste Drei Bücher vom Primat des Petrus zur Widerlegung Luthers, die er Leo X. widmete und bei seiner Romreise im Frühjahr 1520 mitnahm. Er wurde in ehrenvoller Audienz empfangen.[42]

Beide Seiten beanspruchten nach dem Ende den Sieg für sich. Historisch lässt sich festhalten, dass auf der Leipziger Disputation die wesentlichen Unterschiede zwischen katholischer und reformatorischer Lehre dokumentiert und der Bruch zwischen Rom und Lutheranern manifestiert wurde. Im Nachgang der Leipziger Disputation hatte Johannes Eck solange nicht geruht, bis er in Rom eine Bannbulle gegen Luther erwirkte.

Text der Disputation

Der lateinische Text der gesamten Disputation wurde von Valentin Ernst Löscher 1729 herausgegeben (Vollständige Reformations-Acta und Documenta, Band 3). Löscher gab an, dabei einen Druck des offiziellen Protokolls aus dem Jahr 1519 genutzt zu haben sowie eine private Nachschrift; von diesem Manuskript machte er aber nur selten Gebrauch. Die Disputation zwischen Luther und Eck ist zwar in mehreren Ausgaben der Werke Luthers enthalten, jedoch gehen alle diese Editionen (darunter WA 2, 254–383) auf die gleichen Quellen zurück, die auch Löscher vorlagen. Dabei handelt es sich aber nicht um das offizielle Protokoll, wie dieser meinte, sondern um eine fehlerhafte private Mitschrift. Drei neue Textfunde ermöglichten es Otto Seitz 1903, für die Disputation zwischen Luther und Eck den notariell festgesetzten Text zu veröffentlichen. Eine textkritische Edition des im Dezember 1519 gedruckten, unautorisierten Protokolls wurde 1983 im 59. Band der Weimarer Ausgabe unter dem Titel Disputatio inter Ioannem Eccium et Martinum Lutherum veröffentlicht.

Quellen

  • Peter Fabisch, Erwin Iserloh (Hrsg.): Dokumente zur Causa Lutheri (1517-1521) 1. Band: Das Gutachten des Prierias und weitere Schriften gegen Luthers Ablassthesen (1517-1518) (= Corpus Catholicorum. Band 41) Aschendorff, Münster 1988, ISBN 978-3-40203-455-2.
  • Otto Seitz: Der authentische Text der Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck, Berlin 1903. (Digitalisat)
  • WA 2, 254–383 (veraltete Textedition der Disputation von Eck und Luther)
  • WA 59, 433–605 (Neuedition)

Sekundärliteratur

  • Martin Brecht: Martin Luther. Band 1: Sein Weg zur Reformation 1483–1521. 2. Auflage, Calwer Verlag, Stuttgart 1983, ISBN 3-7668-0678-5.
  • Leif Grane: Martinus noster. Luther in the German Reform movement 1518–1521. Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte (VIEG) 55 (1994), Philipp von Zabern, Mainz 1994, ISBN 3-8053-1652-6. S. 81–114.
  • Thomas Kaufmann: Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung. 2. Aufl., Mohr Siebeck, Tübingen 2018. ISBN 978-3-16-156328-7.
  • Armin Kohnle: Die Leipziger Disputation und ihre Bedeutung für die Reformation. In: Markus Hein, Armin Kohnle (Hrsg.): Die Leipziger Disputation 1519: 1. Leipziger Arbeitsgespräch zur Reformation. Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 2011, ISBN 3374027938. S. 9–24.
  • Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995, ISBN 3-525-52197-9. (Digitalisat)
  • Anselm Schubert: Libertas Disputandi: Luther und die Leipziger Disputation als akademisches Streitgespräch. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 105 (2008), S. 411–442.
  • Kurt-Victor Selge: Der Weg zur Leipziger Disputation. In: Bernd Moeller, Gerhard Ruhbach (Hrsg.): Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte. Tübingen 1973, S. 168–210.
  • Kurt-Victor Selge: Die Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 86 (1975), S. 26–40.
  • Christopher Spehr: Luther und das Konzil: Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit (= Beiträge zur historischen Theologie. Band 153) Mohr Siebeck, Tübingen 2010. ISBN 978-3-16-150474-7.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Peter Fabisch, Erwin Iserloh (Hrsg.): Dokumente zur Causa Lutheri (1517-1521) 1. Band: Das Gutachten des Prierias und weitere Schriften gegen Luthers Ablassthesen (1517-1518) (= Corpus Catholicorum. Band 41) Aschendorff, Münster 1988, ISBN 978-3-40203-455-2, S. 376.
  2. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 285.
  3. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 206.
  4. Thomas Kaufmann: Der Anfang der Reformation, Tübingen 2018, S. 37.
  5. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 206.
  6. a b Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 135.
  7. Armin Kohnle: Die Leipziger Disputation und ihre Bedeutung für die Reformation, Berlin 2011, S. 13.
  8. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 285-287.
  9. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 287 f.
  10. Armin Kohnle: Die Leipziger Disputation und ihre Bedeutung für die Reformation, Berlin 2011, S. 13 f.
  11. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 288.
  12. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 285-287.
  13. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 289 f.
  14. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 291.
  15. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 291-294.
  16. Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 136.
  17. Christopher Spehr: Luther und das Konzil, Göttingen 2010, S. 140.
  18. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 295.
  19. Thomas Kaufmann: Der Anfang der Reformation, Tübingen 2018, S. 45.
  20. Armin Kohnle: Die Leipziger Disputation und ihre Bedeutung für die Reformation, Berlin 2011, S. 9.
  21. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 295 f.
  22. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 296.
  23. a b Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 297 f.
  24. Marian Füssel: Zweikämpfe des Geistes. Die Disputation als Schlüsselpraxis gelehrter Streitkultur im konfessionellen Zeitalter. In: Henning P. Jürgens, Thomas Weller (Hrsg.): Streitkultur und Öffentlichkeit im konfessionellen Zeitalter. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013, ISBN 978-3-525-10120-9. S. 159-178, hier S. 169.
  25. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 302-304.
  26. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 298-300.
  27. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 295 f.
  28. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 301 f.
  29. Christopher Spehr: Luther und das Konzil, Göttingen 2010, S. 145.
  30. Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 139. Christopher Spehr: Luther und das Konzil, Göttingen 2010, S. 147.
  31. WA 59; 466,1048-1059.
  32. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 302-307.
  33. Thomas Kaufmann: Der Anfang der Reformation, Tübingen 2018, S. 39 f.
  34. Thomas Kaufmann: Der Anfang der Reformation, Tübingen 2018, S. 44 f.###
  35. WA 59; 479,1465 - 480,1467.
  36. Christopher Spehr: Luther und das Konzil, Göttingen 2010, S. 161.
  37. a b Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 141.
  38. Christopher Spehr: Luther und das Konzil, Göttingen 2010, S. 154.
  39. WA 59; 490,1788 - 491,1798.
  40. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 307.
  41. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 322.
  42. Martin Brecht: Martin Luther, Band 1, Stuttgart 1983, S. 332.