Franca Viola

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Franca Viola (* 9. Januar 1948 in Alcamo, Sizilien) wurde international bekannt, weil sie sich 1966 als eine der ersten Frauen in Italien öffentlich weigerte, nach einer Vergewaltigung ihren Peiniger zu heiraten, nur um ihre Ehre nicht zu verlieren (Matrimonio riparatore). Der Vergewaltiger, der bei Eheschließung mit Viola straffrei ausgegangen wäre, wurde angeklagt und verurteilt. Der Prozess erregte in Italien große mediale Aufmerksamkeit, vor allem, weil sich eine Frau gegen traditionelle und überkommene soziale Konventionen stellte. Franca Viola wurde zu einer Vorreiterin der Emanzipation und des soziokulturellen Fortschritts im Italien der Nachkriegszeit. Ihr Fall trug zu einem Umdenken des italienischen Gesetzgebers bei, der am 5. August 1981 schließlich die strafrechtlichen Bestimmungen zum Matrimonio riparatore aufhob.[1]

Leben

Herkunft

Franca Viola wuchs in ländlicher Umgebung auf Sizilien auf. Ihr Vater Bernardo Viola[2] war Landpächter in der Provinz Trapani. 1963 verlobte sich Franca Viola im Alter von 15 Jahren mit dem 23-jährigen Filippo Melodia, einem Neffen des Mafia-Oberhaupts Vincenzo Rimi, dessen Clan den Nordwesten Siziliens dominierte.[3] Nachdem Melodia wegen Diebstahls und Bandenzugehörigkeit zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war, löste Viola auf Wunsch ihres Vaters die Verlobung. Kurz darauf verlobte sie sich mit einem anderen Mann. Melodia verbrachte einige Zeit in Deutschland, dann kehrte er nach Alcamo zurück und wollte die Beziehung zu Franca Viola wieder aufleben lassen. Er stellte der jungen Frau nach und bedrohte sowohl ihren Vater als auch ihren neuen Partner.[4] Einige Quellen berichten, dass unter anderem ein Weinberg der Familie Viola in Brand gesetzt wurde.[5][6]

Entführung und Vergewaltigung

In den frühen Morgenstunden des 26. Dezember 1965 drangen Melodia und zwölf weitere Männer in das Haus der Familie Viola ein, schlugen Francas Mutter und entführten das Mädchen und dessen achtjährigen Bruder, der sich, um seine Schwester zu schützen, um ihre Beine geklammert hatte. Der Junge kehrte je nach Quelle entweder wenige Stunden[5] oder zwei Tage später zu seiner Familie zurück, während Franca Viola acht Tage lang gefangen gehalten wurde. Hinsichtlich der Einzelheiten divergieren die Quellen: Einige besagen, dass sie die gesamte Zeit im Haus von Melodias Schwester in Alcamo festgehalten wurde; laut anderen Quellen sei sie erst am sechsten Tag ihrer Gefangenschaft dorthin gebracht worden.[7] Anfänglich verspottete und provozierte Melodia sie verbal. Nach einer Woche vergewaltigte er Franca Viola mehrfach. Anschließend drängte er sie dazu, ihn nun zu heiraten, da sie anderenfalls ihre Ehre verlieren würde; sie aber weigerte sich.

Am 1. Januar 1966 organisierte Melodias Familie ein Treffen mit Franca Violas Eltern, um eine Ehe zwischen Viola und Melodia zu vereinbaren. Die Eltern gingen zum Schein darauf ein, um herauszufinden, wo sich ihre Tochter befand. Am 2. Januar[5] oder am 6. Januar 1966[4] gelang es der Polizei, das Versteck aufzuspüren. Sie befreite Franca Viola und nahm Filippo Melodia fest.

Verweigertes „Matrimonio riparatore“ und Strafprozess

Nach den seinerzeit auf Sizilien verbreiteten gesellschaftlichen Vorstellungen verlor eine Frau, die Opfer einer Vergewaltigung geworden war, mit ihrer Jungfräulichkeit zugleich ihre Ehre, die nur durch Eheschließung mit dem Vergewaltiger wiederhergestellt werden konnte. Dieses als Matrimonio riparatore (sinngemäß: „reparierende Heirat“) bezeichnete Sittenmodell ist von einigen Autoren auf alttestamentliche Vorbilder zurückgeführt worden.[8] Das Matrimonio riparatore fand sein Gegenstück in dem seinerzeit geltenden italienischen Strafrecht, das in Artikel 544 des italienischen Codice Penale die Folgen für den Vergewaltiger regelte: Er konnte nicht wegen der Vergewaltigung bestraft werden, wenn das Opfer mit ihm die Ehe einging.

Artikel 544 Codice Penale lautete:

Per i delitti preveduti dal capo primo (…), il matrimonio, che l’autore del reato contragga con la persona offesa, estingue il reato, anche riguardo a coloro che sono concorsi nel reato medesimo; e, se vi è stata condanna, ne cessano l’esecuzione e gli effetti penali.

Für jedes Delikt des ersten Abschnitts (…) löscht die Ehe, die der Urheber einer Verletzung mit der verletzten Person eingeht, das Verbrechen aus, auch in Bezug auf diejenigen, die an der gleichen Straftat teilgenommen haben; im Falle einer Verurteilung enden der Vollzug der Strafe und alle Folgen der Strafe.

Melodia bot Viola nach seiner Verhaftung ein Matrimonio riparatore an, sie lehnte ab. Ihr Vater unterstützte sie. Ihre Haltung hatte schwere Folgen: Weil Viola gegen die traditionellen Vorstellungen verstieß, wurden sie und ihre Familie im Laufe des Jahres 1966 von der Dorfgemeinschaft gemieden, bedroht und öffentlich beleidigt. Franca Violas Vater verlor seine Arbeit, und die Familie konnte sich nur mit Polizeischutz in der Öffentlichkeit bewegen.[4]

Im Dezember 1966 begann in der sizilianischen Stadt Trapani unter dem Vorsitz des Richters Giovanni Albeggiani der Strafprozess gegen Filippo Melodia. Franca Violas Vertreter in diesem Verfahren war Rechtsanwalt Ludovico Corrao, der einige Jahre zuvor Oberbürgermeister von Alcamo gewesen war. Der Prozess gegen Melodia und die ihm zugrunde liegende Geschichte Franca Violas fanden in Italien große mediale Aufmerksamkeit.[9] Der Staatsanwalt beantragte 22 Jahre Haft für den Vergewaltiger.[5] Das Gericht verurteilte Melodia zu elf Jahren Gefängnis, wobei es die Traditionen (usanze) mildernd berücksichtigte.[5] Die Strafe wurde später auf 10 Jahre verkürzt. Hinzu kam die Auflage, sich in den ersten 2 Jahren nach der Entlassung in der Nähe von Modena aufzuhalten. Melodia kam 1976 frei; er wurde am 13. April 1978 bei Modena von der Mafia getötet. Fünf der mitangeklagten Entführer Franca Violas wurden freigesprochen, die übrigen erhielten niedrige Strafen.

Nach dem Prozess

Während des Prozesses hatte Filippo Melodia gedroht, er werde Franca Viola töten lassen, wenn sie die Ehe mit einem anderen Mann eingehe. Gleichwohl heiratete Viola im Dezember 1968 ihren Jugendfreund Giuseppe Ruisi. Ihre Ehe fand beim italienischen Staatspräsidenten Giuseppe Saragat und bei Papst Paul VI. Beachtung, der ihnen eine Privataudienz gewährte. Viola und Ruisi bekamen zwei Söhne und eine Tochter. Sie leben nach wie vor in Alcamo, ihrer Heimatstadt.[2]

Folgen

Franca Violas Fall löste in Italien eine kontroverse Diskussion über die Zukunft des Artikel 544 Codice Penale aus. Einerseits wurde er als Mittel zur Unterdrückung von Frauen kritisiert. Befürworter der Bestimmung argumentierten allerdings, dass aufgrund der in Teilen Süditaliens herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse das Matrimonio riparatore faktisch für junge Paare die einzige Möglichkeit sei, gegen den Willen ihrer Eltern zu heiraten.[5] Die Diskussion zog sich 15 Jahre lang hin. Erst mit dem Gesetz Nr. 442 vom 5. August 1981 wurde Artikel 544 des Codico Penale aufgehoben.[1]

Auszeichnung

2014 wurde Franca Viola von Staatspräsident Giorgio Napolitano mit dem Verdienstorden der Italienischen Republik ausgezeichnet.

Rezeption

Der italienische Regisseur Damiano Damiani drehte 1970 den Spielfilm La moglie più bella (deutscher Titel: Recht und Leidenschaft) über Franca Violas Leben. Die weibliche Protagonistin trägt darin den Namen Francesca Cimarosa; die Rolle wurde von der damals 15-jährigen Ornella Muti gespielt. Der Vergewaltiger heißt in dem Film Vito Juvara; er wurde von Alessio Orano dargestellt.[10]

2012 veröffentlichte die sizilianische Schriftstellerin Beatrice Monroy ein Buch über den Fall mit dem Titel Niente ci fu (deutsch Da war nichts). Franca Viola steht dem Buch kritisch gegenüber. Sie ist der Ansicht, Monroy habe „nicht ihre Geschichte“ erzählt.[7]

Der 15-minütige Dokumentarkurzfilm Viola, Franca erhielt 2017 eine Einladung zum Manhattan Short Film Festival.

Literatur

  • Niamh Cullen: The case of Franca Viola ; debating gender, nation and modernity in 1960s Italy. In: Contemporary European history, 2016, S. 97–115. ISSN 0960-7773
  • Beatrice Monroy: Niente ci fu. Passaggi Al Meridiano, 2012, ISBN 978-88-6153-272-4.
  • Deirdre Pirro: Italian Sketches: The Faces of Modern Italy. The Florentine Press, Prato 2009, ISBN 978-88-902434-4-8.
  • Elena Doni, Manuela Fugenzi: Il secolo delle donne : l'Italia del Novecento al femminile. GLF, Rom 2003 ISBN 88-420-7155-2.
  • Liliana Madeo: Donne cattive : cinquant'anni di vita italiana. Tartaruga, Mailand 1999, ISBN 978-88-7738-310-5.
  • Maria Pia Di Bella: Le cas Franca Viola: la ragazza che disse di no. In: Annales. Économies, Sociétés, Civilisations, Juli 1983,
  • Heinz Engelke: Die Rebellion der Franca Viola. Deutscher Militärverlag, Berlin (DDR) 1969 (= Kleine Erzählerreihe, Nr. 149).
Jugendbuch
  • Daniele Aristarco: Io dico no! : Storie di eroica disobbedienza. Illustrationen Nicolò Pellizzon. Einaudi Ragazzi, San Dorligo della Valle (Trieste) 2017, S. 133–138.

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. a b legislature.camera.it
  2. a b Deirdre Pirro: Italian Sketches: The Faces of Modern Italy. The Florentine Press, Prato 2009, ISBN 978-88-902434-4-8, S. 95.
  3. Letizia Paoli: Mafia Brotherhoods: Organized Crime, Italian Style: Studies in Crime and Public Policy. Oxford University Press, 2003, ISBN 978-0-19-534808-8, S. 56.
  4. a b c Paola Busolo: Franca Viola. enciclopediadelledonne.it, abgerufen am 25. September 2018.
  5. a b c d e f Ettore Ferrari: La Storia di Franca Viola. ilpost.it, 10. Januar 2018, abgerufen am 3. Oktober 2018.
  6. Die Zuordnung dieses Ereignisses ist in den Quellen nicht eindeutig. Eine Quelle ordnet den Brand des Weinbergs der Phase zwischen der Entführung und dem Prozessbeginn im Jahr 1966 zu. Vgl. Anthony Appiah: Eine Frage der Ehre: oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt. C. H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-61488-0, S. 158.
  7. a b Concita de Greogrio: Franca Viola: "Io, che 50 anni fa ho fatto la storia con il mio no alle nozze riparatrici". repubblica.it, 27. Dezember 2015, abgerufen am 3. Oktober 2018.
  8. Etwa Anthony Appiah: Eine Frage der Ehre: oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt. C. H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-61488-0, S. 157, unter Verweis auf das 5. Buch Mose 22, 28–29.
  9. Abbildung eines halbseitigen Berichts der Turiner Tageszeitung La Stampa vom 16. Dezember 1966 auf der Internetseite www.ilpost.it (abgerufen am 3. Oktober 2018).
  10. Eintrag zu La moglie più bella auf der Internetseite www.imdb.com (abgerufen am 25. September 2018).