Mutmaßlicher Wille

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist die aktuelle Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 14. Oktober 2021 um 11:19 Uhr durch imported>PietroMancini15(3815040) (→‎Medizinrechtliche Verbindlichkeit und Patientenverfügung).
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

Der mutmaßliche Wille bezeichnet im Recht einen hilfsweise angenommenen Willen. So ist z. B. eine Geschäftsführung ohne Auftrag berechtigt, wenn die Geschäftsübernahme dem Interesse und dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn entspricht (vgl. § 683 BGB).

Medizinrechtliche Verbindlichkeit und Patientenverfügung

Medizinrechtlich ist der mutmaßliche Wille entscheidend, wenn ein Patient in nicht einwilligungsfähigem Zustand einer medizinischen Behandlung bedarf, ohne sich zuvor in einwilligsfähigem Zustand schriftlich oder mündlich zur Durchführung der konkreten medizinischen Behandlung erklärt zu haben. Die Behandlung ist dann entsprechend dem mutmaßlichen Willen des Patienten durchzuführen oder zu unterlassen.[1] Auch aus der Gewissensfreiheit ergibt sich kein Recht, sich durch aktives Handeln über das Selbstbestimmungsrecht des durch seinen Bevollmächtigten oder Betreuer vertretenen Patienten hinwegzusetzen und seinerseits in dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit einzugreifen.[2][3] Falls sich trotz sorgfältiger Prüfung keine Anhaltspunkte zur Ermittlung des individuellen mutmaßlichen Willens finden lassen, so kann und muss auf Kriterien zurückgegriffen werden, die allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen – im Zweifelsfalle entscheiden sich behandelnde Ärzte deshalb („paternalistisch“) für den Erhalt des Lebens.[1] Eine medizinische Behandlung entgegen dem erklärten Willen des Patienten trotz vorliegender medizinischer Indikation, also etwa das vorsätzliche Missachten einer Patientenverfügung oder eines mündlich geäußerten Patientenwillens (Einwilligungsfähigkeit vorausgesetzt), erfüllt grundsätzlich den Straftatbestand der Körperverletzung.[4] Erfolgt die Beendigung einer medizinisch indizierten Behandlung hingegen, ohne durch den erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen gedeckt zu sein, erfüllt dies grundsätzlich den Tatbestand der Körperverletzung durch Unterlassung oder unterlassene Hilfeleistung.[4] Wird hingegen eine medizinische Behandlung trotz einer nicht mehr gegebenen medizinischen Indikation fortgesetzt, erfüllt dies grundsätzlich ebenso den Tatbestand der Körperverletzung nach § 223 StGB ff. und sollte deshalb beendet werden.

Den mutmaßlichen Willen des Patienten zu erforschen bedeutet, nach bestem Wissen und Gewissen zu beurteilen, „was der Patient für sich selbst in der Situation entscheiden würde, wenn er es könnte“, formuliert die Bundesärztekammer.[5]

Eine vorliegende und gültige Patientenverfügung ist grundsätzlich verbindlich. Ist eine medizinische Situation durch eine Patientenverfügung erfasst, darf ein Betreuer oder Bevollmächtigter keinen anderen Patientenwillen annehmen.[6] Eine Patientenverfügung kann durch den Erklärenden jedoch jederzeit formlos widerrufen werden.

Sieht eine Patientenverfügung das Unterlassen von Maßnahmen bei einer Erkrankung vor, die noch nicht in ein Stadium des unumkehrbaren tödlichen Verlaufs getreten ist, würde aber das Befolgen der Patientenverfügung zum Tod führen, obwohl noch realistische Aussichten auf Heilung bestehen, so ist nach derzeitiger Rechtslage die Patientenverfügung für einen Betreuer/Bevollmächtigten nicht zwingend verbindlich, wenn der Wille des Patienten für die konkrete Behandlungssituation nicht eindeutig und sicher festgestellt werden kann.[7] Kann der Wille nicht eindeutig und sicher festgestellt werden, liegt es also im Ermessen des Betreuers beziehungsweise des Bevollmächtigten, den mutmaßlichen Willen zu bestimmen und zu entscheiden, ob eine Behandlung abgebrochen oder fortgesetzt wird. Dies gilt unabhängig davon, in welchem Stadium sich die Krankheit befindet. Hat das Gericht Kenntnis von einer Bevollmächtigung, darf es auch dann keinen Betreuer bestellen, wenn der Betroffene mittels Patientenverfügung lebensrettende Behandlungen ausschließt.[7]

Für sein Handeln ist auch der Betreuer gegenüber dem Betreuten verantwortlich (§ 1833, § 1908i BGB). Richtet sich ein Betreuer oder Bevollmächtigter eines Patienten trotz situationsbezogener Patientenverfügung nicht nach dieser, kann der Betroffene von ihm Schadenersatz nach § 253 Abs. 2 BGB verlangen. Eine etwaige Schadensersatzverpflichtung des Betreuers gegenüber dem Betreuten wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Vormundschaftsgericht etwas genehmigt hat (BGH Urteile vom 15. Januar 1964 – IV ZR 106/63 – FamRZ 1964, 199, vom 5. Mai 1983 – III ZR 57/82 – FamRZ 1983, 1220, und vom 18. September 2003 – XII ZR 13/01).

Gesetzliche Regelung

Inzwischen ist in § 630d Abs. 1, S. 3 BGB normiert: "Kann eine Einwilligung für eine unaufschiebbare Maßnahme nicht rechtzeitig eingeholt werden, darf sie ohne Einwilligung durchgeführt werden, wenn sie dem mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht."

§ 1901a Abs. 2 BGB lautet: "Liegt keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu, hat der Betreuer die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er in eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 einwilligt oder sie untersagt. Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten."

Quellen

Auszug aus BGHSt 40, 257:[1]

„An die Voraussetzungen für die Annahme eines solchen mutmaßlichen Einverständnisses des entscheidungsunfähigen Patienten sind – im Interesse des Schutzes menschlichen Lebens – in tatsächlicher Hinsicht allerdings strenge Anforderungen zu stellen. Entscheidend ist der mutmaßliche Wille des Patienten im Tatzeitpunkt, wie er sich nach sorgfältiger Abwägung aller Umstände darstellt. Hierbei sind frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen des Kranken ebenso zu berücksichtigen wie seine religiöse Überzeugung, seine sonstigen persönlichen Wertvorstellungen, seine altersbedingte Lebenserwartung oder das Erleiden von Schmerzen (vgl. BGHSt 35, 246, 249). Objektive Kriterien, insbesondere die Beurteilung einer Maßnahme als gemeinhin ‚vernünftig‘ oder ‚normal‘ sowie den Interessen eines verständigen Patienten üblicherweise entsprechend, haben keine eigenständige Bedeutung; sie können lediglich Anhaltspunkte für die Ermittlung des individuellen hypothetischen Willens sein.
Lassen sich auch bei der gebotenen sorgfältigen Prüfung konkrete Umstände für die Feststellung des individuellen mutmaßlichen Willens des Kranken nicht finden, so kann und muß auf Kriterien zurückgegriffen werden, die allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen. Dabei ist jedoch Zurückhaltung geboten; im Zweifel hat der Schutz menschlichen Lebens Vorrang vor persönlichen Überlegungen des Arztes, des Angehörigen oder einer anderen beteiligten Person. Im Einzelfall wird die Entscheidung naturgemäß auch davon abhängen, wie aussichtslos die ärztliche Prognose und wie nahe der Patient dem Tode ist: je weniger die Wiederherstellung eines nach allgemeinen Vorstellungen menschenwürdigen Lebens zu erwarten ist und je kürzer der Tod bevorsteht, um so eher wird ein Behandlungsabbruch vertretbar erscheinen (vgl. BGHSt aaO S. 250).“

Auszug aus BGHZ 154, 205:[6]

„Allerdings kommt die Berücksichtigung eines solchen (individuell-) mutmaßlichen Willens nur hilfsweise in Betracht, wenn und soweit nämlich eine im einwilligungsfähigen Zustand getroffene ‚antizipative‘ Willensbekundung des Betroffenen – mag sie sich als Einwilligung in oder als Veto gegen eine bestimmte medizinische Behandlung darstellen – nicht zu ermitteln ist. Liegt eine solche Willensäußerung, etwa – wie hier – in Form einer sogenannten „Patientenverfügung“, vor, bindet sie als Ausdruck des fortwirkenden Selbstbestimmungsrechts, aber auch der Selbstverantwortung des Betroffenen den Betreuer; denn schon die Würde des Betroffenen (Art. 1 Abs. 1 GG) verlangt, daß eine von ihm eigenverantwortlich getroffene Entscheidung auch dann noch respektiert wird, wenn er die Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Entscheiden inzwischen verloren hat. Die Willensbekundung des Betroffenen für oder gegen bestimmte medizinische Maßnahmen darf deshalb vom Betreuer nicht durch einen ‚Rückgriff auf den mutmaßlichen Willen‘ des Betroffenen ‚korrigiert‘ werden, es sei denn, daß der Betroffene sich von seiner früheren Verfügung mit erkennbarem Widerrufswillen distanziert oder die Sachlage sich nachträglich so erheblich geändert hat, daß die frühere selbstverantwortlich getroffene Entscheidung die aktuelle Sachlage nicht umfasst.“

Einzelnachweise

Siehe auch