Logophorizität

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Logophorizität (moderne Wortbildung auf Grundlage von griech. λόγος logos, „Wort“ und φέρειν pherein, „tragen“) ist in der Linguistik die Bezeichnung für das Phänomen, dass der Bezug von Personal- und Reflexivpronomen (und eventuell weiterer Wortarten) davon abhängen kann, aus wessen Perspektive ein Sachverhalt geschildert wird. Der Begriff verweist vor allem darauf, dass das perspektivische Zentrum in einem Satz oder Text verschoben werden kann, so dass nicht mehr die Perspektive des Sprechers maßgeblich ist. Der Bezug eines logophorischen Pronomens ist dann die Person, an deren Perspektive der Kontext „zentriert“ ist – das heißt, die Person, deren Äußerungen, Gedanken oder Wahrnehmungen berichtet werden.

Wenn eine Sprache logophorische Pronomen besitzt, kann sie also z. B. einen Kontrast ausdrücken, ob in indirekter Rede ein Pronomen der dritten Person sich auf den Urheber der berichteten Äußerung zurückbezieht, oder auf eine andere Person. Anstatt eigenständige logophorische Pronomen zu besitzen, zeigen manche Sprachen auch logophorische Verwendungen von Reflexivpronomen, die sich nicht nach den sonst geltenden grammatischen Regeln für Reflexiva richten, indem sie kein Bezugswort innerhalb desselben Satzes aufweisen.

Logophorische Personalpronomen

Indirekte Rede

Eigenständige logophorische Pronomen, die mit normalen Personalpronomen kontrastieren, gibt es zum Beispiel in einer Reihe afrikanischer Sprachen. Im Donno So, einer Sprache aus der Dogon-Familie, zeigt sich folgender Kontrast:[1]

  • Logophorisches Pronomen (LOG) in indirekter Rede:
Oumar Anta inyemɛn waa     be  gi
Omar  Anta LOG-acc gesehen hat sagte
„Omar sagte, dass Anta ihn (=Omar) gesehen hat.“
  • Normales Personalpronomen in indirekter Rede:
Oumar Anta won         waa     be  gi
Omar  Anta PRON3sg-acc gesehen hat sagte
„Omar sagte, dass Anta ihn (=jemand ganz anderen) gesehen hat“

Abgrenzung zur Kategorie Obviativ

Der obige Beispielkontrast ähnelt den Beispielen, die die Kategorie des Obviativs in manchen Sprachen charakterisieren. Beim Obviativ geht es jedoch nur darum, ob ein Pronomen der dritten Person referenzgleich mit einem vorerwähnten Pronomen ist oder nicht. Bei logophorischen Pronomen geht es stattdessen um den inhaltlichen Faktor, auf wessen Sicht der gesamte Text zentriert ist. Logophorische Pronomen unterscheiden sich von einem Obviativ-System dadurch, dass sie typischerweise mit dem Phänomen der indirekten Rede verknüpft sind; ferner spielt bei ihnen die Existenz eines weiteren Pronomens der dritten Person oder die Distanz zum Bezugswort keine Rolle.

Reflexivpronomen als logophorische Pronomen

Ein Beispiel einer Sprache mit logophorischem Gebrauch von Reflexivpronomen ist das Isländische. Das Reflexivpronomen sig im dritten Satz aus folgendem Text[2] steht vollkommen frei; es müsste im Deutschen mit einem Personalpronomen übersetzt werden, hat im Isländischen aber die reflexive Form, weil es sich auf die Person zurückbezieht, deren Perspektive ab dem zweiten Satz des Textes wiedergegeben wird – ab hier taucht auch der Konjunktiv auf, der indirekte Rede markiert (berichtet werden allerdings die Gedanken der genannten Person):

  • Kontext:
Formaðurinn     varð  óskaplega reiður.  Tillagan      væri svívirðileg.
Der Vorsitzende wurde furchtbar wütend.  Der Vorschlag wäre unerhört.
  • Fortsetzung (logophorisch): Das Reflexiv sér bezieht sich auf formaðurinn / der Vorsitzende !
Væri henni beint   gegn   sér         persónulega? 
Wäre ihr   gezielt gegen  sich(dat.)  persönlich?

Dieselbe Erscheinung findet sich in Verwendungen des Reflexivs, die in einem Nebensatz stehen und, anders als normale Reflexiva, ein Bezugswort weit außerhalb dieses Nebensatzes haben:[3]

Haraldur segir að   Jón  komi  ekki  nema  Maria kyssi sig.
Harald   sagt  dass Hans komme nicht außer Maria küsse „sich“
'Harald sagt, dass Hans nicht kommt, es sei denn Maria küsst ihn(=Harald).'

Das Pronomen sig als Objekt von „küssen“ kann sinnvollerweise kein normales Reflexiv mit Bezug auf Maria sein. Ein Bezugswort außerhalb desselben Nebensatzes kann ein Reflexivum aber nur bei logophorischem Gebrauch haben, dann kommt als Bezugswort nur Harald infrage, da er das Subjekt des Verbs sagen ist; dieses Verb bewirkt hier eine Verschiebung der Perspektive. Ein Bezug auf Jón / Hans ist grammatisch unmöglich, obwohl Jón dem Reflexiv näher steht; er bildet jedoch kein „logophorisches Zentrum“, d. h. kein Subjekt einer Äußerung oder Wahrnehmung.

Räumliche Perspektive

Ein verwandtes Phänomen, das auch im Deutschen existiert, ist die Verschiebung der räumlichen Perspektive in Berichten über Wahrnehmungen anderer Personen. Hier entsteht auch im Deutschen (das keine logophorischen Reflexiva im eigentlichen Sinn aufweist) der Effekt, dass die verschobene Perspektive durch ein Reflexiv kenntlich gemacht wird:[4]

a. Man sieht eine Frau, die auf ein Bild hinter ihr schaut.
(mögliche Deutung: Das Bild ist vom Sprecher des Satzes aus gesehen weiter im Hintergrund)

b. Man sieht eine Frau, die auf ein Bild hinter sich schaut.
(Deutung: Das Bild ist von der Frau aus gesehen in ihrem Rücken)

Einzelnachweise

  1. Christopher Culy: The logophoric hierarchy and variation in Dogon. In: Tom Güldemann, Manfred von Roncador (eds.): Reported Discourse: A meeting ground for different linguistic domains. John Benjamins, Amsterdam 2002. S. 201–210. (zitiertes Beispiel S. 201)
  2. Beispiel aus: Peter Sells: Aspects of logophoricity. In Linguistic Inquiry, 18 (1987), S. 445–479. Die dort abgedruckte, nichtexistierende Form „avívirðileg“ wurde geändert.
  3. Beispiel aus: Höskuldur Thráinsson: Reflexives and Subjunctives in Icelandic. Proceedings of NELS 6. University of Massachusetts, Amherst 1976, S. 225–239.
  4. Ins Deutsche übertragen nach einem Beispiel in: S. Sundaresan, H. Pearson: Formalizing linguistic perspective: insights from spatial anaphora. Ms., 2014 via Lingbuzz