Wilhelm Spiegel

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Gemälde Stadtverordnetenvorsteher Wilhelm Spiegel (1953) von Maler Niels Brodersen

Wilhelm Spiegel (* 22. Juni 1876 in Gelsenkirchen; † 12. März 1933 in Kiel) war ein deutscher SPD-Politiker, Rechtsanwalt und Notar. Seine Ermordung durch die Nationalsozialisten markierte die Machtübernahme der NSDAP in Kiel.

Leben

Nach der Reifeprüfung am Gymnasium Schalke im Jahr 1895 studierte Spiegel Rechtswissenschaften in München, Berlin, Bonn und Kiel. 1905 ließ er sich in Kiel als promovierter Rechtsanwalt nieder. Ein halbes Jahr später heiratete er im niederländischen Den Haag Emma Loeb (1888–1935).[1][2] Sein vier Jahre jüngerer Bruder Otto, der sich 1907 ebenfalls in Kiel ansiedelte, war der erste fachpädiatrisch ausgebildete Arzt in Schleswig-Holstein.[3]

Von 1911 bis 1933 gehörte Spiegel der Kieler Stadtverordnetenversammlung an, von 1919 bis 1924 stand er ihr vor.[4][5] Außerdem war er stellvertretender Vorsitzender der Israelitischen Gemeinde in Kiel[6] und Mitglied im Vorstand der örtlichen Volkshochschule.[7] Er war insbesondere mit Ferdinand Tönnies, Ernst Kantorowicz (Sozialpädagoge) und Walther Schücking verbunden.[8]

Während des Kapp-Putsches von 1920 war er einer der führenden Vertreter der Kieler Arbeiterschaft, der nicht nur half, den Putsch niederzuschlagen, sondern der auch als Verhandlungsführer der Arbeiter versuchte, die Auseinandersetzung möglichst ohne Blutvergießen zu beenden.[8] So verhandelte er mit dem Freikorps Loewenfeld allein und ohne Schutz in einer verbarrikadierten Kaserne und verschaffte ihm freien Abzug.[5]

Ermordung

Überregionale Bekanntheit erlangte 1932 das Verfahren gegen den Chefredakteur der sozialdemokratischen Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung, Kurt Wurbs, den Spiegel als Rechtsanwalt vertrat. Die Volkszeitung hatte behauptet, dass die Nazis einen Bürgerkrieg vorbereiteten. Der Kläger in diesem Verfahren war Adolf Hitler[4]. Spiegel lud Hitler als Zeugen vor. Statt seiner trat der SA-Chef Ernst Röhm als Zeuge auf und betonte die Liebe der Nationalsozialisten zu Recht und Gesetz, was die Richter glaubten. Denn sie verurteilten die schleswig-holsteinische Volkszeitung.[9][5] Kurz nach der nationalsozialistischenMachtergreifung“ forderte im Februar 1933 ein SS-Führer öffentlich zur Ermordung Spiegels auf, der den Nazis als bekannter Sozialdemokrat und Jude verhasst war.[10]

Am 11. März 1933, einen Tag vor den Kommunalwahlen, besetzten die Nationalsozialisten das Rathaus, setzten Oberbürgermeister Emil Lueken ab, lösten die Stadtverordnetenversammlung auf und erklärten den NSDAP-Kreisleiter Walter Behrens zum neuen Oberbürgermeister.[11] In der folgenden Nacht verlangten zwei Nationalsozialisten, davon einer in SA- oder SS-Uniform, Einlass in das Wohnhaus Spiegels im Forstweg 42 in Kiel. Während zwei weitere Männer an der Straße Wache hielten, töteten sie den vor ihnen her in sein Arbeitszimmer gehenden Mann durch einen Schuss in den Hinterkopf.[6]

In einem Brief von Ferdinand Tönnies an Max Graf zu Solms vom 14. März 1933 heißt es zu dem Mord:

„In der Nacht von Sonnabend auf Sonntag ist hier der mir gut bekannte, liebenswürdige und gescheite Rechtsanwalt Spiegel, der sich allgemeiner Achtung erfreute, nächtens von 2 Leuten, die sich als ‚Polizisten‘ einführten, durch heftiges Klingeln sich lästig machten, nachdem er selber die Tür geöffnet und sie herein genötigt hatte, um zu erfahren, was sie wollten, flugs erschossen worden!!! Eine solche Missetat, wie ich sie kaum erlebt habe. Aber Spiegel war ein Jude aus dem Rheinlande. Er hinterläßt seine Witwe und 3 halberwachsene Kinder, davon 2 Söhne, die einen durchaus sympathischen Eindruck machen.“[12]

Bei der Beerdigung Spiegels auf dem Alten Urnenfriedhof am 15. März bildeten Tausende von Kieler Arbeitern Spalier.[5] Der Trauerzug durch die Straßen der Stadt wurde zu einer letzten Demonstration des republikanischen Kiels. Die Belegschaften von Werften und Fabriken hatten trotz nationalsozialistischer Drohungen ihre Arbeit niedergelegt. Die Trauerrede für Spiegel hielt sein Freund und politischer Weggefährte Otto Eggerstedt.[8] Behrens nutzte die Ermittlungen als Vorwand, um führende Kieler SPD-Mitglieder in das Konzentrationslager Oranienburg einzuliefern und die Kieler SPD innerhalb von zwei Tagen zu zerschlagen. Die Ermittlungen, die sich nie ernsthaft gegen Nazis richteten, wurden schon im Sommer 1933 eingestellt.[10]

Nach 1945 wurde ein ehemaliger SS-Mann der Mittäterschaft verdächtigt und verhaftet. Er nahm sich in der Untersuchungshaft das Leben.[5]

Gedenken

Stolperstein vor dem ehemaligen Wohnhaus Wilhelm Spiegels

Von Dezember 1947 bis Februar 1948 wurde ein Teil des Forstweges Wilhelm-Spiegel-Weg genannt. 1993 wurde eine Straße in Wellsee von der Kieler Ratsversammlung Wilhelm-Spiegel-Straße getauft.[13]

Im Wandelgang vor dem Ratssaal befindet sich seit 1953 ein Porträt Spiegels, erstellt von Niels Brodersen. Zum 60. Todestag Spiegels 1993 wurde es um eine Gedenktafel ergänzt. Eine weitere Gedenktafel befindet sich im Kieler Landgericht.[6] Das Gebäude der Landeszentralbank gegenüber dem Rathaus wurde „Wilhelm-Spiegel-Haus“ benannt. 1995 wurde am Eingang des Hauses eine Bronzeplatte zum Gedenken an Spiegel angebracht.[13] Am 11. Oktober 2006 wurde vor dem früheren Wohnhaus Spiegels ein Stolperstein verlegt.[6] Wilhelm Spiegels Grab wird von der Stadt Kiel als Ehrengrab gepflegt.[5]

Im Roman Jahrestage von Uwe Johnson wird auf den Mord Bezug genommen.[14][15]

Literatur

  • Wilhelm Spiegel. In: Franz Osterroth: Biographisches Lexikon des Sozialismus. Band 1: Verstorbene Persönlichkeiten. Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH, Hannover 1960, S. 296.
  • Volker Jakob: Wilhelm Spiegel: Jude – Anwalt – Sozialist. Das erste Mordopfer der antisemitischen Gewalt. In: Gerhard Paul, Miriam Gillis-Carlebach (Hrsg.): Menora und Hakenkreuz. Zur Geschichte der Juden in und aus Schleswig-Holstein, Lübeck und Altona (1918–1998). Neumünster 1998, S. 205–213.
  • Volker Jakob: Wilhelm Spiegel 1876–1933. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte. Band 77, S. 109–114.

Weblinks

Commons: Wilhelm Spiegel – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Heinz-Jürgen Schneider u. a.: Die Rechtsanwälte der Roten Hilfe Deutschlands: Politische Strafverteidiger in der Weimarer Republik – Geschichte und Biografien. Bonn 2002, S. 274.
  2. Martin Schumacher: Ausgebürgert unter dem Hakenkreuz. Rassisch und politisch verfolgte Rechtsanwälte. Aschendorff, Münster 2021, ISBN 978-3-402-24749-5, S. 608.
  3. Eduard Seidler: Jüdische Kinderarzte 1933–1945. Basel / New York 2007, S. 308 f.
  4. a b Pressemeldung der Stadt Kiel vom 7. März 2008: Gedenken an Ermordung von Wilhelm Spiegel
  5. a b c d e f Städtische Friedhöfe Kiel: Ehrengräber in Kiel. Wilhelm Spiegel.
  6. a b c d Arbeitskreis zur Erforschung des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein e.V.: Informationen zum Stolperstein von Dr. Wilhelm Spiegel (PDF; 217 kB).
  7. Christian Tilitzki: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Teil 1, Berlin 2002, S. 176 Fn. 496
  8. a b c Rede von Jürgen Weber anlässlich der Gedenkveranstaltung zur NS-Machtübernahme vor 75 Jahren in Kiel (ulrike-rodust.eu).
  9. https://spd-geschichtswerkstatt.de/wiki/Schleswig-Holsteinische_Volkszeitung#Hitler-Prozess
  10. a b Das virtuelle Museum: Die Ermordung des Anwalts Wilhelm Spiegel
  11. Kieler Erinnerungstag: 11. März 1933. Die Nationalsozialisten bringen das Kieler Rathaus unter ihre Herrschaft. Seite des Stadtarchives auf der Homepage der Stadt Kiel, eingesehen 8. September 2019.
  12. Zitiert nach Uwe Carstens: Ferdinand Tönnies, Friese und Weltbürger, S. 290.
  13. a b Hans-G. Hilscher, Dietrich Bleihöfer: Wilhelm-Spiegel-Straße. In: Kieler Straßenlexikon. Fortgeführt seit 2005 durch das Amt für Bauordnung, Vermessung und Geoinformation der Landeshauptstadt Kiel, Stand: Februar 2017 (kiel.de).
    Hans-G. Hilscher, Dietrich Bleihöfer: Wilhelm-Spiegel-Weg. In: Kieler Straßenlexikon. Fortgeführt seit 2005 durch das Amt für Bauordnung, Vermessung und Geoinformation der Landeshauptstadt Kiel, Stand: Februar 2017 (kiel.de).
  14. Holger Helbig (Hrsg.): Johnsons ' Jahrestage'. Der Kommentar. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, S. 220.
  15. Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons: Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt/Main 1997, S. 400.