Rizinfund in Köln

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Bei dem Rizinfund in Köln wurden am 12. Juni 2018 in einer Wohnung im Kölner Stadtteil Chorweiler bis zu eintausend toxische Dosen des Giftstoffs Rizin sichergestellt. Der Tunesier Sief Allah H. wurde unter dem dringenden Verdacht festgenommen, durch vorsätzliche Herstellung einer biologischen Waffe gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz verstoßen zu haben.[1] Nach Einschätzung des Verfassungsschutzes wollte der Beschuldigte „sehr wahrscheinlich“ einen Gift-Terroranschlag ausführen.[2] Der Bau einer „Biobombe“ ist nach Meinung von BKA-Präsident Holger Münch „ein in Deutschland einmaliger Vorgang“.[3]

Beschuldigte

H. wurde 1988 oder 1989 geboren. Er kam im November 2016 nach Deutschland und ist mit der 14 Jahre älteren Konvertitin Yasmin D. verheiratet. Er lernte seine Frau im Internet kennen. Durch die Heirat erhielt er eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Das Paar hat ein gemeinsames Kind und bekam im Juni 2018 ein zweites.[4] Aus vorgegangenen Beziehungen brachte Yasmin D. weitere fünf Kinder mit in die Ehe.[5] Die Familie lebte vom Sozialgeld.[6]

H. sympathisierte mit dem Islamischen Staat und galt auch in seinem Heimatland als Extremist. Er soll schon 2015 in seiner Heimat an einem Anschlag auf einen Bus beteiligt gewesen sein.[6] Im April 2017 geriet H. in den Blick des Bundesamts für Verfassungsschutz, weil er über die Türkei nach Syrien zur Terrororganisation IS ausreisen wollte.[7]

Im Juli 2018 wurde auch die Ehefrau unter dem Verdacht der Mittäterschaft festgenommen.[8]

Ermittlungen und Verhaftung

Wunderbaum-Samen

H. soll ab Mitte Mai 2018 begonnen haben, die für die Gewinnung von Rizin notwendigen Gerätschaften und Substanzen zu beschaffen, darunter 3150 Samen des Wunderbaums sowie eine elektrische Kaffeemühle.[9][10] H. soll ab Juni 2018 nach einem IS-Leitfaden erfolgreich Rizin hergestellt haben.[11] Insgesamt wurden 84,3 Milligramm hochgiftiges Rizin sichergestellt.[9]

Der Verfassungsschutz informierte die Bundesanwaltschaft, dass H. im Internet Stoffe für die Herstellung von Rizin und für den Bau eines Sprengsatzes bestelle. Der Tipp sei von der US-amerikanischen Central Intelligence Agency gekommen.[12]

Zugleich wurde gemeldet, dass es einen Bürgerhinweis über das Extremistentelefon des Bundesverfassungsschutzes gegeben habe.[13]

H. wurde von einem Mobilen Einsatzkommando (MEK) der Polizei NRW observiert. Die Kölner Polizei ließ am 12. Juni 2018 gegen 20 Uhr die Wohnung in Chorweiler durch ein Sondereinsatzkommando stürmen.

Der Bundesgerichtshof erließ einen Haftbefehl gegen H. wegen des dringenden Verdachts, durch die vorsätzliche Herstellung einer biologischen Waffe gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz verstoßen zu haben. Nach Einschätzung des Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen wollte der Beschuldigte sehr wahrscheinlich einen Gift-Terroranschlag ausführen, wobei die Giftmenge der im Internet bestellten Samen nach Angaben der Rheinischen Post – je nach Ausführungsart – rechnerisch für die Tötung von 250 bis 1000 Menschen ausreichen hätte sollen. H. wurde festgenommen, seine Frau wurde nach einigen Stunden freigelassen.[2][14][15][16][17]

Die Kölner Feuerwehr baute im Treppenhaus des Hochhauses ein Labor auf. Im Anschluss an die Festnahmen durchsuchten Beamte des Bundeskriminalamts, Experten des Robert Koch-Instituts sowie die Analytische Taskforce der Feuerwehr benachbarte, leerstehende Wohnungen, zu denen der Verdächtige aufgrund seiner Schlüssel auch Zugang gehabt haben könnte.[18] Er wohnte wegen eines Wasserschadens in einer Ersatzwohnung und hatte laut Auskunft des Vermieters einen Generalschlüssel.[19]

Bei H. wurden verschiedene Utensilien beschlagnahmt, darunter 250 Metallkugeln und zwei Flaschen acetonhaltiger Nagellackentferner. Auch wurden Drähte mit aufgelöteten Glühlampen gefunden. Sichergestellt wurden 950 Gramm einer Mischung aus Aluminiumpulver und pyrotechnischen Substanzen aus Feuerwerkskörpern.[3][20]

In den Wohnungen, zu denen der Verdächtige Zugang hatte, wurden 3150 Rizinussamen gefunden. Er soll sämtliche Rizinussamen über den Internetversandhandel bestellt und geliefert bekommen haben. 2100 Rizinussamen können laut Bundesanwaltschaft demnach drei konkreten Bestellvorgängen zugeordnet werden. Die Ermittlungen zur Herkunft der weiteren Rizinussamen dauern an. Laut Bundesanwaltschaft hatte er bis zu seiner Festnahme 84,3 Milligramm hochgiftiges Rizin hergestellt.[20] Bei der Vorbereitung der Tat hatte er mindestens zwei Helfer in Tunesien, bei denen er sich im Mai 2018 per Messenger-Dienst über die Herstellung von Rizin informiert und dann das Gift wie vorgeschlagen an einem Zwerghamster getestet hatte.[21]

Am 3. August 2018 teilte die Bundesanwaltschaft mit, dass der Haftbefehl um den dringenden Tatverdacht der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat erweitert wurde. Nach Erkenntnissen der Ermittler plante H., an einem geschlossenen und belebten Ort einen Sprengsatz mit einer mit dem hochgiftigen Rizin präparierten Splitterladung (Metallkugeln) zu zünden.[22]

Anklage und Prozess

Im März 2019 erhob die Bundesanwaltschaft Anklage vor dem Staatsschutzsenat des OLG Düsseldorf gegen Sief Allah H. und Yasmin H. wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§ 89a StGB), gegen Sief Allah H. überdies wegen versuchter Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland. Sie sollen im Herbst 2017 den Entschluss gefasst haben, in Deutschland durch das Zünden eines Sprengsatzes in einer größeren Menschenmenge einen islamistisch motivierten Anschlag zu verüben, hätten zu diesem Zweck einen erfolgreichen Sprengversuch durchgeführt und Rizin hergestellt. Bereits im August und September 2017 habe Sief Allah H. versucht, aus der Türkei nach Syrien einzureisen, um sich dort als Kämpfer dem Islamischen Staat anzuschließen. Dabei habe ihn seine Ehefrau Yasmin H. durch Geldsendungen und das Buchen von Unterkünften und Flügen unterstützt.[23] Der Strafprozess begann am 7. Juni 2019.[24] Im März 2020 wurde Sief Allah H. zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, das Verfahren gegen Yasmin H. wurde zuvor abgetrennt.[25]

Hintergründe

Bereits 2001 wurde in der Öffentlichkeit bekannt, dass bei Islamisten Anleitungen zum Bau von Nuklearsprengsätzen sowie zur Herstellung von biologischen Waffen mit Rizin gefunden wurden.[26]

Für den Journalisten Florian Flade zeigt sich nach den Fällen der Sauerland-Gruppe, der Düsseldorfer Zelle und des Chemnitzer Bombenbauers Dschaber al-Bakr einmal mehr, dass die deutschen Sicherheitsbehörden bei der Terrorabwehr weiterhin in hohem Maße auf die Hilfe der amerikanischen Geheimdienste angewiesen sind.[27]

Einzelnachweise

  1. Bundesstaatsanwaltschaft: Pressemitteilung. 14. Juni 2018
  2. a b Terror-Hintergrund „sehr wahrscheinlich“. In: Süddeutsche Zeitung, 15. Juni 2018.
  3. a b Polizei findet noch mehr Rizinus-Samen. In: FAZ, 20. Juni 2018.
  4. Lena Kampf: Ein neuer Tätertyp? In: tagesschau.de, 30. Juli 2018, abgerufen am 2. Mai 2019.
  5. Sief Allah H. (29) heiratete sich nach Deutschland. In: Krone, 15. Juni 2018
  6. a b Rizin-Fund: 1000 Giftdosen von Sozialgeld bezahlt. In: Krone, 15. Juni 2018.
  7. Er war dem Verfassungsschutz bekannt. Verdächtiger Tunesier aus Köln wollte zum IS ausreisen und hat sich dadurch verraten. In: Focus, 16. Juni 2018.
  8. Jörg Diehl, Fidelius Schmid: Ermittler nehmen verdächtige Ehefrau fest. In: Spiegel Online, 24. Juli 2018, abgerufen am 2. Mai 2019.
  9. a b Verdächtiger ist offenbar Islamist. In: Tagesschau, 20. Juni 2018.
  10. Zugriff in Köln Tunesier stellte Bio-Waffen mit Rizin her – ein Fehler verriet ihn. In: Express, 14. Juni 2018
  11. Giftiges Rizin in seiner Kölner Wohnung gefundenBehörden stufen Tunesier als IS-Kämpfer ein. In: Focus, 14. Juni 2018.
  12. Medien: Tunesier mit Rizin-Bestellung aufgefallen. dpa-Meldung auf der Webseite der Lübecker Nachrichten, 14. Juni 2018.
  13. Details zum Fall Sief H.: Polizei findet noch mehr Rizinus-Samen. In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 19. September 2018]).
  14. „Biologischer Kampfstoff“ Köln: Bundesgerichtshof erlässt Haftbefehl gegen Sief H. In: Express, 13. Juni 2018.
  15. Köln-Chorweiler. Polizei vereitelt Anschlag – Terror-Verdächtiger in U-Haft In: Kölner Stadtanzeiger, 13. Juni 2018.
  16. Hochtoxische Waffe entdeckt. Tunesier festgenommen: Vereitelte die Kölner Polizei einen Giftanschlag? In: Focus, 13. Juni 2018.
  17. Gefährliche Substanzen gefunden – Haftbefehl gegen Tunesier erlassen. In: ZDF. 13. Juni 2018, archiviert vom Original am 23. Juni 2018;..
  18. Gift-Fund in Köln-Chorweiler „Sehr wahrscheinlich“ Terror-Anschlag verhindert. In: Kölner Stadtanzeiger, 14. Juni 2018.
  19. Neue Beweismittel Gift-Anschlag in Köln vereitelt: Warum hatte Sief Allah H. Zugang zu acht Wohnungen?. In: Focus, 18. Juni 2018.
  20. a b tagesschau.de: Generalbundesanwalt Peter Frank zu Rizin und der abgewendeten Gefahr. Abgerufen am 21. Juni 2018.
  21. Bombenbauer plante islamistischen Anschlag an „belebtem Ort“. In: Die Welt, 3. August 2018.
  22. Bombenbauer plante islamistischen Anschlag an „belebtem Ort“. In: Die Welt, 3. August 2018.
  23. GBA: Anklage wegen des Vorwurfs der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat u. a. erhoben. Pressemitteilung der Bundesanwaltschaft, 7. März 2019, abgerufen am 2. Mai 2019.
  24. Hauptverhandlungstermine in dem Verfahren gegen mutmaßliche Kölner Rizin-Bombenbauer. Pressemitteilung des OLG Düsseldorf, 7. Mai 2019, abgerufen am 7. Juni 2019.
  25. Zehn Jahre Haft für Rizin-Bombenbauer. Zeit Online, 26. März 2020, abgerufen am 27. März 2020.
  26. Herstellungsanleitung für Rizin gefunden. In: Heise.de, 16. November 2001.
  27. Rizin-Fund zeigt, wie abhängig Deutschland von Amerika ist. In: Die Welt, 19. Juni 2018.