Harte Jahre

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Harte Jahre[1] ist ein historischer Roman des peruanischen Nobelpreisträgers für Literatur, Politikers und Journalisten Mario Vargas Llosa, der 2020 auf Deutsch erschienen ist. Der Roman erzählt die politische Geschichte Guatemalas zwischen etwa 1944 und 1957; Schwerpunkt sind die demokratischen Präsidentschaften von Juan José Arévalo (1945–1951) und von Jacobo Árbenz Guzmán (1951–1954) sowie die nachfolgende Diktatur von Oberst Carlos Castillo Armas (1954–1957), der durch einen von der CIA geplanten Putsch an die Macht kam.

Mittelamerika, politische Gliederung

Inhalt

Juan José Arévalo Bermejo

Thema des Romans ist das demokratische Jahrzehnt Guatemalas und sein blutiges Ende. Die beiden gewählten Präsidenten Arévalo und Árbenz vertraten soziale und liberale Reformprogramme, die sowohl die Abhängigkeit der indigenen Bevölkerung von den Grundbesitzern als auch die illiberalen Einschränkungen der Presse, Parteien und Gewerkschaften vermindern bzw. abschaffen sollten.[2] Die als Kern dieses demokratischen Jahrzehnts geschilderte Agrarreform (Verstaatlichung von brachliegendem Boden gegen Entschädigung und seine Verteilung an landlose Bauern) veranlasste die United Fruit Company (heute Chiquita), den größten Landbesitzer Guatemalas, zu einer langfristigen und sehr effektiven politischen Kampagne: Guatemala wurde Modellfall der Destabilisierung einer Demokratie durch Manipulation der öffentlichen Meinung.

In den USA wurde für eine Intervention mit dem Argument geworben, dass in Guatemala eine sowjetische Machtübernahme bevorstehe, die im Namen der Demokratie verhindert werden müsse. Die Planung und Förderung einer Intervention durch die CIA führte schließlich zu einem Militärputsch gegen die gewählte Regierung und zum Einmarsch einer von den USA bezahlten Söldnerarmee. Der Übergang von einer liberalen Demokratie ohne stabile Traditionen zu einer erneuten und beispiellos blutigen Militärdiktatur war für Guatemala und die jungen Intellektuellen der Generation von Vargas Llosa ein Wendepunkt.[3] Der Autor positioniert sich eindeutig gegen diese antidemokratische Konterrevolution, die ohne die Unterstützung der USA vermutlich weder versucht noch erfolgreich gewesen wäre.

In den sich mit ihnen regelmäßig abwechselnden, chronologischen Kurzkapiteln werden die Vorbereitung und Durchführung des Attentats auf Oberst Carlos Castillo Armas sowie die Auswirkungen auf seine beiden Mörder erzählt. Deren Leben lässt der Autor schließlich, als Figur einer Ironie der Geschichte, in derselben Angst und Gewalt enden, der sie ihre unzähligen Opfer unterwarfen, eine fortzeugende Spur der Verbrechen, die sich wie eine allegorische Narbe durch den Roman und die guatemaltekische Geschichte zieht.

Jacobo Árbenz Guzman (oficial)

Titel

Der Titel „Harte Jahre“ fasst als Resümee die Erfahrung eines ganzen Kontinents zusammen, der sich gegen die Übermacht der USA nicht wehren konnte.[4]

Dem Roman ist ein kurzes Zitat der Teresa von Ávila vorangestellt, in dem diese die Wendung „Harte Zeiten“ (im Original „Tiempos recios“) verwendet. Das Zitat entstammt Teresas Autobiographie[5] und ist dort auf das Wirken der Spanischen Inquisition in den Jahren ab 1559 bezogen.

Erzählweise

Die Ereignisse, ihre Hintergründe und Auswirkungen werden in montierten Sequenzen wie für ein Drehbuch[6] erzählt, das die Auswirkungen kapitalistischer Interessen und der amerikanischen „Domino-Theorie“ auf Guatemala als Modell von Ereignissen darstellt, die sich so oder ähnlich in Südamerika, Asien und Afrika zugetragen haben.[7]

Der narrative Akzent liegt nicht auf der sprachlichen Gestaltung, sondern auf der Struktur der Erzählung: In einem Wechsel von längeren und kürzeren Kapiteln entsteht die Komplexität der Ereignisse durch die Verschachtelung von Handlungssträngen, die die Vorgeschichte, den eigentlichen Putsch 1954 und seine Folgen erzählen. Die längeren Kapitel enthalten meistens den Hintergrund der Ereignisse und liefern Charakterbilder, werden aber nicht immer chronologisch, sondern mit Wiederholungen aus der Perspektive anderer Figuren und mit anderen Akzenten erzählt.[8] So durchbricht die Erzählstruktur die narrative Fiktion mit zusätzlichen Varianten der Ereignisse, unterstützt damit die Distanz des Lesers zum Erzähler und die Möglichkeit eines selbständigen Urteils.

Carlos Castillo Armas (LOC 98512008, low-res)

Der auktoriale Erzähler folgt seinen mehr oder weniger nach historischen Persönlichkeiten gezeichneten Protagonisten in großer Nähe, soweit sie sich in ihrem Verhalten und in ihren Gedanken mit der Politik des Landes beschäftigen.[9] Durch die häufig eingesetzte erlebte Rede entsteht eine personalisierte Geschichte politischer Manöver und Intrigen, die sich auf die Sozialstruktur, auf Biografien und Karrieren, auf Traditionen und politische Institutionen konzentriert – die Erzählung wird zum historischen Bericht. Das Figurenensemble wird fast ausschließlich durch seine politischen Anschauungen charakterisiert. Eine Ausnahme ist eine die Milieus der Linken und Rechten verbindende Frauenfigur, deren reales Vorbild der Erzähler während seiner Recherchen interviewt hat und in seinem Epilog beschreibt; eine zweite differenziertere Figur ist einer der beiden Mörder, der als Macho und Frauenverachter bei seinen häufigen Bordellbesuchen mit vorzeitigen Samenergüssen zu kämpfen hat.[10]

Figuren

Protagonistin des Romans ist Marta („Martita“) Borrero Parra, Tochter von Dr. Arturo Borrero und Marta Parra sowie die Frau von Efren García Ardiles. Im Epilog des Buchs beschreibt der Autor sein Zusammentreffen mit "Martita" in den USA, wo sie ihren Lebensabend verbringt.

In dem Roman kommen zahlreiche historische Persönlichkeiten aus Guatemala, der Dominikanischen Republik, den USA, El Salvador, Nicaragua (Somoza) und Haiti ("Papa Doc" Duvalier) vor.

Guatemalteken

Major Enrique Trinidad Oliva, Mitglied der Militärjunta, die im Juli 1954 in Guatemala kurzfristig an der Macht war; im Roman ist er als Chef des guatemaltekischen Militärgeheimdiensts am Mord von Castillo Armas beteiligt.

  • General Jorge Ubico Castañeda, Präsident Guatemalas 1931–44
  • Juan José Arévalo, Präsident Guatemalas 1944–50
  • Jacobo Árbenz Guzmán, Präsident Guatemalas 1950–54
  • Oberst Carlos Enrique Díaz, Präsident Guatemalas vom 27. – 29. Juni 1954
  • Oberst Castillo Armas (“Cara de Hacha”), Präsident Guatemalas 1954–57
  • General Miguel Ydígoras Fuentes, Präsident Guatemalas 1958–63
  • José Manuel Fortuny, Führer der Arbeiterpartei Guatemalas
  • María Cristina Vilanova, Ehefrau von Jacobo Árbenz
  • Odilia Palomo Paíz, Ehefrau von Carlos Castillo Armas
  • Gloria Bolaños Pons (“Marta „Martita“ Borrero Parra”)

Dominikaner

  • Johnny Abbes García („der Dominikaner“), Chef des Militärgeheimdiensts der Dominikanischen Republik 1958–61, im Roman ist er als Militärattaché an der dominikanischen Botschaft in Guatemala am Mord von Castillo Armas beteiligt.

US-Amerikaner

  • John Emil Peurifoy, US-Botschafter in Guatemala 1953–54
  • Sam Zemurray, Vorsitzender der United Fruit Company, taucht im Vorspann auf.
  • Edward Bernays, einer der Begründer der modernen Theorie der Propaganda, taucht im Vorspann auf.

Rezeption

Für Rudolf von Bitter entwickelt sich nach vielen und raumgreifenden Erklärungen doch noch ein „spannender Abenteuerroman mit reichlich Action“.

Nach Katharina Döbler kann der Leser „mit diesem Roman sehr viel über das politische und soziale Flechtwerk Mittelamerikas lernen – und sich von seiner inneren Spannung und seinen sinnlichen Schilderungen mitreißen lassen.“

Für Tobias Wenzel gelingt es Vargas Llosa „größtenteils, dieses haarsträubende geschichtliche Ereignis mitreißend zu inszenieren. Es klingt nach Verschwörungstheorie, ist aber gut belegt.“

Ole Schulz urteilt, dass es dem Autor nicht wie sonst gelungen sei, "das historische Geschehen so elegant aufzubereiten wie gewohnt. Er verliert sich in Details."

Weblinks

  • Rudolf von Bitter, Gespenstisch verdunkelte Zeit, in: Süddeutsche Zeitung vom 23. April 2020 [1]
  • Katharina Döbler, Ein Konzern, der das Land regiert, in: Deutschlandradio vom 10. August 2020 [2]
  • Tobias Wenzel, Neues Buch von Nobelpreisträger Vargas Llosa: Harte Jahre, in: NDR am 20. März 2020 [3]
  • Ole Schulz, Durch die Gringos radikalisiert, in: taz.de am 20. Juni 2020 [4]
  • perlentaucher.de, Harte Jahre. Roman [5]

Einzelnachweise

  1. Mario Vargas Llosa: Harte Jahre. 1. Auflage. Suhrkamp, Berlin 2020, ISBN 978-3-518-42930-3, S. 408.
  2. Vargas Llosa, Harte Jahre, S. 56 ff., 270 ff.
  3. Tobias Wenzel erwähnt, dass diese Ereignisse sowohl Fidel Castro wie auch die junge Generation Südamerikas und zunächst Vargas Llosa zu einer radikalen Linken geführt hätten. Nach Ole Schulz haben die Ereignisse auch Che Guevara radikalisiert, was auch Vargas Llosa in seinem Epilog schildert. (Vargas Llosa, Harte Jahre, S. 407 f.) Die maßlose Übertreibung sozialer Reformen als sozialistisch-kommunistische Revolution war daher aus Sicht der USA wenigstens teilweise kontraproduktiv.
  4. "Unterm Strich verzögerte die US-amerikanische Intervention in Guatemala die Demokratisierung des Kontinents um Jahrzehnte und kostete Tausende von Menschen das Leben." (Vargas Llosa, Harte Jahre, S. 408)
  5. Teresa von Ávila: Vida (Das Buch meines Lebens), Kap. 33 (5)
  6. Rudolf von Bitter: das Handlungsgeflecht könnte man „im Kino (...) goutieren“, aber den Anfang des Romans mache es „sperrig“.
  7. Vargas Llosa, Harte Jahre, erwähnt Griechenland auf S. 275 und 303.
  8. Z. B. die Akkreditierung des US-Botschafters Peurifoy bei Präsident Arbénz auf den Seiten 75 und 265, die Abdankung von Arbénz und die Jagd auf seine Anhänger auf den Seiten 134 ff. und 306 ff. sowie die Ermordung von Oberst Armas auf den Seiten S. 152 und 231.
  9. Nach Tobias Wenzel erhält der Leser den Eindruck, „Augenzeuge der Schlüsselmomente im Guatemala der 50er Jahre“ zu sein.
  10. Wegen seiner mehrheitlich holzschnitthaften Figuren wirkt der Roman auf Katharina Döbler als „ebenso historische Erzählung und Dokumentation wie Thesenroman“, für Tobias Wenzel geht die spürbare historisch-journalistische Recherche „leider etwas auf Kosten der literarischen Qualität“.