Der entwendete Brief

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Der entwendete Brief, Illustration von 1864

Der entwendete Brief (englischer Originaltitel The purloined letter) ist eine Detektivgeschichte von Edgar Allan Poe, die erstmals im Dezember 1844 in dem literarischen Almanach The Gift for 1845 veröffentlicht und bald darauf in verschiedenen Journalen und Zeitungen nachgedruckt wurde. Die Erzählung ist die letzte von Poes drei Detektivgeschichten um C. Auguste Dupin, zu denen auch Der Doppelmord in der Rue Morgue und Das Geheimnis der Marie Rogêt zählen.

Handlung

Hauptperson ist, wie bereits in Der Doppelmord in der Rue Morgue, Auguste Dupin. Die Geschichte wird aus der Ich-Perspektive eines seiner Freunde erzählt. Dupin wird vom Pariser Polizeipräfekten um Hilfe bei der Suche nach einem Brief gebeten, der einer adligen Dame in erpresserischer Absicht gestohlen wurde. Der Täter ist zwar bekannt, trotzdem kann er nicht verhaftet werden, da eine Veröffentlichung oder Vernichtung des Dokuments großen Schaden anrichten würde. Eine Hausdurchsuchung der Polizei bleibt ohne Erfolg. Dupin kommt durch eine Charakteranalyse des Täters zu dem sich als korrekt erweisenden Schluss, dass der Brief nicht etwa aufwendig versteckt ist, sondern offen in einer Ablage liegt und gerade deswegen übersehen wurde.

Literarische Bedeutung und Rezeptionsgeschichte

Poes Gestalt des C. Auguste Dupin wurde zum Vorbild für viele nachfolgende Detektivfiguren, darunter auch Arthur Conan Doyles berühmter Sherlock Holmes. Ebenso wurde das von Poe etablierte Muster, das Vorgehen des herausragenden Detektivs und die Aufklärung des Falles erzählerisch durch einen assistierenden Freund des Detektivs zu vermitteln, als klassisches Erzählschema in zahlreichen anderen Detektivgeschichten und Kriminalromanen übernommen.

Poe selbst hielt The Purloined Letter für eine seiner besten Geschichten.[1] Sie wurde oft nachgedruckt, erstmals in gekürzter Form in der Zeitschrift Chambers' Edinburgh Journal im November 1844. In der Folgezeit wurde die Erzählung in verschiedene Sprachen übersetzt. Die erste Übersetzung erschien 1845 unter dem Titel Une lettre volée in der Zeitschrift Magasin pittoresque; eine Übertragung ins Deutsche von Alfred Mürenberg unter dem Titel Der entwendete Brief wurde wahrscheinlich erstmals 1881 in der Sammlung Seltsame Geschichten im Stuttgarter Spemann Verlag veröffentlicht.[2]

Die Geschichte war in den 1960er und 1970er Jahren Gegenstand einer umfangreicheren literaturtheoretischen Auseinandersetzung zwischen dem Psychoanalytiker Jacques Lacan und dem Philosophen Jacques Derrida.[3]

1988 wurde der Stoff unter der Regie von Stephan Bender mit dem Titel Der entwendete Brief an Schauplätzen in Frankreich verfilmt. Benders Versuch einer filmliterarischen Annäherung an die Poesche Erzählung mit Anleihen beim expressionistischen Film wurde von Kritikern allerdings als eher spröde Inszenierung angesehen.[4]

Deutsche Übersetzungen (Auswahl)

  • ca. 1890: Alfred Mürenberg: Der entwendete Brief. Spemann, Stuttgart.
  • 1896: unbekannter Übersetzer: Der entwendete Brief. Hendel, Halle/S.
  • um 1900: Johanna Möllenhoff: Der entwendete Brief. Reclams Universal-Bibliothek, Leipzig.
  • 1901: Hedda Moeller und Hedwig Lachmann: Der entwendete Brief. J.C.C. Bruns, Minden.
  • ca. 1920: Carl Wilhelm Neumann: Der entwendete Brief. Reclams Universal-Bibliothek, Leipzig.
  • 1922: Gisela Etzel: Der entwendete Brief. Propyläen, München
  • 1922: M. Bretschneider: Der entwendete Brief. Rösl & Cie., München.
  • 1923: Wilhelm Cremer: Der gestohlene Brief. Verlag der Schiller-Buchhandlung, Berlin.
  • ca. 1925: Bernhard Bernson: Der Brief ihrer Majestät. Josef Singer Verlag, Straßburg.
  • 1927: Julius Emil Gaul: Der entwendete Brief. Rhein-Elbe-Verlag, Hamburg.
  • ca. 1930: Fanny Fitting: Der gestohlene Brief. Fikentscher, Leipzig.
  • 1945: Marlies Wettstein: Der entwendete Brief. Artemis Verlag, Zürich
  • 1948: Ruth Haemmerling und Konrad Haemmerling: Der gestohlene Brief. Schlösser Verlag, Braunschweig.
  • 1953: Richard Mummendey: Der entwendete Brief. Hundt, Hattingen.
  • 1953: Elisabeth Seidel: Der entwendete Brief. Dietrich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig.
  • 1966: Hans Wollschläger: Der stibitzte Brief. Walter Verlag, Freiburg i. Br.
  • 1976: Felix Friedrich: Der entwendete Brief. Rütten & Loening, Berlin
  • 1989: Dietrich Klose: Der entwendete Brief. Reclams Universal-Bibliothek, Stuttgart
  • 2017: Andreas Nohl: Der entwendete Brief. dtv, München, ISBN 978-3-423-28118-8.

Literatur

  • John P. Muller (Herausgeber): The purloined Poe: Lacan, Derrida & psychoanalytic reading. Johns Hopkins Univ. Press, Baltimore 1988. ISBN 0-8018-3292-6
  • Walter Reimers und Günter Schubert: Great Detective Stories - Model Interpretations. Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1980, ISBN 3-12-578730-0, S. 34–44.
  • Manfred Smuda: Variation und Innovation. Modelle literarischer Möglichkeiten der Prosa in der Nachfolge Edgar Allan Poes. In: Jochen Vogt (Hrsg.): Der Kriminalroman: Poetik, Theorie, Geschichte. Fink Verlag, München 1998, ISBN 3-7705-3226-0 (Neuerscheinung als UTB-Taschenbuch für Juli 2016 angekündigt, ISBN 978-3-8385-8147-7), S. 121–142.

Weblinks

Wikisource: Tales (Poe)/The Purloined Letter – Quellen und Volltexte (englisch)

Einzelnachweise

  1. In einem Brief an James Russell Lowell vom 2. Juli 1844 schrieb Poe kurz vor der Erstveröffentlichung: „‘The Purloined Letter’, forthcoming in the ‘Gift’, is, perhaps, the best of my tales of ratiocination.“. Siehe 2 July (1844): Edgar Allan Poe to James Russell Lowell. Auf: The American Reader, abgerufen am 5. Februar 2016.
  2. Vgl. zur Veröffentlichungsgeschichte detailliert Edgar Allan Poe — “The Purloined Letter” - Historical Texts. Auf: The Edgar Allan Poe Society, abgerufen am 5. Februar 2016. WorldCat nennt als wahrscheinliches Datum der Ersterscheinung der Sammlung Seltsame Geschichten im Spemann Verlag 1881 oder aber die Folgejahre 1882 und 1883; die Edgar Allan Poe Society gibt demgegenüber als Datum der Erstausgabe der von Mürenberg übersetzten und hrsg. Sammlung von Erzählungen das Jahr 1890 an. Online ist die Übersetzung Mürenbergs im Internet Archive zugänglich unter [1].
  3. Vgl. Jacques Lacan: Le seminaire sur „La Lettre volée“. In: Ecrits, Editions du Seuil, Paris 1966, S. 11–61, in der englischen Übersetzung von Jeffrey Mehlman unter dem Titel Seminar on the Purloined Letter erschienen in: Yale French Studies, Yale University Press, No. 48, 1972, Themenausgabe French Freud, S. 39–39 (online Seminar on The Purloined Letter., auf: www.lacan.com), und Jacques Derrida: "Le Facteur de la vérité", Poetics, 21 (1975), S. 96–14, in der englischen Übersetzung von Willis Domingo et al. erschienen unter dem Titel The Purveyor of Truth in Yale French Studies, Yale University Press, No. 52, 1975, Themenausgabe Graphesis: Perspectives in Literature and Philosophy, S. 31–113 (online zugänglich unter The Purveyor of Truth , auf: JSTOR. Siehe zu der Debatte zwischen Lacan und Derrida auch Barbara Johnson: The Frame of Reference: Poe, Lacan, Derrida. In: Yale French Studies, Yale University Press, No. 55/56 (1977), Themenausgabe Literature and Psychoanalysis. The Question of Reading: Otherwise, S. 457–505 (online zugänglich unter The Frame of Reference: Poe, Lacan, Derrida.) auf JSTOR). Vgl. zu der Kontroverse auch Servanne Woodward: Lacan and Derrida on "The Purloined Letter". In: Comparative Literature Studies, Penn State University Press, Vol. 26, No. 1 (1989), S. 39–49 (online zugänglich unter Lacan and Derrida on "The Purloined Letter" auf JSTOR), sowie Slavoj Žižek: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin 1991, S. 27–48.
  4. Der entwendete Brief. In: Lexikon des internationalen Films. Filmdienst, abgerufen am 5. Februar 2016.