Die Dinge beim Namen

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Die Dinge beim Namen ist ein Roman der Schweizer Schriftstellerin Rebekka Salm. Er wurde 2022 vom Knapp Verlag veröffentlicht.

Autorin

Rebekka Salm studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern. Sie arbeitet als Moderatorin, Erwachsenenbildnerin und Texterin und publiziert in verschieden Literaturformaten, unter anderem im Oltner Tagblatt, in ihrem Wohnort. 2019 konnte sie den Schreibwettbewerb des Schweizer Schrifftstellerwegs gewinnen. Die Siegergeschichte erschien in Buch “Das Schaukelpferd in Bichsels Garten” (2021). “Die Dinge beim Namen” (2022) ist ihr Debütroman.[1] Laut Salm ist viel der Kulisse, der Stimmungen und Tendenzen ihrem Heimatdorf, Bubenberg bei Liestal, nachempfunden.

Zusammenfassung

Der Roman beginnt mit Vollenweider, der sein Manuskript abschicken möchte, welches sich um das Leben im Dorf dreht und die Geschichte Sandras erzählt.  

Danach erzählt Salm Geschichten aus den Perspektiven von verschiedenen Dorfmitgliedern, aus welchen sich folgender Handlungsstrang rekonstruieren lässt.

1984 wurde Sandra am Orchesterabend von Max vergewaltigt. Da sie schwanger war, musste sie Max heiraten, da ein uneheliches Kind, vor allem mit 16, fürs Dorf und ihre Familie undenkbar gewesen wäre. Am Ende des Buchs stellt sich jedoch heraus, dass sie vorher schon von René schwanger war. Deshalb wollte sie Max verführen und mit ihm schlafen, um ihn als Vater inszenieren und heiraten zu können. Dies, da ein uneheliches Kind eine zu grosse Schmach wäre. Als sie es sich jedoch anders überlegte kam es zur Vergewaltigung. Da sie nicht nach Hause gehen wollte, nahm Freddy sie zu sich und begleitete sie am nächsten Morgen zum alten Lysser. Auf dem Polizeiposten erstatte sie auf Druck des alten Lyssers keine Anzeige, da er keine Unruhe im Dorf wollte. Jedoch fragte er sie, «ob es den nicht sein könne, dass sie Max schöne Augen gemacht habe» und «ob sie denn nicht auch sehen könne, dass ein so kurzer Rock […] geradezu eine Einladung sei [...].»

Als Folge heiratete Sandra Max und auch alle anderen ihrer Jugendfreunde kommen langsam unter die Haube.  

Die Geschichte spielt im Jetzt, wo Sandra und der Rest ihrer Generation um die fünfzig Jahre alt sind. Jedoch setzt sich der Roman Grossteils aus Rückblenden und Erinnerungen zusammen. In der Gegenwart dreht sich sehr viel um die Organisation des Orchesterabend und die Baustelle auf der ehemaligen Bündte, wo eine Immobilienfirma einen Wohnkomplex baut.

Als Nebenhandlungsstrang wird noch die Geschichte des Alten Lysser und Vally, Sandras Mutter, erzählt.

Der alte Lysser war in seiner Jugend nämlich, bevor er in den Krieg zog, in Vally verliebt. Als er zurückkehrte, tauchte plötzlich ''der Jud'' auf, welcher viel Zeit mit Vally verbrachte. Aufgrund ständiger Eifersucht griff er ihn, als er ihn beim «Stehlen» erwischte, an. In der Annahme, er habe ihn getötet, bittet er seinen Vater, es zu klären. Als sein Vater zurückkehrt, sagt er nichts. Deshalb geht der alte Lysser bis zum heutigen Tag davon aus, dass er auf der Bündte verscharrt ist und dass die Polizei aufgrund der Bauarbeiten auf seinem Grundstück jeden Moment klingeln wird. Jedoch weiss er nicht, dass Vally die ganze Szene beobachtet hatte und sah, dass «der Jud» überlebte und weiterzog.

Charaktere

Schema, welches die Beziehungen relevanter Rollen darstellt.

Vollenweider

Der Vollenweider ist im Dorf als etwas spezielle Figur bekannt, man nennt ihn auch den ''Waldschrat''. Sein Bruder, Andreas, hatte sich wegen ihres gewalttätigen Vaters mit 20 Jahren das Leben genommen, seine Mutter starb daraufhin aus Kummer und der Vater starb auch schon früh. Da für den Vollenweider die Geschichten in seinem Kopf erträglicher werden, wenn er sie niederschreibt, schreibt er, seit er schreiben kann. So schreibt er auch Sandras Geschichte immer wieder, wobei sich Details verändern, in der Hoffnung das die Geschichte einmal eine andere Wendung nehmen würde. Er ist seit seiner Jugend in Sandra verliebt und hatte in den letzten Jahren eine lose Affäre mit ihr. Seit sie jedoch auf seinem Computer seine Geschichte gefunden hat, sind sie zerstritten und sie hat sich seither auch nicht mehr gemeldet.

Freddy

Freddy ist der psychisch behinderte Cousin von Sandra. Seit beide seiner Eltern gestorben sind, fährt ihn niemand mehr in eine Werkstatt zum Arbeiten. Nun widmet er seine Zeit seiner Leidenschaft für Käfer. Da er von seinen Cousins und Cousinen, allen voran Sandra, an Familienfesten gemobbt wurde, greift er nicht ein als er die Vergewaltigung beobachtet. Jedoch bietet er ihr an, bei ihm zu schlafen und begleitet sie danach zum alten Lysser.

Roland

Der Sohn von Sandra. Sein biologischer Vater ist René, jedoch weiss er dies nicht und ist mit Max als de facto Vater aufgewachsen. Er ist stark von der leblosen Ehe seiner Eltern geprägt. In seiner Jugend war er eng mit Micha befreundet und sie schworen sich zu heiraten. Daraus wurde jedoch nichts, da Roland schwul ist und sie sich auseinanderlebten. Jetzt hat er eine Affäre mit René, welche Tschudin entdeckt.

Melanie

Melanie zeigte an jenem Abend 1984 Interesse an Max. Deshalb ist sie eifersüchtig und wütend auf Sandra und verbreitet Gerüchte darüber, wie sie Max verführt habe. Sie ist mit René verheiratet, was mehr wie eine Zweckheirat erscheint, da sie heirateten als die anderen schon Sprüche machten, dass sie wohl nie mehr jemanden finden werden. Auch ihr Sexleben ist inexistent, da René schwul ist. Melanie erklärt auch, dass er es nicht bös meint, wenn er nicht auf ihre Avancen reagiert - er versteht es einfach nicht.

Der alte Lysser

Der alte Lysser heisst Fritz und war früher Dorfpolizist. In seiner Jugend hat er nach dem Zweiten Weltkrieg aus Eifersucht “den Jud” angegriffen und ist überzeugt, dass der starb und dass die Bauarbeiter auf seinem Grundstück bald die vergrabene Leiche finden.

Vally

Vally ist die Mutter von Sandra. Sie ist etwas jünger als der alte Lysser und er war, als sie jung waren, in sie verliebt. Sie verstand sich jedoch gut mit “dem Jud”, was den Lysser wütend machte. Vally ist Michas Grosstante. Durch ihre Demenz kauft sie jeden Tag russischen Salat und Kondensmilch für ihren toten Ehemann ein. Vally stirbt bevor der Roman zu Ende ist.

Micha

Micha ist eine Cousine und Jugendfreundin von Roland, welcher von den Eltern immer gesagt wurde: «Wird ja nicht wie Sandra.” Sie arbeitet im Dorfladen und darf auf Anweisung ihrer Chefin ihre Grosstante Vally nicht daraufhin weisen, dass sie aufgrund ihrer Demenz dasselbe schon zum zehnten Mal die Woche kauft. Ist jung geblieben und fährt jedes Wochenende in die Stadt, um sich eine neue Eroberung zu suchen.

Der Tschudin

Der Tschudin ist der Dorfmetzger. Er ist Opfer häuslicher Gewalt durch seine Frau Regula, was ihm viel Spott einbringt. Niemand konfrontiert ihn damit und obwohl ihm bewusst ist, dass es alle wissen, versteckt er es. Als Max Vollenweider verprügelt ist er dabei, um ausnahmsweise auf der austeilenden Seite zu sein. Er steht mit Sandra auf gutem Fuss. Er erwischt René und Roland bei einem nächtlichen Treffen.

Chantal

Chantal ist eine Prostituierte, welche schon lange im Dorf lebt, aber ursprünglich aus einem ärmeren Land Osteuropas stammt, weshalb sie ihrer Mutter auch jede Woche Geld schickt. Sie wird so beschrieben, dass sie aufgrund ihres Berufes zu viel weiss, da die Männer aus dem Dorf zu ihr kommen und sehr gerne erzählen. Sie kauft sich eine Wohnung im Wohnkomplex auf der Bündte, worauf Sandra entgeistert reagiert. Dies, weil Chantal zwar schon lange zum Dorf gehört, aber ausserhalb gelebt hat und das laut Sandra auch so bleiben soll. Die Frauen wollen ihren Männern nicht beim Betrug zuschauen, auch wenn sie sowieso wissen, dass es passiert.

Beat

Beat ist Briefträger. Er ist mit Helen verheiratet, die in ihrem Blumenladen die Post entgegennimmt. Damit kann er Vollenweiders Manuskripte per Post aufhalten. Nachdem er als Mitläufer dabei ist, als Max Vollenweider verprügelt, hat er Gewissensbisse und halluziniert sogar, dass der Geist von Vollenweiders Bruder Andreas, mit dem Beat gut befreundet war, ihn zurechtweist.

Julia

Julia ist Sandras elfjährige Cousine. Sie ist schlecht in der Schule aber künstlerisch begabt. Ihr Vorbild ist die mexikanische Malerin Frida Kahlo. Sie wird in der Schule gemobbt.

Sandra

Sandra ist die Hauptfigur des Romans, auch wenn sie persönlich nicht sehr oft vorkommt. Jedoch dreht sich der Haupterzählungsstrang um die Geschichte ihrer Vergewaltigung im Februar 1984. Als sie Max verführen wollte und ihn somit zum Vater des Kindes von René auserkoren hatte, überlegte sie es sich anders, jedoch setzte er sich darüber hinweg und vergewaltigte sie. Daraufhin musste sie ihn aufgrund Druckes von ihrer Mutter heiraten, auch wenn sie es lieber nicht getan hätte. Die letzten Jahre hatte sie eine lose Affäre mit dem Vollenweider. Seit sie jedoch auf seinem Computer seine Geschichte gefunden hat, sind sie zerstritten und sie hat sich seither auch nicht mehr gemeldet. Bei ihrer Charakterisierung ist auffällig, dass sie als Kind lange, engelgleiche blonde Haare hatte. Jedoch schnitt sie sie noch vor der Hochzeit unsorgfältig und färbte sie selbst schwarz. Dies wirkt als müsste sie sich selbst von ihrem alten selbst und ihrer Mutter distanzieren. Spannend ist auch, wie sich Sandra selber beschreibt. Sie schaut in den Spiegel und sagt, dass sie ganz verschiedene Dinge in verschiedenen Teilen ihres Gesichtes sieht. Dinge, die sie an ihre Kindheit erinnern, Dinge, die sich seit dann verändert haben, wie sie selbst. Jedoch ergeben alle diese Teile und Geschichten ihr Gesicht.

Form

Der Roman besteht aus zwölf Kapiteln, die jeweils aus einer anderen Perspektive geschrieben sind. Es gibt bei allen eine Verbindung zur Vergewaltigung Sandras. Das erste Kapitel ist aus der Perspektive Vollenweiders, der ein Buch über die Vergewaltigung schreibt, das letzte Kapitel ist aus Sandras Perspektive geschrieben. Damit ergibt sich eine Art spiralförmige Struktur, bei der sich der Inhalt über den ganzen Roman hinweg um Sandra dreht und sich ihr annähert, bis man die Geschichte aus ihrer Sichtweise wahrnimmt. Die Kapitel beginnen alle in der Gegenwart und gehen mit einer Rückblende zur Vergewaltigung aus einer neuen Perspektive weiter. Salm nutzt die unterschiedlichen Perspektiven unter anderem, um die dörflichen Gerüchte ins Spiel zu bringen und in späteren Kapiteln zu bestätigen oder zu widerlegen.

Die Figuren sprechen ein sehr ausgeprägtes Schweizer Hochdeutsch, was besonders typisch für ländliche Gebiete der Schweiz ist. Die Sprache der einzelnen Charaktere ist teilweise angepasst, beispielsweise spricht der alte Lysser mit übermässig viel Helvetismen, während Micha, die regelmässig in die Stadt feiern geht entsprechend städtischer spricht.

Bei der Beschreibung Vollenweiders Buchs bedient sich Salm einer ironischen Selbstreferenzialität, die typisch für postmoderne Literatur ist.[2]

Motive

Die Erdbeere

Das Motiv der Erdbeere wird zuerst von Vollenweider eingeführt, als er in seinem Buch behauptete, dass auf Sandras Rock eine Erdbeere gestickt war.[3] Im späteren Verlauf des Buches werden Farben und Formen oft mit einer Erdbeere verglichen.[4] Die Erdbeere wird später verwendet, um Blutflecke zu beschreiben.

Geschichten

Das Motiv der Geschichten, die übereinander erzählt werden, ist sehr präsent im Roman. Es taucht immer wieder auf. Zum Beispiel, die verschiedenen Geschichten die Sandras Gesicht erzählt[5] oder die verschiedenen Versionen der Geschichte von Sandras Vergewaltigung, die existieren.  Es steht für die Gerüchte und Halbwahrheiten, welche beim Dorftratsch immer wieder neu erzählt werden, wodurch immer wieder neue Versionen entstehen. Eigentlich ist es ein ständiges, seit Jahrzehnten praktiziertes, um-den-heissen-Brei-Gerede, anstatt dass offen über unangenehme Themen gesprochen wird.  

Interpretation

Der Roman ist mit seiner Behandlung von sexueller und häuslicher Gewalt und dem fragwürdigen gesellschaftlichen Umgang damit ein typischer #MeToo-Roman. Insbesondere das Victim blaming, mit dem sich Sandra und Tschudin konfrontiert sehen, wird bewusst und polemisch hervorgehoben.

Ausserdem ist es eine Darstellung von Bubenberg bei Liestal, des Dorfes, in dem sie einst gelebt hat.[6] Jedoch kann man auch davon ausgehen, dass sich diese Dinge so auch in jedem anderen Schweizerdorf zutragen hätten können.  Laut Rebekka Salm ist die Darstellung «überspitzt». Ausserdem wisse sie nicht mehr, wie es heute auf dem Dorf laufe. Sie kritisiert den Widerwillen der Leute, einander direkt zu konfrontieren sowie die Opfer, die man zum Aufrechterhalten einer Fassade von Dorffrieden zu machen bereit ist. Die dargestellten Menschen haben sich noch nicht bei ihr gemeldet.[7]

Rezeption

Der Roman wird aufgrund der Thematik von Vergewaltigung und häuslicher Gewalt der #MeToo-Bewegung zugeordnet.[8] Er wurde überwiegend positiv bewertet und war von Mai bis Juli 2022 auf der SRF-Bestenliste aufgeführt.[9][10][11] Ansonsten wurde im Lokaljournalismus viel über ihn geschrieben, zum Beispiel im Solothurner Tagblatt.[12]

Einzelnachweise

  1. Rebekka Salm. Abgerufen am 16. September 2022 (deutsch).
  2. Rebekka Salm: Die Dinge beim Namen. 1. Auflage. Knapp Verlag, Olten 2022, ISBN 978-3-907334-00-3, S. 169.
  3. Rebekka Salm: Die Dinge beim Namen. 1. Auflage. Knapp Verlag, Olten 2022, ISBN 978-3-907334-00-3, S. 15.
  4. Rebekka Salm: Die Dinge beim Namen. 1. Auflage. Knapp Verlag, Olten 2022, ISBN 978-3-907334-00-3, S. 17, S. 174.
  5. Rebekka Salm: Die Dinge beim Namen. 1. Auflage. Knapp Verlag, Olten 2022, ISBN 978-3-907334-00-3, S. 172.
  6. «Dass wir nicht miteinander kommunizieren, ist ein Riesenproblem». In: Kolt. 13. April 2022, abgerufen am 16. September 2022 (Schweizer Hochdeutsch).
  7. Rebekka Salm "Die Dinge beim Namen", Knapp. In: literaturblatt.ch. 13. Mai 2022, abgerufen am 16. September 2022 (Schweizer Hochdeutsch).
  8. Das beste Frühlingsdebüt 2022 aus der Schweiz. 22. April 2022, abgerufen am 16. September 2022 (deutsch).
  9. SRF-Bestenliste - Die besten Bücher im Mai. 29. April 2022, abgerufen am 21. September 2022.
  10. SRF-Bestenliste - Die besten Bücher im Juni. 26. Mai 2022, abgerufen am 21. September 2022.
  11. SRF-Bestenliste - Die besten Bücher im Juli. 30. Juni 2022, abgerufen am 21. September 2022.
  12. Urs Huber: Rebekka Salm beschreibt in "Die Dinge beim Namen" die Dramaturgie des Stillstands. Abgerufen am 16. September 2022.