Abtsche Weiche
Die abtsche Weiche (auch Abt’sche Weiche) ist eine vom Schweizer Eisenbahnkonstrukteur Carl Roman Abt als „passive Weiche“ erfundene Gleiskonstruktion für Standseilbahnen, die eine selbsttätige Vorbeifahrt der Fahrzeuge an einer Ausweichstelle eingleisiger Strecken ermöglicht. Sie wird zweifach, d. h. sowohl am Anfang als auch am Ende der Ausweichstelle eingebaut. Die Ausweichstelle wird auch abtsche Ausweiche genannt.
Geschichte
Die ersten abt’sche Ausweiche wurde in die Strecke der 1879 eröffneten Giessbachbahn, die dadurch zur ersten nur eingleisig gebauten Standseilbahn wurde. Für die erstmalige Anwendung der Abt’schen Weichen wurde die Bahn im August 2015 von der American Society of Mechanical Engineers als historisches Denkmal des Maschinenbaus ausgezeichnet.[1] Entsprechende Gedenktafeln befinden sich in der Tal- und der Bergstation.[2]
Die bei der Giessbachbahn ursprünglich angewendete Bauform der Abt’schen Weiche war noch anders als die heute übliche. Die heutige Ausführung wurde erstmals 1886 bei der Standseilbahn Lugano–Bahnhof SBB ausgeführt. Im Winter 1890/1891 wurde die Giessbachbahn auf die heute übliche Bauform umgebaut.[3]
Funktionsprinzip
Diese Weichen-Konstruktion ohne Weichenzunge und sonstige bewegliche Teile findet an den in der Streckenmitte nötigen Ausweichstellen eingleisiger Standseilbahnen Anwendung, um die Vorbeifahrt entgegenkommender Fahrzeuge beziehungsweise Bahnkabinen selbsttätig („automatisch“) zu ermöglichen. Sie kann auch in einer Kurve liegen und muss nicht zwangsläufig in gerader Fahrtrichtung gebaut werden. Die Abtsche Weiche ermöglicht auch eine problemlose Führung des Antriebsseils, welches mit schräg gestellten Rollen zwischen den Fahrschienen korrekt in das jeweilige Ausweichgleis geführt wird.
Jeder Radsatz eines Wagens ist mit zwei unterschiedlichen Rädern ausgerüstet. Heute sind das ein Doppelspurkranzrad – ein Rad, das auf beiden Seiten Spurkränze trägt – und ein breites Rad ohne Spurkränze (Walzenrad). Von den beiden Wagen, die gegenläufig auf der eingleisigen Strecke betrieben werden, hat einer die Doppelspurkranzräder auf der rechten und der andere auf der linken Seite. Die Wagen werden auf der gesamten Strecke nur von den Doppelspurkranzrädern geführt.
An der Ausweichstelle führen beide Schienen ohne Unterbrechung nach außen und am Ende wieder zusammen, wobei die der jeweiligen Schiene zugehörigen Doppelspurkranzräder mit ihrem jeweiligen Wagen in der Ausweichstelle immer rechts bzw. links laufen. Unabhängig von der Fahrtrichtung fahren die beiden Wagen also immer auf demselben Gleis durch die Ausweichstelle. Das Zugseil jeden Wagens wird mittels schräg gestellter Stützrollen ebenfalls auf die zugehörige Seite abgelenkt. Innen ist grundsätzlich nur je eine Lücke pro Schiene an beiden Enden der Ausweichstelle erforderlich. Durch sie fahren die inneren Kränze der Doppelspurkranzräder und können die Zugseile laufen. Die breiten Walzenräder fahren mit kaum spürbare Stössen darüber und über meistens doch separat für die Seile vorhandene Lücken. Wegen der fehlenden Spurkränze kreuzen sich die Innenschienen ohne die bei Standardweichen erforderliche Herzstücklücke.
Die bei der Giessbachbahn ursprünglich angewendete Bauform der Abt’schen Weiche und die Fahrwerke der dort verkehrenden Wagen unterschieden sich vom heute Üblichen. Die Räder eines der beiden Wagen hatten außenliegende Spurkränze, die des anderen innenliegende. Von den beiden Außenschienen konnte nur eine (die bergwärts linke) lückenlos bleiben.[4][5] Die Gleisanlage wurde wegen den Lücken in der rechten Schiene und den zusätzlich nötigen Radlenkern komplizierter und wartungsintensiver als die heute verwendete Bauart.[6] Die Innenschienen zweigten mit je zwei Lücken von den Außenschienen ab und hatten zudem an jeder ihrer Kreuzungsstelle je eine weitere Lücke (zusammen vier weitere). Grund dafür war, dass die im Eisenbahnbau üblichen Räder mit einseitigem Spurkranz eingesetzt werden (die mit außenliegenden Spurkranz waren lediglich umgekehrt als üblich eingebaute Räder).
Ausfallsicherheit
Weil die Abt'sche Weiche keine beweglichen Teile hat, ist sie wartungsarm und relativ ausfallsicher, was bei Bahnen mit ihren zum Teil sehr steilen Strecken einen wichtigen Sicherheitsfaktor darstellt.
Anwendung
Abt’sche Weichen können außer bei Standseilbahnen auch in den Ausweichstellen von Zahnradbergbahnen verwendet werden. Hierbei werden anstatt der Zugseile die Zahnstangen durch die Lücken in den Innenschienen geführt. Da deren Zahnköpfe gleich hoch wie die Schienenoberkanten liegen, laufen die Walzenräder ruhiger darüber, als wenn sich Seile in variabler Höhe in den Lücken befinden. Bei Standseilbahnen, in denen zusätzlich auch Regelfahrzeuge (Räder nur mit Innenkränzen) befördert werden sollen (Beispiel: Bahnstrecke Triest–Opicina), sind abt'sche Weichen nicht verwendbar.
obere Abt'sche Weiche in der Standseilbahn Lugano/Zentrum - Bahnhof
mit ursprünglich mittiger Brems-ZahnstangeAbt'sche Weichen
in der Petřín-Standseilbahn (Tschechien)obere Abt'sche Weiche
in der Skansens Bergbana (Schweden)untere Abt'sche Weiche
in der Schloßbergbahn (Graz) (Österreich)
Sonstiges
Weil die Wagen in den Endhaltestellen ohne Wenden des Fahrzeugs ihre Fahrtrichtung umkehren, kommt es technisch bedingt in der Ausweichstelle wechselweise zu Links- und Rechtsverkehr. Jeder Wagen passiert die Ausweichstelle immer auf „seiner“ Seite, unabhängig davon, ob er nach oben oder unten fährt.
Literatur
- R. Abt: Seilbahn Lugano: System Abt. In: Schweizerische Bauzeitung. Band 9, Nr. 6, 1887, S. 38, doi:10.5169/SEALS-14347 (Zeitgenössische Beschreibung der Abtschen Weiche in der heutigen Bauform).
Weblinks
- Abtsche Weiche bei der Petřín-Standseilbahn in Prag
- Abtsche Weiche bei der Petřín-Standseilbahn in Prag im Detail
- Abtsche Weiche bei der Petřín-Standseilbahn in Prag aus anderer Richtung
- Abtsche Weiche bei der Sommerbergbahn in Bad Wildbad (Schwarzwald)
Einzelnachweise
- ↑ Giessbachbahn funicular named mechanical engineering. ASME, 27. August 2015, abgerufen am 22. Dezember 2019 (englisch).
- ↑ Grand Hotel Giessbach (Hrsg.): Giessbach Standseilbahn. S. 6 (giessbach.ch [PDF]).
- ↑ 3855.01 Giessbach See Schiffstation - Giessbach Grandhotel. In: standseilbahnen.ch.
- ↑ R. Abt: Die Seilbahn am Giessbach. In: Die Eisenbahn. 1879, S. 103–104, doi:10.5169/SEALS-7731.
- ↑ R. Abt: Die Seilbahn am Giessbach. 1879, doi:10.5169/SEALS-7733 (Beilage mit Tafel III Oberbau Seilbahn am Giessbach).
- ↑ Literatur. Vorstellung Adolf Wild: Die Standseilbahn am Giessbach. In: Eisenbahn Amateur. Nr. 9, 2017, S. 427.