Appell 8. Mai 1945 – gegen das Vergessen

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Der Appell 8. Mai 1945 – gegen das Vergessen war eine neurechte politische Kampagne im Jahr 1995 anlässlich des 50. Jahrestages der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht und dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland.

Anlass

Am 8. Mai 1995 jährte sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 50. Mal. Zu diesem Anlass plante die Bundesregierung umfassende Veranstaltungen zur Würdigung des Tags der Befreiung vom Nationalsozialismus. Vor allem in rechtskonservativen Kreisen wurde eine andere, weniger unterwürfige Sichtweise gefordert.

Der Appell 8. Mai 1945

Der Initiator des Berliner Appells Rainer Zitelmann, Alfred Dregger sowie die Publizisten Klaus Rainer Röhl, Heimo Schwilk und Ulrich Schacht[1] forderten am 7. April 1995 in einer Anzeige in der FAZ unter dem Titel Appell 8. Mai 1945 – gegen das Vergessen ein Umdenken und beriefen sich auf Alt-Bundespräsident Theodor Heuss, der das Kriegsende eine „Paradoxie“ der Deutschen nannte – „weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind“. Den Initiatoren des Appells nach drohte „in Vergessenheit zu geraten, dass dieser Tag nicht nur das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft bedeutete, sondern auch den Beginn von Vertreibungsterror und neuer Unterdrückung im Osten und den Beginn der Teilung unseres Landes“. Die Charakterisierung des 8. Mai 1945 „von Medien und Politikern als ‚Befreiung‘“ sei „einseitig“. Dieses „Geschichtsbild“ könne „nicht Grundlage für das Selbstverständnis einer selbstbewussten Nation sein“.[2]

In seiner Autobiografie Wenn du nicht mehr brennst, starte neu stellt der Initiator des Aufrufes, Rainer Zitelmann, die Entstehung des Aufrufes sowie die Rolle Alfred Dreggers aus seiner Sicht dar. Dregger hatte ursprünglich zugesagt, als Hauptredner bei einer Veranstaltung von Zitelmann aufzutreten. „Aber in den Telefonaten mit mir räumte Dregger ein, dass Bundeskanzler Helmut Kohl ihn bedrängte, seine Zusage zurückzuziehen. Grund war weniger der Anzeigentext oder das Thema 8. Mai als der geplante Auftritt von Manfred Brunner bei der Podiumsdiskussion. Der war Kohl ein Dorn im Auge, weil Brunner ein vehementer Gegner des Euro war – jenes Projektes, das Kohl besonders am Herzen lag.“[3]

Sie stellten sich damit gegen die Position von Richard von Weizsäcker, die dieser in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes (1985) eingenommen hatte. Weizsäcker hatte zwar auch betont, „welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten“, jedoch „wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“.[4]

Der Appell wurde unterzeichnet von etwa 300 Personen, darunter zahlreichen deutschen Hochschulprofessoren und hochrangigen Militärangehörigen (darunter 12 Bundeswehrgeneräle). Aus Politikerkreisen finden sich Ottmar Wallner und Ingeborg Seifert (beide Republikaner), Carl-Dieter Spranger, Friedrich Zimmermann und Peter Gauweiler (alle CSU), Heinrich Lummer (CDU), Alexander von Stahl (FDP). Weiterhin unterzeichneten Publizisten, vor allem der Jungen Freiheit (Dieter Stein, Karlheinz Weißmann), Wissenschaftler und Ärzte.

Hans Apel (SPD) zog seine Unterschrift nach der Veröffentlichung zurück.

Der Appell war zugleich Auftakt eigener Veranstaltungspläne der Initiatoren. Am 7. Mai 1995 sollten Alfred Dregger, Ulrich Schacht und Manfred Brunner in München eine Gegenveranstaltung zum „Tag der Befreiung“ bestreiten.[2]

Zum 7. Mai 2005 (dem 60. Jahrestag des Kriegsendes) wurde die Anzeige mit dem Appell erneut in der FAZ publiziert. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Appell bereits über 1000 Unterstützer.[5]

Das Institut für Staatspolitik richtete am 8. Mai 2005 sein 9. Berliner Kolleg aus und widmete es dem Appell. Referenten waren Ernst Nolte, Gert Schultze-Rhonhof und Johann Adolf Graf von Kielmansegg.[6]

Medienecho

Der Appell wurde von verschiedenen überregionalen Medien aufgegriffen und überwiegend heftig kritisiert.[7][8] Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung und Ralph Giordano (für die TAZ) warfen dem Appell Revisionismus vor.[2]

Andreas Förster stellte im Freitag und in der Frankfurter Rundschau die konsistente Verbindung zwischen rechtskonservativen Eklats und Mitgliedern der Bundeswehr dar und hob dabei auch den „Appell 8. Mai 1945“ mit seinem breiten Unterstützerkreis aus dem Militär hervor.[9][10]

Zitelmann stellte sich noch im April 1995 der SAT.1-Fernsehdiskussion Talk im Turm.[2]

Politische Reaktionen

Michel Friedman (CDU) beklagte, der Appell orientiere „junge Menschen in die falsche Richtung“. Auch Heiner Geißler beharrte auf der ausschließlichen geschichtlichen Bewertung des 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“.[1] Kritik kam auch von Ignatz Bubis, der seinerseits Widerspruch von der FAZ und von Heiner Kappel erfuhr. Mitunterzeichner Carl-Dieter Spranger erhielt Rückendeckung durch Theo Waigel. Guido Westerwelle und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger äußersten sich bestürzt über den Appell, der auch von FDP-Mitgliedern unterzeichnet worden war. Hanna-Renate Laurien empfahl den Unterzeichnern in einem Gegenappell, sich von ihrer Position im „Appell 8. Mai 1945“ zu distanzieren.

Auch die SPD forderte zur Distanz auf, dem folgte Ex-Bundesminister Hans Apel.[11] SPD-MdB Siegfried Vergin thematisierte den Appell im Deutschen Bundestag kritisch.[12]

Bundeskanzler Helmut Kohl erwirkte Dreggers Rückzug von der geplanten Veranstaltung am 7. Mai 1995. Wolfgang Schäuble verteidigte aber die inhaltliche Position Dreggers, die dieser auch gegen weitere öffentliche Kritik beibehielt.[13] Am 28. April 1995 wurde die Veranstaltung gänzlich abgesagt.[2]

Die Berliner CDU-Mitglieder Matthias Seegrün, Norman Gutschow und Gerard Bökenkamp traten auf Druck der Parteispitze aus ihrer Partei aus, nachdem ihre Unterschrift zum Appell bekannt geworden war.[14][15]

Wissenschaftliche Einordnung

Laut dem Politikwissenschaftler Wolfgang Gessenharter war dieser Appell von einer Initiative formuliert worden, deren Mitglieder als Neue Rechte bezeichnet wurden.[16] Der „Appell gegen das Vergessen“ zeige einen neuen Ton „in der neurechten Debatte“, als mittels der Kampagne nicht mehr ‚nur‘ die „kulturelle Hegemonie“ angestrebt, sondern darüber hinaus „Schritte zur politischen Vorherrschaft anvisiert“ wurden. Die zentrale Zielsetzung der Initiatoren, „die Zusammenführung aller ‚national gesinnten Kräfte in Deutschland‘, um die ‚Neue demokratische Rechte‘ zu einem ‚unübersehbaren‘ Machtfaktor werden zu lassen und damit ‚das linke Weltanschauungskartell‘ aus seinen Machtpositionen zu vertreiben“, wurde deutlich.[17]

Mehrere historisch-politikwissenschaftliche Publikationen ordnen den Appell als relevantes Ereignis in das Aufblühen der Neuen Rechten ein.[18][19][20][21][22][23] Zu diesem Urteil gelangen auch Jan-Holger Kirsch und Thomas Pfeiffer.[24][25]

Einzelnachweise

  1. a b Erlöst und vernichtet. In: Focus. 3. April 1995, abgerufen am 21. August 2019.
  2. a b c d e http://zitelmann-autobiografie.de/leseproben/128-worte-die-fuer-viel-aufregung-sorgen/
  3. 128 Worte, die für viel Aufregung sorgen | Leseproben | Rainer Zitelmann | Autobiografie | Wenn du nicht mehr brennst, starte neu. Abgerufen am 21. Mai 2020.
  4. Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1945: „Ein Tag der Befreiung“ – die große Rede. In: Der Tagesspiegel. 31. Januar 2015, abgerufen am 21. August 2019.
  5. Institut für Staatspolitik (Memento vom 26. September 2007 im Internet Archive)
  6. https://staatspolitik.de/chronik-2005/
  7. Dieter Rulff: Rechte trauern um die Befreiung. In: taz. 30. März 1995, abgerufen am 21. August 2019.
  8. Kriegsende: Volle Wahrheit. In: Der Spiegel. Nr. 16, 1995, S. 91 f. (online17. April 1995).
  9. Andreas Förster: Geist der Wehrmacht. In: der Freitag. 24. Mai 2017, abgerufen am 21. August 2019.
  10. Andreas Förster: Die Offiziere und die Neue Rechte. In: Frankfurter Rundschau. 12. Mai 2017, abgerufen am 21. August 2019.
  11. „Gefährlich und unzulässig“. In: Focus. 15. April 1995, abgerufen am 21. August 2019.
  12. Stenographischer Bericht der 172. Sitzung. (PDF) Deutscher Bundestag, 24. April 1997, S. 106, abgerufen am 21. August 2019.
  13. Dregger: Ich bin dabei. In: taz. 24. April 1995, abgerufen am 21. August 2019.
  14. André Freudenberg: Freiheitlich-konservative Kleinparteien im wiedervereinigten Deutschland. Leipzig 2009, ISBN 978-3-86901-228-5 (S. 367 in der Google-Buchsuche).
  15. Junge Rechte mussten gehen. In: Der Tagesspiegel. 21. Mai 2005, abgerufen am 21. August 2019.
  16. Wolfgang Gessenharter: Rückruf zur «selbstbewußten Nation» – Analyse eines neurechten Frames aus bewegungstheoretischer Sicht. In: Kai-Uwe Hellmann, Ruud Koopmans: Paradigmen der Bewegungsforschung: Entstehung und Entwicklung von Neuen sozialen Bewegungen und Rechtsextremismus. Springer-Verlag 2013, S. 166
  17. Wolfgang Gessenharter: Rückruf zur selbstbewußten Nation – Analyse eines neurechten Frames aus bewegungstheoretischer Sicht. In: Kai-Uwe Hellmann, Ruud Koopmans: Paradigmen der Bewegungsforschung: Entstehung und Entwicklung von Neuen sozialen Bewegungen und Rechtsextremismus. Springer-Verlag 2013, S. 179
  18. Michael Pechel: Das Geschichtsverständnis der Wochenzeitung „Junge Freiheit“. In: Stephan Braun, Ute Vogt (Hrsg.): Die Wochenzeitung „Junge Freiheit“. Kritische Analysen zu Programmatik, Inhalten, Autoren und Kunden. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-531-15421-3, S. 95–115, doi:10.1007/978-3-531-90559-4_5 (S. 107 in der Google-Buchsuche).
  19. Martin Langebach: 8. Mai 1945. In: Martin Langebach, Michael Sturm (Hrsg.): Erinnerungsorte der extremen Rechten. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-658-00130-8, S. 213–243, doi:10.1007/978-3-658-00131-5_11 (S. 220 in der Google-Buchsuche).
  20. Michael Pechel: Das Geschichtsverständnis der Wochenzeitung „Junge Freiheit“. In: Stephan Braun, Ute Vogt (Hrsg.): Die Wochenzeitung „Junge Freiheit“. Kritische Analysen zu Programmatik, Inhalten, Autoren und Kunden. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-531-15421-3, S. 95–115, doi:10.1007/978-3-531-90559-4_5 (springer.com).
  21. Patrick Keßler: Die „Neue Rechte“ in der Grauzone zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus? Protagonisten, Programmatik und Positionierungsbewegungen. LIT Verlag, Münster 2018, ISBN 978-3-643-13844-6 (S. 116 in der Google-Buchsuche).
  22. Wolfgang Gessenharter: Die Neue intellektuelle Rechte und ihre Unterstützung durch Politik und Medien. In: Stephan Braun, Daniel Hoersch (Hrsg.): Rechte Netzwerke — eine Gefahr. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, ISBN 978-3-8100-4153-1, S. 17–25, doi:10.1007/978-3-322-81009-0 (S. 21 in der Google-Buchsuche).
  23. Martin Langebach: 8. Mai 1945. In: Martin Langebach, Michael Sturm (Hrsg.): Erinnerungsorte der extremen Rechten. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-658-00130-8, S. 213–243, doi:10.1007/978-3-658-00131-5_11 (springer.com).
  24. @1@2Vorlage:Toter Link/zeitgeschichtedigital.de (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven)
  25. Thomas Pfeiffer: Medien einer neuen sozialen Bewegung von rechts. Ruhr-Universität, Bochum 2003, urn:nbn:de:hbz:294-2527 (gwdg.de [PDF; 2,6 MB; abgerufen am 21. August 2019] Dissertation).