Aufstandsbekämpfung

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Ein Wall des Strategic-Hamlet-Programmes im Vietnamkrieg, das auf den Theorien von Sir Robert Thompson basierte

Unter Aufstandsbekämpfung (oder auch englisch CounterinsurgencyCOIN) versteht man verschiedene Taktiken und Strategien zur Bekämpfung von bewaffneten Aufständen.

Die Bekämpfung von Aufständischen durch reguläres Militär bildet einen eigenen Zweig in der Militärtheorie. Die Aufstandsbekämpfung gehört dabei zum umfangreicheren Gebiet der asymmetrischen Kriegführung. Viele Armeen haben Spezialeinheiten, die auf diese Art des Kampfes spezialisiert sind. Weil sich die Maßnahmen in der Regel auf die Abwehr einer Gefahr aus Teilen der eigenen Bevölkerung oder der eines besetzten Territoriums richten, vermischen sich häufig die Aufgaben von Polizei, Inlandsgeheimdiensten und Militär. Manche Konzepte der Aufstandsbekämpfung setzen auf menschenrechtsverletzende Methoden, etwa die französische Doktrin. Teilweise mündeten derartige Maßnahmen auch in so genannten Schmutzigen Kriegen gegen jegliche Arten von Widerständlern oder rein politische Gegner der jeweiligen Regierung.

Geschichte der Aufstandsbekämpfungs-Theorie

Charles William Gwynn und Imperial Policing

Charles William Gwynn veröffentlichte 1934 sein Werk Imperial Policing, das offiziellen Charakter besaß, in dem er diverse Aufstände gegen die britische Kolonialherrschaft ab 1919 untersucht.

  1. Der Vorrang von zivilen vor militärischen Maßnahmen.
  2. Der Gebrauch minimaler Gewaltanwendung.
  3. Die Notwendigkeit von entschlossenem und zeitlich koordiniertem Handeln, um nicht die Kontrolle über die politische Lage zu verlieren.
  4. Die Notwendigkeit der Koordination von politischen und militärischen Maßnahmen.

Das Konzept, Personal sparend Luftstreitkräfte gegen primitiv bewaffnete Aufständische einzusetzen, war auch ein Ergebnis des Ersten Weltkriegs, in dem Großbritannien mit gut 870.000 Toten mehr Verluste erlitten hatte als in jedem Krieg zuvor oder danach. Aufstände in den Kolonien sollten möglichst schnell und effektiv niedergeschlagen werden, da Gwynn erkannte, dass die (Unabhängigkeits-)Propaganda von Aufständischen in der Regel wirksamer war als die eigene.

Basil Liddell Hart

Ein weiterer Pionier in der Strategie der Aufstandsbekämpfung war Basil Liddell Hart, der in der Zweiten Auflage seines Buches Strategy: The Indirect Approach (1954?) einer populären Aufstandsbewegung einen strategischen Vorteil gegenüber ausländischen Invasoren einräumt.

Französische Doktrin

Einer der ersten Strategen der Aufstandsbekämpfung war David Galula, der in den 1960er Jahren in verschiedenen Arbeiten seine Erfahrungen im Algerienkrieg verarbeitete. Auch für Roger Trinquier war der Algerienkrieg eine wesentliche Erfahrungsquelle für sein Buch La guerre moderne, das die „Französische Doktrin“ maßgeblich beeinflusst hat.

Robert Grainger Ker Thompson

Ebenfalls wichtig für die Theorie der Aufstandsbekämpfung war Robert Grainger Ker Thompson. Er war Berater der südvietnamesischen und amerikanischen Regierung im Vietnamkrieg und veröffentlichte 1966 das Buch Defeating Communist Insurgency.

FM 3-24 Counterinsurgency

US-Marines auf Patrouille (Februar 2010)

2006 gaben die amerikanischen Generäle David H. Petraeus und James F. Amos ein Handbuch zur Aufstandsbekämpfung mit dem Titel FM 3-24 Counterinsurgency heraus, das ab Anfang 2007 bei der Besetzung des Iraks erfolgreich angewendet wurde. Nichtsdestoweniger kann der US Counterinsurgency im Irak kein Erfolg attestiert werden, da in der Folge des amerikanischen Truppenabzuges ein Aufstand begann, der mit dem Erstarken des sogenannten Islamischen Staats seinen Höhepunkt erreichte.[1][2]

Praxis

Aufstandsbekämpfung ist und war ein zentrales Element in folgenden Kriegen und Konflikten (nicht vollständig):

Kontroversen

Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass in politisch instabilen Ländern, Militärdiktaturen oder autoritär geführten Staaten die Existenz einer relativ kleinen radikalen oder bewaffneten Widerstandsgruppe den jeweils Machthabenden als Vorwand dient, gegen alle, auch die friedlichen Oppositionellen mit den Mitteln der Aufstandsbekämpfung vorzugehen. Hierbei können unterschiedliche Techniken der asymmetrischen Kriegsführung zum Einsatz kommen. Eines der bekanntesten Beispiele für solch einen missbräuchlichen Einsatz einer Counterinsurgency-Strategie ist die Zeit der argentinischen Militärdiktatur, während der etwa 30.000 Menschen spurlos verschwanden, überwiegend linke und liberale Oppositionelle. Als Bezeichnung für eine derartige Vorgehensweise hat sich der Begriff Schmutziger Krieg etabliert.

Es gibt auch Beispiele, bei denen oligarche oder plutokratische Machteliten die von ihnen kontrollierten staatlichen Organe missbrauchten, um durch verdeckte Operationen unter falscher Flagge selbst eine Insurrektion zu initiieren oder zu unterstützen, um darüber einen Vorwand für ein gewaltsames Eingreifen gegen beliebige politische Gegner zu erhalten.

Siehe auch

Literatur

  • John Arquilla: Insurgents, raiders, and bandits. How masters of irregular warfare have shaped our world, Ivan R. Dee, Chicago 2011, ISBN 978-1-56663-832-6.
  • Ian W. Beckett/John Pimlott (Hrsg.): Counterinsurgency. Lessons from History, Barnsley/South Yorkshire 2011 (Reprint der Erstausgabe von 1985 mit einem neuen Vorwort), ISBN 978-1-84884-396-7.
  • Andrew James Birtle: U.S. Army counterinsurgency and contingency operations doctrine, 1942–1976, Washington, DC (Center of Military History, United States Army) 2006, ISBN 978-0-16-072960-7.
  • Andrew James Birtle: U.S. Army counterinsurgency and contingency operations doctrine, 1860–1941, Washington, DC (Center of Military History, United States Army) 1998.
  • Jeremy Black: Insurgency and counterinsurgency. A global history. Rowman & Littlefield, Lanham, MD u. a. 2016, ISBN 978-1-4422-5631-6, ISBN 978-1-4422-5632-3, ISBN 978-1-4422-5633-0
  • Marcel Bohnert: COIN an der Basis: Zur Umsetzung des Konzeptes in einer Kampfkompanie der Task Force Kunduz. In: Robin Schroeder & Stefan Hansen (Hrsg.): Stabilisierungseinsätze als gesamtstaatliche Aufgabe. Nomos, Baden-Baden 2015, ISBN 978-3-8329-3351-7.
  • Richard Duncan Downie: Learning from Conflict: The U.S. Military in Vietnam, El Salvador, and the Drug War. Praeger, Westport, CT 1998, ISBN 0-275-96010-2.
  • Edward J Erickson: A Global History of Relocation in Counterinsurgency Warfare. Bloomsbury Academic, London 2019, ISBN 978-1-350-06258-0.
  • David Fitzgerald: Learning to Forget: US Army Counterinsurgency Doctrine and Practice from Vietnam to Iraq. Stanford University Press, Palo Alto 2013, ISBN 978-0-8047-8581-5.
  • Michael D. Gambone: Small wars. Low-intensity threats and the American response since Vietnam. University of Tennessee Press, Knoxville, TN 2012, ISBN 978-1-57233-914-9.
  • Stefan Goertz: Die Streitkräfte demokratischer Staaten in den kleinen Kriegen des 21. Jahrhunderts. Analyse der doktrinären und organisationsstrukturellen Eignung der U.S.-Streitkräfte für die Counterinsurgency-Aufgaben kleiner Kriege. wvb Wiss. Verlag, Berlin 2012 (Zugleich Dissertation der Universität der Bundeswehr München 2011), ISBN 978-3-86573-660-4.
  • Todd Greentree: Crossroads of intervention. Insurgency and counterinsurgency lessons from Central America. Naval Institute Press, Annapolis, MD 2008, ISBN 978-1-59114-343-7.
  • Beatrice Heuser (Hrsg.): Small wars and insurgencies in theory and practice, 1500–1850. London/New York 2016, ISBN 978-1-138-94167-0.
  • Beatrice Heuser: Rebellen, Partisanen, Guerilleros. Asymmetrische Kriege von der Antike bis heute. Schöningh, Paderborn u. a. 2013, ISBN 978-3-506-77605-1.
  • Peter Lieb: Guerre Révolutionnaire: Die französische Theorie zur Aufstandsbekämpfung in Algerien 1954–1962, in: Tanja Bührer/Christian Stachelbeck/Dierk Walter (Hg.): Imperialkriege von 1500 bis heute. Strukturen, Akteure, Lernprozesse, Paderborn u. a. 2011, ISBN 978-3-506-77337-1, S. 383–400.
  • Austin Long: The soul of armies. Counterinsurgency doctrine and military culture in the US and UK. Cornell University Press, Ithaca 2016, ISBN 978-0-8014-5379-3. ISBN 978-1-5017-0319-5.
  • Michael McClintock: Instruments of statecraft. U.S. guerrilla warfare, counterinsurgency, and counter-terrorism, 1940–1990, New York (Pantheon Books) 1992, ISBN 0-394-55945-2.
  • William J. Pomeroy: Guerrilla and counter-guerrilla warfare. Liberation and suppression in the present period. Internat. Publ., New York, NY 1964.

Einzelnachweise

  1. FM 3-24 Counterinsurgency. (PDF; 13,2 MB) Dezember 2010, abgerufen am 25. Oktober 2010.
  2. Sabine Siebold, rtr: Vor dem Abzug kommt der Kampf. In: Frankfurter Rundschau. 24. Oktober 2010, abgerufen am 25. Oktober 2010.