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Glocken des Klosters Rila in Bulgarien

Die Geschichte des russisch-orthodoxen Glockenläutens hat mit der Taufe der Rus im Jahre 988 begonnen; seitdem übernimmt das Läuten von Glocken eine besondere Rolle in der Tradition der Russisch-Orthodoxen Kirche.

Theologie

Glockengeläut als essentieller Bestandteil[1] der Orthodoxen Kirche geschieht,

  • um die Gläubigen zu versammeln,
  • um dem freudenreichen Triumph der christlichen Kirche Ausdruck zu verleihen,
  • um herausragende Momente innerhalb der Gottesdienste den anwesenden und abwesenden Gläubigen anzukündigen, damit alle im Gebet vereint sind,
  • um die Christen durch ihren Klang, der gemäß dem Glauben orthodoxer Christen „mit göttlicher Gnade legiert ist und die Mächte der Grausamkeit und dämonischer Eingebung vernichtet“[2], in Frömmigkeit und Glauben zu stärken,
  • um außerordentliche Ereignisse zu verkünden, wie etwa den Tod eines Pfarreiangehörigen, die Ankunft einer bedeutenden Person, z. B. des Bischofs oder eines zivilen Herrschers, Katastrophen wie ein Brand oder eine Flut, oder den Sieg in einem Krieg (siehe 1812 Overtüre).

Die Verwendung der Glocken erfolgt nicht nur nach praktischen Gesichtspunkten, sondern wird auch als geistliches Tun erachtet. Glocken werden manchmal als „singende Ikonen“ bezeichnet, da sie den akustischen Raum einer orthodoxen Kirche genauso definieren wie die heiligen Ikonen und die Hymnologie den sichtbaren und noetischen Raum; Ikonen sind „Heilige Schrift in Bild“, Glocken „Heilige Schrift in Klang“.

Verschiedene liturgische Feiern betonen die Wichtigkeit von Glocken in der Russisch-Orthodoxen Kirche: die Segnung eines neuen Turmfundamentes oder Glockenturmes, sowie Segnung, Namensgebung und Myronsalbung einer Glocke. Außerdem gibt es die Segnung des Glöckners.

Glocke mit Relief des Mandylions (Christusbild von Edessa)

Der Ritus der Glockenweihe enthält viele Bestandteile des Taufritus. Die neugegossene Glocke wird innen wie außen mit Weihwasser gesegnet und inzensiert; der Priester legt zur Segnung die Hände auf die Glocke. Während des Ritus wird der Glocke ein Name verliehen (d. h. sie wird zu Ehren eines Heiligen geweiht, dessen Ikone meist an einer Stelle des Glockenkörpers von der Glockengießerei als Relief gestaltet wurde).

Die Glocke wird außerdem mit Myron gesalbt wie auch ein orthodoxer Christ bei seiner Chrismation (Firmung). Das theologische Verständnis von Glocken als „Waffen“ im geistlichen Krieg, und ihre Bedeutung im Leben eines Christen wird im Verlauf des Ritus durch das Verlesen der Perikope Num 10,1–10 ausgedrückt:

„Und der HERR redete zu Mose und sprach: Mache dir zwei Trompeten aus Silber! […] Und sie sollen dir zur Berufung der Gemeinde und zum Aufbruch der Lager dienen. […]. Und ihr blast das Lärmsignal […]. Und wenn ihr in eurem Land in den Kampf zieht […]. Und an euren Freudentagen und an euren Festen […].“ (Num 10,1–10 ELB)

Der Gebrauch der Glocke wird als zeichenhafte Verkündigung des Evangeliums verstanden. Manchmal verwenden orthodoxe Kirchen und Klöster Glocken und Símandron (griech. σημαντρον) nebeneinander, wobei zuerst das Símandron erklingt und später dann die Glocken geläutet werden. Der zurückhaltende, schlichte Klang des Símandrons wird als Symbol der alttestamentlichen Propheten aufgefasst; sie deuteten lediglich auf das kommende Ereignis hin. Das Geläute der Glocken dagegen, das weit in die Atmosphäre ausstrahlt, versinnbildlicht die Verkündigung des Evangeliums überall in der Welt.

Geschichte

Moskau, Kreml: Zarenglocke (1883)

Nach der Bekehrung der Kiewer Rus zum Christentum im 10. Jahrhundert kamen überall nach und nach Glocken zum Einsatz. Ursprünglich wurde ein flaches Stück Holz oder Metall (in der Regel aus Eisen), das Símandron, rhythmisch mit einem Schlägel geschlagen, um die Gläubigen zum Gottesdienst zu rufen. Dies galt insbesondere für Klöster, in denen zum Teil noch heute Símandren und Glocken verwendet werden.

Während das Símandron griechisches Erbe ist, wurde die Verwendung von Kirchenglocken von Westeuropa nach Russland importiert.[1] Das russische Wort колокол (kolokol) lässt sich vom deutschen Wort Glocke (lat. clocca) herleiten, welches wiederum vermutlich vom irischen clog stammt.[3] Im Kirchenslawischen heißt Glocke кампан (kampan) – von Lateinisch campana. Im Verlauf des 15. Jahrhunderts wurde das Símandron allmählich durch die Glocken verdrängt; in dieser Zeit entstanden in Russland zahlreiche Glockengießereien.[2] Russische Kirchenglocken werden üblicherweise aus einer Legierung von Kupfer und Zinn gegossen, wobei der Bronze oftmals Silber beigemengt wird, um den Glocken ihre charakteristische Klangfülle und Vibratrion zu verleihen. Russische Glocken unterscheiden sich von westlichen Glocken in der Regel durch das Verhältnis von Höhe zu unterem Durchmesser und in der Art und Weise, wie die Wandstärke (Rippe) der Glocken variiert wird. Auch der Klöppel („Zunge“ gennant) folgt einem abweichenden Gestaltungsprinzip.

Die Kunst des Glockengießens erreichte im 18. Jahrhundert mit der Herstellung gigantischer Glocken ihren Höhepunkt: Die größte Glocke der Welt, wenn auch abgestellt und nicht in Funktion, ist die 218 Tonnen schwere Zarenglocke (russ. Царь–колокол; Zar-kolokol), die in den Jahren 1733–35 für den Glockenturm Iwan der Große zu Moskau angefertigt wurde. Bereits 1737, noch vor der Montage der Glocke, verursachten ein Brand und das folgende Löschwasser, dass ein über zehn Tonnen schweres Stück aus der Glocke herausplatzte. Ab 1819 nahm die ebenfalls dort befindliche 65½ Tonnen schwere Mariä-Entschlafens-Glocke (russ. Успенский колокол; Uspenskij kolokol) den Rang der weltweit größten klingenden Kirchenglocke ein. An deren Position trat 2003 die rund 72 Tonnen schwere, ebenfalls Zarenglocke genannte Glocke für den Campanile des Dreifaltigkeitsklosters von Sergijew Possad.[4]

Nach der bolschewistischen Revolution, in der Sowjetunion, war das Christentum schweren Verfolgungen ausgesetzt. Zahlreiche Glocken wurden vernichtet; die Produktion von Kirchenglocken kam zu bestimmten Zeiten beinahe vollständig zum Erliegen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs konnte die Herstellung von Glocken wieder aufgenommen werden: Der Wiederaufbau zerstörter Kirchen brachte den Guss vieler neuer Glocken mit sich.

Läutetechnik

Technisch gesehen werden Glocken in der russischen Tradition ausschließlich durch Anschlagen mit dem Klöppel zum Klingen gebracht (d. h. die Glocke selbst wird nicht bewegt). Hierfür kommt ein komplexes System von Seilzügen zum Einsatz, das für jeden Glockenturm individuell angefertigt wird. Alle Seile laufen an dem Punkt zusammen, an dem der Glöckner (russ. звонарь; swonar) steht. Hier werden die Klöppelseile der mittleren und großen Glocken der Glockengarnitur mit der gegenüberliegenden Verankerung in der Turmwand auf Spannung gehalten. Wird das Seil heruntergedrückt, auch ein Touchieren mit der Faust oder Handfläche ist möglich, schlägt der Klöppel gegen die Glocke. Die größten Glocken werden meist mittels Pedal bedient, die Seile der kleinsten Glocken direkt von Hand gezogen.

Die Geheimnisse dieser Technik wurden zwar von Generation zu Generation übertragen, doch war im 20. Jahrhundert diese Kunst beinahe verloren gegangen. Die Schulung im Glockenläuten erfolgte zunächst nur in Workshops; im Jahre 2008 wurde dann die erste traditionelle Glöcknerschule in Moskau unter der Leitung von Ilja Drosdichin geöffnet.[5]

Melodien wie bei einem westlichen Carillon kommen nicht zum Einsatz, sondern vielmehr komplexe polyrhythmische Sequenzen. „Das Fundament orthodoxen Glockenläutens liegt nicht in der Melodie begründet, sondern in der spezifischen Dynamik des Rhythmus und im Zusammenspiel der Klangfarben unterschiedlicher Glocken.“[2] Solche Sequenzen weisen ein außergewöhnliche Harmonie auf, da russische Glocken (anders als westeuropäische) nicht auf Ton gestimmt werden. Westliche Glocken weisen gewöhnlich zwischen Schlagton und Unterton das Intervall einer Oktave auf; bei russischen Glocken ist es meist eine Septime. In der Regel soll eine gute russische Glocke eine möglichst vielschichtige Bandbreite an Tönen erzeugen. Dieser Effekt wird durch die Zusammensetzung der Legierung und die Gestalt der Glockenform erreicht.

Läutearten

Das russisch-orthodoxe Typikon verordnet verschiedene Arten von Geläuten. Je nach Tagesrang erfolgt ein unterschiedliches Läuten (an Werktagen, an Sonntagen, an Festtagen, an Fastentagen und während der Großen Fastenzeit, Ostern etc.). Auch nach Art der Liturgie wird differentiert (Orthros, Begräbnisfeier, Göttliche Liturgie etc.). Dies alles wird durch das Läuten verschiedener Glocken in bestimmter Weise erreicht.

Terminologie

Um die Art des russisch-orthodoxen Glockenläutens zu verstehen, ist es nötig, ein paar Begrifflichkeiten zu klären. Die Glocken eines Glockenturmes (russ. swoniza) sind in drei Gruppen gegliedert:

  • Saswonny — kleinste oder Sopranglocken,
  • Podswonny — mittlere oder Altglocken,
  • Blagowestnik — größte oder Bassglocken.

Innerhalb dieser drei Gruppen kann es mehrere Glocken unterschiedlicher Größe geben; je größer die Glocke, desto tiefer die Stimme.

Ein swon ist ein Geläut mit einer, mehreren oder allen Glocken.

Ein swonar ist ein Glöckner. In der Orthodoxen Kirche gehört er zum Stand des Klerikers (tonsuriert); es gib einen eigenen Gottesdienst zur „Aussendung des Glöckners“. Der Gebrauch elektronischer Glockenimitation ist in der Orthodoxen Kirche verboten, da es sich um einen geheiligten Dienst handelt, der nur von einem Kirchenmitglied ausgeführt werden kann. Bevor der Glöckner in den Glockenturm steigt, erhält er den Segen des Priesters (oder im Kloster: Hegumen) zum Läuten der Glocken.

Einzelnachweise

  1. a b Erzpriester Seraphim Slobodskoy: Bells and Russian Orthodox Peals. The Law of God. Holy Trinity Monastery, 1996, ISBN 0-88465-044-8, S. 623–635.
  2. a b c Typikon for Church Bell Ringing (PDF). Blagovest Bells, San Anselmo, Cal., 2003, abgerufen am 17. September 2019 (englisch).
  3. Herbert Thurston: Art. Bells. In: The Catholic Encyclopedia. Band 2. Robert Appleton Company, New York 1907.
  4. Лавра. Благовест в Царя. Abgerufen am 19. September 2019.
  5. Glöcknerschule in Moskau eröffnet. In: Tvkultura.ru. 15. Oktober 2008, abgerufen am 19. September 2019 (russisch).

Literatur

  • Juri Puchnatschow: Das russische Glockengeläute und seine Musik, in: Beratungsausschuß für das Deutsche Glockenwesen (Hrsg.): Glocken in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, Karlsruhe 1997, S. 130–142.
  • Margarete Schilling: Glocken und Glockenspiele, Rudolstadt 1982, S. 79–83.
  • Higoumène André (Wade): Les cloches dans la tradition de l'Eglise Orthodoxe en Russie, in: Bundesamt für Kultur BAK Sektion Heimatschutz und Denkmalpflege (Hrsg.): Glocken – Lebendige Klangzeugen. Des témoins vivants et sonnants, Bern 2008, S. 71–75. (französisch, mit deutscher Zusammenfassung)

Weblinks