Untersuchungshaft (Deutschland)
Die Untersuchungshaft – häufig kurz U-Haft genannt – ist nach deutschem Strafprozessrecht eine verfahrenssichernde Ermittlungsmaßnahme im Rahmen der Ermittlung einer Straftat. Die Untersuchungshaft darf nur durch einen Richter durch Haftbefehl und ein Ersuchen um Aufnahme zum Vollzug der Untersuchungshaft angeordnet werden. Ihr geht in aller Regel eine Festnahme durch die Polizei oder die Staatsanwaltschaft voraus. Der Beschuldigte muss einem Haftrichter vorgeführt werden.
Die Anordnung der Untersuchungshaft ist in den §§ 112 ff. Strafprozessordnung (StPO) geregelt. Die Zeit in der Untersuchungshaft wird in der Regel auf eine eventuell später verhängte Freiheitsstrafe angerechnet.
Für die Zeit in der Untersuchungshaft gelten für den Beschuldigten trotz der Unschuldsvermutung verschärfte Bedingungen. Die Untersuchungshaft darf in der Regel höchstens sechs Monate dauern.
Zweck der Maßnahme
Die Untersuchungshaft dient grundsätzlich nur der Sicherung des Strafverfahrens. Es soll einer möglichen negativen Beeinflussung des Verfahrens durch den Beschuldigten begegnet werden. Das Gesetz nennt potentielle Gefahren in § 112 Abs. 2 StPO in Form von drei Haftgründen:
- Flucht oder Verborgenhalten,
- Fluchtgefahr und
- Verdunkelungsgefahr.
Darüber hinaus bestimmt § 112a StPO die Wiederholungsgefahr als vierten Haftgrund. Dieser Haftgrund ist präventiv-polizeilicher Natur und stellt daher bei strenger Betrachtung einen Fremdkörper in der repressiv-rechtlichen StPO dar.
Voraussetzungen
Gegenüber dem Beschuldigten muss zunächst dringender Tatverdacht vorliegen (§ 112 Abs. 1 S. 1 StPO). Dringender Tatverdacht liegt vor, wenn aufgrund des gegenwärtig ermittelten Sachverhalts aufgrund bestimmter Tatsachen eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Beschuldigte als Täter oder Teilnehmer einer Straftat verurteilt wird.[1]
Zweite Voraussetzung ist ein Haftgrund, der bei einer Vorführung durch den Richter (Ermittlungsrichter) anhand „bestimmter Tatsachen“ (§ 112 Abs. 2 StPO) geprüft wird. Häufigster angenommener Haftgrund ist dabei die Fluchtgefahr. Es ist nicht notwendig, dass der Beschuldigte sich bereits versteckt hält oder flüchtig ist. Auch wenn die mögliche Strafe bereits einen Anreiz für die Flucht gibt und keine familiären oder persönlichen Bindungen existieren, kann von einer Fluchtgefahr gesprochen werden. Das Nichtvorhandensein eines festen Wohnsitzes als Fluchtgrund anzugeben ist unstatthaft, da es sich um eine formelhafte Wendung handelt. Die Haftgründe sind stattdessen ausführlich darzulegen. Gleichwohl kommt es in der Praxis zu teilweise gravierenden Benachteiligungen von Personen ohne festen Wohnsitz, insbesondere bei Jugendlichen.
Ein anderer Haftgrund ist die Verdunkelungsgefahr. Der Beschuldigte soll davon abgehalten werden, Beweismittel zu vernichten oder zu verändern, aber auch Zeugen zu beeinflussen. Sind Beweise bereits ausreichend gesichert und die Zeugen richterlich vernommen, besteht keine Verdunkelungsgefahr. Die Verdunkelungshandlung muss sich auf die Tat/en beziehen, die im Haftbefehl aufgeführt ist/sind.
Im Bereich der Schwerkriminalität (u. a. Bildung terroristischer Vereinigungen, Mord, Totschlag) gelten geringere Anforderungen bezüglich der Darlegung eines Haftgrundes. Nach der Formulierung des § 112 Abs. 3 StPO ist ausdrücklich kein Haftgrund erforderlich. Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verstößt diese Regelung aber gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz;[2] bei verfassungskonformer Auslegung bedeutet die Erleichterung daher lediglich, dass der Richter bei der Prüfung des Haftgrundes bereits einen begründeten Verdacht als ausreichend erachten darf.
Die Wiederholungsgefahr als vierte Alternative dient nicht mehr der Sicherstellung des Verfahrens. Sie stellt eigentlich eine präventive Maßnahme dar, insbesondere bei Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und bei Serienstraftaten mittlerer und schwerer Kriminalität. Die Wiederholungsgefahr als Haftgrund ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verfassungsrechtlich unbedenklich.[3] Dieser Haftgrund gilt allerdings nur subsidiär, nämlich dann, wenn der Beschuldigte sich in Freiheit befindet, weil entweder kein Haftgrund nach § 112 Abs. 2 StPO vorliegt oder aber der Haftbefehl nach § 116 StPO außer Vollzug gesetzt worden ist und der Beschuldigte somit die Möglichkeit hat, die Straftat fortzusetzen.
Abschließend muss die Untersuchungshaft auch verhältnismäßig sein. Die Untersuchungshaft darf also beispielsweise nicht die Dauer der zu erwartenden Strafe übersteigen (§ 112 Abs. 1 Satz 2 StPO). Bei Bagatelldelikten ist die Untersuchungshaft nur eingeschränkt zulässig (§ 113 StPO). Wenn durch andere Maßnahmen (zum Beispiel regelmäßige Meldepflicht bei der Polizei; Sicherheitsleistung, also „Kaution“) der Zweck der Untersuchungshaft ebenfalls erreicht wird, ist die Untersuchungshaft nach § 116 StPO entbehrlich, beziehungsweise es wird zwar die Untersuchungshaft angeordnet, dies jedoch gegen entsprechende Auflagen außer Vollzug gesetzt.
Eine besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen. Es sind der Freiheitsanspruch des Beschuldigten und der staatliche Strafverfolgungsanspruch gegeneinander abzuwägen.[4] Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nehmen mit der Dauer der Untersuchungshaft die Anforderungen an die staatlichen Organe zu, die Arbeit in einer Haftsache (besonders) zügig vorzunehmen.[4] Zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft reicht dabei nicht ein Verweis auf die Schwere der Tat und die Höhe der Strafe, die wegen der Tat zu erwarten ist, wenn es zu erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen gekommen ist.[4]
Vollzug
Der Vollzug der Untersuchungshaft erfolgte früher in den Justizvollzugsanstalten nach den Vorschriften der Untersuchungshaftvollzugsordnung (UVollzO), einer bloßen Verwaltungsvorschrift. Eine gesetzliche Grundlage für den Vollzug der Untersuchungshaft war nur sehr unzureichend in § 119 StPO und § 177 StVollzG vorhanden. Dennoch konnte sich der Bundesgesetzgeber nicht zu einer bundesrechtlichen Regelung entschließen. Nach der Föderalismusreform des Jahres 2006 blieb der Bund für die Gesetzgebung in Verfahrensfragen (Anordnung der UHaft, Rechtsschutz, Überhaft etc.) zuständig, während die einzelnen Bundesländer für den Vollzug, d. h. die Haftbedingungen, verantwortlich sind. Bis zum um 1. Januar 2012 sind in allen Bundesländern eigene Untersuchungshaftvollzugsgesetze in Kraft getreten. Obwohl auch für den in Untersuchungshaft genommenen Beschuldigten die Unschuldsvermutung gilt, und durch die Haft nur soweit in die Freiheitsrechte des Inhaftierten eingegriffen werden darf, wie dies zur Erreichung des Zwecks der Untersuchungshaft erforderlich ist, bestehen für den Beschuldigten in der Regel schärfere Haftbedingungen als im Regelvollzug. Im Gegensatz zu Strafgefangenen gibt es für Untersuchungsgefangene keine Arbeitspflicht während des Vollzugs.
Zusammentreffen von U-Haft und anderen freiheitsentziehenden Maßnahmen
Befindet sich jemand in Untersuchungshaft und ist gleichzeitig Strafhaft aus einem anderen Verfahren zu vollstrecken, so musste bisher die Unterbrechung der Untersuchungshaft zur Verbüßung der Strafhaft erwirkt werden. In § 116b Satz 1 StPO n.F. ist nunmehr geregelt, dass die Vollstreckung der Untersuchungshaft künftig nur der Vollstreckung der Auslieferungshaft, der vorläufigen Auslieferungshaft, der Abschiebungshaft und der Zurückweisungshaft vorgeht. Alle anderen freiheitsentziehenden Maßnahmen (z. B. Strafhaft, Ersatzfreiheitsstrafe) gehen der Vollstreckung der Untersuchungshaft vor (§ 116b Satz 2 StPO n.F.). Eine andere Vollstreckungsreihenfolge kann jedoch angeordnet werden, wenn der Zweck der Untersuchungshaft dies erfordert (§ 116b Satz 2 StPO n.F.). Da § 126a Abs. 2 Satz 1 StPO n.F. nicht auf den § 116b StPO n.F. verweist, gilt diese Vollzugsregelung nicht bei einstweiliger Unterbringung.
Obergrenze der Untersuchungshaft
Solange kein Urteil ergangen ist, das auf eine Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel lautet, soll in Deutschland der Vollzug der Untersuchungshaft in der Regel sechs Monate nicht überschreiten. Das Oberlandesgericht kann jedoch diese Frist verlängern, „wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen“ (§ 121 StPO), bei Wiederholungsgefahr als Haftgrund beträgt die neue Höchstdauer ein Jahr (§ 122a StPO). Die Verlängerung über sechs Monate hinaus ist in der Praxis nicht selten der Fall. Trotz der von Amts wegen durchgeführten Kontrolle durch das jeweils zuständige Oberlandesgericht gab es auch in Deutschland Einzelfälle überlanger Untersuchungshaft, die gelegentlich vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention gerügt wurden. Bei einer längeren Untersuchungshaft reicht nach dem EGMR eine zu erwartende hohe Strafe allein nicht aus; vielmehr muss das Verfahren durch den Staat auch besonders gefördert worden sein.[5] Nach dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) reicht eine Überlastung des Gerichts als Grund nicht aus: Der Staat müsse die Gerichte mit ausreichend Personal ausstatten.[6]
Als Negativbeispiel befand sich etwa Fritz Teufel fünf Jahre in Untersuchungshaft, der NPD-Politiker Ralf Wohlleben befand sich bis Juli 2018 insgesamt sechs Jahre und acht Monate in Untersuchungshaft.
Im Juli 2004 brachte Rheinland-Pfalz im Bundesrat eine Gesetzesvorlage zur Verlängerung der Höchstdauer der Untersuchungshaft ein; diese wurde jedoch am 17. Februar 2005 vom Bundestag abgelehnt. Auslöser für die Gesetzesvorlage war ein im November 2002 begangener Mord. Der Mörder war bereits im März 2002 von der später Ermordeten wegen Vergewaltigung angezeigt und verhaftet, aber nach sechs Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen worden, weil bis dahin noch immer nicht mit seinem Prozess begonnen worden war. Kritiker warfen der damaligen Landesregierung vor, dass daher besser die Bearbeitung von Verfahren beschleunigt werden sollte, anstatt auf Druck der Presse eine Verlängerung der Untersuchungshaft einzufordern.[7]
Sonderform Sitzungshaftbefehl (sog. Terminversäumer-Haft)
Eine gesonderte Form der Untersuchungshaft ist in § 230 Abs. 2 StPO geregelt: Wenn ein Angeklagter trotz einer ordnungsgemäßen Ladung zu einer Hauptverhandlung nicht erscheint und sein Ausbleiben nicht ausreichend entschuldigt, ist die Vorführung (Festnahme am Tag der neuen Verhandlung, § 230 Abs. 1 StPO) anzuordnen oder ein Haftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 StPO zu erlassen. Zwischen diesen beiden Mitteln besteht ein Stufenverhältnis, daher ist aus Gründen der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich zunächst die Vorführung anzuordnen.[8]
Auch diese Form der Untersuchungshaft dient einzig der Sicherung der zeitnahen Fortführung des Strafverfahrens. Daher darf in der Regel die Dauer der Inhaftierung eine Woche „jedenfalls nicht deutlich“ überschreiten.[9] Weiterer Haftgründe als das unentschuldigte Ausbleiben bedarf es nicht, allerdings ist auch hier die Verhältnismäßigkeit (eingeschränkt) zu beachten. Mit dem Ende der Hauptverhandlung erledigt sich der Haftbefehl gemäß § 230 StPO. Einer gesonderten ausdrücklichen Aufhebung bedarf es daher am Ende der Hauptverhandlung nicht.
Außervollzugsetzung
Die Vollstreckung eines Untersuchungshaftbefehls kann – ohne diesen ausdrücklich aufzuheben – gegebenenfalls unter Auflagen außer Vollzug gesetzt werden. Als Auflagen kommen beispielsweise Meldepflichten, Haftkaution etc. in Betracht. Im Falle eines Verstoßes gegen die Auflagen kann der Haftbefehl jederzeit wieder in Vollzug gesetzt werden.
Literatur
- Reinhold Schlothauer, Hans-Joachim Weider: Untersuchungshaft. 4. Auflage, C.F. Müller Verlag, Heidelberg 2010, ISBN 978-3-8114-3494-3.
- Richard Reindl, Werner Nickolai, Günther Gehl (Hrsg.): Untersuchungshaft, Stiefkind der Justiz. 176 Seiten, Verlag Rita Dadder, Weimar 1995, ISBN 3-926406-88-7.
- Michael Gebauer: Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutschland, Eine empirische Untersuchung zur Praxis der Haftanordnung und des Haftverfahrens. 425 Seiten, Wilhelm Fink Verlag 1987, ISBN 3-7705-2497-7
- Joerg Sommermeyer: Recht der Untersuchungshaft (Kritischer Überblick und Tendenzen). NJ 1992, 336 ff.
- Maria Anna Kilp: Ach wie ist das Leben schön, Hammelsgasse 6–10, U-Haft in Frankfurt/M 1903–1973. Fachhochschule Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-923098-18-9.
- Peter Höflich, Wolfgang Schriever: Grundriss Vollzugsrecht. Seiten 187 bis 228: Das Recht der Untersuchungshaft, 3. Auflage, Springer Verlag, Berlin Heidelberg New York 2003, ISBN 3-540-00126-3.
- Stefan König: Untersuchungsgefangene bekommen mehr Rechte. Am 1. Januar 2010 treten neue Regeln zur Untersuchungshaft in Kraft. Anwaltsblatt 01/2010, 46.
- Manfred Seebode: Der Vollzug der Untersuchungshaft. Berlin u. a. 1985.
- Christian Wiesneth: Die Untersuchungshaft. Verlag Kohlhammer, 1. Auflage, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-17-021277-0.
- Christine Morgenstern: Die Stärkung prozessualer Garantien im Recht der Untersuchungshaft in Deutschland und Polen. Der Einfluss des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. ZIS 2011, 240 (PDF).
- Ullrich Schultheis: Übersicht über die Rechtsprechung in Untersuchungshaftsachen 2009/2010 – Teil 1. NStZ 11/2011, 621.
- Pierre Hauck: Lauschangriff in der U-Haft. NStZ 2010, 17.
- Alle Kommentare zur Strafprozessordnung (StPO)
Einzelnachweise
- ↑ Matthias Krauß in: BeckOK StPO mit RiStBV und MiStra, Graf, 37. Edition, Stand: 1. Juli 2020, § 112 Rn. 9
- ↑ BVerfGE 19, 342, 350.
- ↑ BVerfGE 35, 185.
- ↑ a b c Pressemitteilung Nr. 75/2009 vom 7. Juli 2009: Zum Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen. Bundesverfassungsgericht – Pressestelle, abgerufen am 8. Juli 2009 (Zum Beschluss des BVerfG vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 388/09).
- ↑ EGMR, Urteil vom 29. Juli 2004 - 49746/99 - CEVIZOVIC v. GERMANY, NJW 2005, 3125, beck-online.
- ↑ BVerfG, Beschluss vom 30. Juli 2014 - 2 BvR 1457/14 Rn. 23
- ↑ Sabine Rückert: Ab in den Knast in: Die Zeit. Nr. 22, 24. Mai 2006, S. 18
- ↑ KG, Beschluss vom 19. Juli 2016 - 4 Ws 104/16 - 161 AR 30/16.
- ↑ OLG Hamburg, Beschluss vom 4. Juni 2020 - 2 Ws 72/20, 7 OBL 24/20.
Weblinks
- Gesetzesguide, Gesetze und Ordnungen rund um den Vollzug
- Website des Strafvollzugsarchivs