Bidʿa

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Bidʿa (arabisch بدعة, DMG

bidʿa

) ist ein Konzept der islamischen Theologie und Jurisprudenz, das eine religiöse Neuerung kennzeichnet, die sich nicht auf den Koran und die Sunna zurückführen lässt, sondern allein auf menschlichen Überlegungen beruht. Eine Person, die solche Neuerungen verbreitet, wird auf Arabisch als Mubtadiʿ („Neuerer, Ketzer“) bezeichnet. Grundsätzlich gelten religiöse Neuerungen als unstatthaft, allerdings gibt es auch das Konzept der „guten Neuerung“. Dieses ist insbesondere in der hanafitischen Rechtsschule verbreitet. Neuerungen, die keinen religiösen Gehalt haben, gelten allgemein als unproblematisch.[1] Eine Person, die nicht religiöse Neuerungen aufbringt, sondern durch sein Wirken die islamische Religion erneuert, wird als Mudschaddid bezeichnet.

Grundlagen der Bidʿa-Ablehnung

Grundlage für die strenge Haltung gegenüber Erneuerungen ist folgender Hadith, der über Dschābir ibn ʿAbdallāh auf den Propheten zurückgeführt wird:

„Fürwahr, die wahrhafteste Mittheilung (aṣdaq al-ḥadiṯ) ist das Buch Allahs, die beste Leitung ist die Leitung Mohammeds. Die schlechtesten Dinge sind die neu hervorgebrachten (šarr al-umūr muḥdaṯātuhā), und jede Neuerung ist ein Irrtum (wa-kull bidʿa ḍalāla).[2]

In manchen Versionen des Hadith wird noch ergänzt, dass jeder Irrtum in die Hölle führt.[3] Neben den Hadithen, die man entweder auf Mohammed oder auf seine Gefährten zurückgeführt hat, entstanden bereits im späten 9. Jahrhundert Schriften, die die Bidʿa zum Thema hatten. Ein Werk des Andalusiers Abū Bakr al-Turtūschī († 1126 in Alexandria) aus Tortosa ist unter dem Titel El libro de las novedades y las innovaciones in spanischer Übersetzung erschienen.

Die gute Bidʿa

Neben der verwerflichen Neuerung gibt es auch das Konzept der guten bzw. lobenswerten oder erlaubten Neuerung (bidʿa ḥasana, bidʿa maḥmūda, bidʿa mubāḥa). Die Diskussion darüber, was als eine gute „Neuerung“ und was als eine schlechte „Neuerung“ – und somit als Ketzerei – gilt, ist alt. So wird asch-Schāfiʿī mit dem Ausspruch zitiert: „Eine Neuerung, die dem Koran, einer Sunna, einem Athar oder dem Konsensus widerspricht, ist eine ketzerische Neuerung. Wenn aber etwas Neues eingeführt wird, was an sich nicht schlecht ist und den erwähnten Autoritäten des religiösen Lebens nicht widerspricht, das ist eine lobenswerte, nicht verwerfliche Neuerung.“[4]

Nach an-Nawawī (gest. 1277) war die Aussage im Hadith, jede Neuerung sei ein Irrtum so zu verstehen, dass das für die meisten Neuerungen zutreffe. Die muslimischen Gelehrten hätten jedoch gelehrt, dass es fünf Arten von Neuerungen gebe: die obligatorische (al-wāǧiba), die empfohlene (al-mandūba), die verbotene (al-muḥarrama), die verhasste (al-makrūha) und die erlaubte (al-mubāḥa). Als Beispiel für obligatorische Neuerungen nennt an-Nawawī die Zusammenfügung der Argumente der Mutakallimūn zur Widerlegung der Ketzer und Neuerer und ähnliches, als Beispiele für empfohlene Neuerungen nennt er die Abfassung von wissenschaftlichen Büchern und den Bau von Schulen und Ribāten, als erlaubte Neuerung nennt er die eingehende Beschäftigung mit verschiedenen Sorten von Speisen.[5]

Besonders im hanafitischen Madhhab, der das Rechtsinstrument des istiḥsān (Gutdünkens) kennt, griff man in der frühen Neuzeit gerne auf das Konzept der erlaubten bzw. guten Neuerung zurück. So verteidigte zum Beispiel der Hanafit ʿAlī al-Qārī (st. 1606) die zu seiner Zeit in Mekka bestehende Organisationsform des Ritualgebetes, bei der die Angehörigen der verschiedenen sunnitischen Rechtsschulen in getrennten Gruppen nacheinander bzw. nebeneinander beteten, gegen Kritiker als „gute Neuerung“ (bidʿa ḥasana) und verwies in diesem Zusammenhang auf den Ausspruch des Prophetengefährten ʿAbdallāh ibn Masʿūd: „Was die Muslime für gut erachten, ist auch bei Gott gut“ (mā ra'ā-hu l-muslimūn ḥasanan fa-huwa ʿinda Llāhi ḥasanun).[6]

Haltung der Muslime gegenüber Bidʿa

Während Muslime seit dem Mittelalter abwägen, ob eine Erneuerung nun eine gute Bidʿa oder eine schlechte Bidʿa sei, findet man vor allem unter wahhabitisch und salafistisch geprägten Muslimen[7] eine strenge Ablehnung jeglicher Erneuerungen, im Extremfall bis hin zur Ablehnung jeglicher Erfindungen der Neuzeit, etwa Elektrizität und Computer.[8]

Literatur

  • Maribel Fierro: The treatises against innovations (kutub al-bida’). In: Der Islam, 69/2 (1992), 204–246. doi:10.1515/islm.1992.69.2.204.
  • Ignaz Goldziher: Muhammedanische Studien. Max Niemeyer, Halle, 1890. Bd. II, S. 22–27. Digitalisat
  • Vardit Rispler-Chaim: Toward a new understanding of the term bidʿa. In: Der Islam, 68/2 (1991), 320–328. doi:10.1515/islm.1991.68.2.320.
  • Idrīs ibn Baidakīn at-Turkumānī: Kitāb al-lumaʿ fī-l-ḥawādiṯ wal-bidaʿ: Eine Streitschrift gegen unstatthafte Neuerungen. Ed. Ṣubḥī Labīb. 2 Bde. Steiner, Wiesbaden, 1986.
  • Abū Bakr al-Ṭurṭūšī: Kitāb al-ḥawādiṯ wa-l-bidaʿ. El libro de las novedades y las innovaciones. Traducción y estudio: Maribel Fierro. (Fuentes Arabico-Hispanas, 14). Consejo Superior de Investigaciones Científicas, Madrid 1993, ISBN 84-00-07372-X.

Einzelnachweise

  1. Mark Sedgwick Islam & Muslims: A Guide to Diverse Experience in a Modern World Islam & Muslims: A Guide to Diverse Experience in a Modern World 2006 ISBN 978-1-473-64391-8 Kapitel: The islamic ideal
  2. Ṣaḥīḥ Muslim bi-šarḥ an-Nawawī. Al-Maṭbaʿa al-Miṣrīya bi-l-Azhar, Kairo, 1929. Bd. VI, S. 153. Digitalisat
  3. Goldziher: Muhammedanische Studien. 1890, Bd. II, S. 24.
  4. Vgl. Goldziher, S. 26 (nach al-Baihaqī: Manāqib aš-Šāfiʿī).
  5. Ṣaḥīḥ Muslim bi-šarḥ an-Nawawī. Al-Maṭbaʿa al-Miṣrīya bi-l-Azhar, Kairo, 1929. Bd. VI, S. 154f. Digitalisat
  6. Vgl. seine Abhandlung Lisān al-ihtidāʾ fī l-iqtidāʾ Ms. Berlin Ms 2124, f. 104a. Für weitere Beispiele aus dem hanafitischen Bereich, vgl. Haim Gerber: Islamic Law and Society, 1600–1800. Leiden 1999, S. 98f.
  7. Mark Sedgwick: Islam & Muslims: A Guide to Diverse Experience in a Modern World. Boston, MA 2006, ISBN 978-1-473-64391-8, Kapitel: The islamic ideal.
  8. Sayyed M. Deen: Science Under Islam: Rise, Decline and Revival. Lulu.com 2007, ISBN 978-1-847-99942-9, S. 127 (englisch).