Der Großtyrann und das Gericht
Der Großtyrann und das Gericht ist ein Roman von Werner Bergengruen, der zwischen 1929 und 1934 entstand und erstmals 1935 in Hamburg erschien. Bergengruen wollte „von den Versuchungen der Mächtigen und von der Leichtverführbarkeit der Unmächtigen“ Mitteilung machen.[1]
Zeit und Ort
Der tyrannische Machthaber hat Vertraute bei der Signoria in Venedig.[2] Also handelt der Roman zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert. Handlungsort ist der oberitalienische Stadtstaat Cassano am Monte Torvo.[3] Ein Reiter benötigt von Bologna nach Cassano einen Tag, von Venedig aus mehr als zwei Tage. Zwar gilt Cassano als fiktiv,[4] doch trotzdem könnte Cassano d’Adda gemeint sein.
Handlung
Das Werk ist über fünf Bücher eingeteilt: Nespoli, Vittoria, Diomede, Der Färber und Der Großtyrann und das Gericht, benannt jeweils nach einer der Hauptfiguren. Der Roman beginnt damit, dass in der Stadt der Mönch Fra Agostino im Garten des örtlichen Machthabers, des Großtyrannen, erdolcht aufgefunden wird.
Massimo Nespoli, „Vorsteher der Sicherheitsbehörde“ im Stadtstaat, wird an den Tatort gerufen. Der Großtyrann will von Nespoli den Täter in drei Tagen; war doch der Ermordete „Geschäftsträger“ und „gewandtester Unterhändler“ des „Gewalthabers“. Nespoli versagt. Der Großtyrann verlängert die Frist, droht aber nach neuerlichem Misserfolg mit Amtsenthebung und schließt sogar drastischere Strafen – wie die Hinrichtung – nicht aus. Nespoli will sich nach Venedig davonmachen. Der Großtyrann lässt das nicht zu, da der kinderlose Nespoli keine Geisel zurücklassen kann. Also muss der erniedrigte Nespoli einen Täter präsentieren. In der Not bezichtigt er eine kürzlich verstorbene Schwangere. Der Großtyrann weist das hirnlose Gespinst zurück, denn die Schwangere wurde zur Tatzeit weitab vom Tatort noch lebend gesehen.
Der Witwer Nespoli hat eine Geliebte, die junge Vittoria Confini. Nespoli bezieht deren betagten Gatten, den krank darnieder liegenden Pandolfo Confini, vorsichtig in den Kreis der Tatverdächtigen ein. Vittoria möchte dem Geliebten, diesem „kräftigen, vollgültigen Mann“, helfen. Nachdem Pandolfo verstorben ist, wird in seinem Sterbebett „zufällig“ das Fragment eines Briefes aufgefunden, in dem Pandolfo im Angesicht des Todes sich selbst freiwillig und ohne Not des Mordes an Fra Agostino bezichtigt. Rasch kommt der Großtyrann in den Besitz der Handschrift und will diese auf Echtheit prüfen lassen. Überdies gibt der Gewalthaber die Leiche nicht zur Beerdigung frei, denn in solchem Fall droht Einziehung des Vermögens zugunsten des Staates (d. h. des Großtyrannen), Vierteilung und Verscharren der sterblichen Überreste auf dem Schindanger.
Diomede Confini, der Sohn des Toten, Studiosus der Rechte in Bologna, eilt herbei und will den Vater unbedingt rehabilitieren. So konstruiert er ein Alibi für den toten Vater: Er habe zum Tatzeitpunkt bei dem Perlhühnchen, einem leichten Mädchen, gelegen. Der Großtyrann durchschaut die Lüge. Überdies ruft Diomede mit diesem Dreh seine Tante Mafalda auf den Plan. Mafalda, die einzige Frau, die der Großtyrann fürchtet, ist fest überzeugt, dass ihr Bruder zu Lebzeiten stets ein ehrbarer Mann war. Tatkräftig bewirkt Mafalda, dass das Perlhühnchen sein beigebrachtes falsches Alibi widerruft.
Der Großtyrann versucht sogar Don Luca, jenen Priester, der Pandolfo die letzte Beichte abgenommen hat. Don Luca lässt nicht am Beichtgeheimnis rütteln. Als der „Gewaltherr“ mit der Streckbank droht, zittern dem Priester die Knie, aber er widersteht auch jetzt. Jener Schriftsachverständige, den der Großtyrann mit der Echtheitsprüfung von Pandolfos Handschrift beauftragt hat, versucht die junge Witwe Vittoria zu erpressen. Denn wenn das Schreiben eine Fälschung sein sollte, könnte die Witwe ihr stattliches Vermögen behalten. Trotzdem: Vittoria ist nicht erpressbar.
Schließlich nimmt der Färber Sperone, ein jesusgleicher[5] Mann, den Mord an fälschlicherweise Fra Agostino auf sich. Trotzdem scheint damit der Fall für alle Anderen gelöst.
Im Schlusskapitel des Romans hält der Großtyrann Gericht. Vor den versammelten Hauptfiguren der Einzelkapitel resümiert der Großtyrann das gesamte Geschehen. Jeder wurde in Versuchung geführt und ist in Schuld gefallen. Dies betrifft alle Personen, Machthaber und Untertanen, selbst bei ganz und gar unpolitischem Verhalten. Die Schuld des Färbers sei beispielsweise, in sich „einen Heiligen zu erblicken“. Er selbst, der Großtyrann, sei es, der Fra Agostino wegen Verrats gerichtet habe. Aber seinerseits fühlt sich der Großtyrann zu Recht vom Färber Sperone verurteilt.
Der Großtyrann lässt alle Akten zu dem Fall auf der Stelle verbrennen und bittet die im Gerichtssaal Anwesenden um Vergebung. Dem Großtyrann wird vergeben. Erschüttert muss er bekennen, dass der Färber für ihn sterben wollte. Endlich wünscht der Großtyrann, alle Betroffenen sollen sich auch gegenseitig vergeben. Alles geht gut aus: Der Herr Confini wird ehrenvoll bestattet werden.
Rezeption
Der Völkische Beobachter soll das Buch anfangs als „Führerroman der Renaissance“ gelobt haben.[6] Das kann als Beweis dafür genommen werden, „wie eine verdeckte Schreibweise ihre Adressaten“ verfehlt.[7] Der Roman gilt aber trotzdem „als eines der wenigen Beispiele oppositioneller Literatur im Dritten Reich.“[8] Bereits im Erscheinungsjahr des Romans – ein Jahr nach dem sog. „Röhmputsch“ – wurde in der Figur des Großtyrannen ein Bild Hitlers vermutet. Dafür sprechen die Bauwut[9] und die Kinderlosigkeit[10] des Großtyrannen. Das ist, wie Bänziger[11] nachweist, ein Irrtum. Denn der Großtyrann zeichnet sich durch „Großmut, Stolz, Ritterlichkeit“ und „Redlichkeit“ aus. Zudem ist „die Welt in und um Cassano gut und heil, nicht krank.“
Schmollinger analysierte: „Der Großtyrann wird schuldig als Mensch in seiner Unvollkommenheit.“[12] Das Handlungskonzept der inneren Emigration angreifend, wertet er den Roman auch als Ausdruck „faschistoiden Mitläufertums“.[13]
Während der NS-Zeit wurde der Roman hingegen als regimekritisches Werk erkannt und gelesen (er behandelt in Streitgesprächen u. a. den Gegensatz von Demokratie und Diktatur). Alle Wesen hätten neben ihrem bekannten noch einen anderen ihnen oft selbst verborgenen Willen. So wolle z. B. das Pferd seine Freiheit, verlange aber auch danach, „in Herrlichkeit geritten zu werden“. Er, der Großtyrann, sei „der verborgene Wille des Volkes“. Als historisch-politischer Kriminalroman war das Buch jahrzehntelang ein großer Publikumserfolg.[14]
Stil
Die Sprache ist archaisierend.[15] Es werde „getragen, ja feierlich“ erzählt,[16] die Dialoge seinen „in aristokratischer Würde“[17] gestaltet.
Zitate
Bearbeitungen
- Dramatisierung durch Günther Fleckenstein, Uraufführung am 25. Januar 1963 in Baden-Baden
- Verfilmung unter der Regie von Günther Fleckenstein 1966
Literatur
Quelle
- Werner Bergengruen: Der Großtyrann und das Gericht. Roman. Union Verlag, Berlin 1975.
Sekundärliteratur
- Christine Bourbeck: Schöpfung und Menschenbild in deutscher Dichtung um 1940. Hausmann. Peters. Bergengruen (= Religion und Dichtung. 1, ZDB-ID 846515-0). Christlicher Zeitschriftenverlag, Berlin-Dahlem 1947, S. 122–124, (Zugleich: Leipzig, Universität, Dissertation, 1946; Manuskript im März 1945 abgeschlossen).
- Peter Baumann: Die Romane Werner Bergengruens. Wohlen 1954, (Zürich, Universität, Dissertation, 1954).
- Hans Bänziger: Werner Bergengruen. Weg und Werk. 4., veränderte Auflage. Francke, Bern u. a. 1983, ISBN 3-7720-1710-X, S. 75–80.
- Friedrich Denk: Regimekritische Literatur im Dritten Reich. Eine Problemskizze. In: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Wort und Dichtung als Zufluchtsstätte in schwerer Zeit. Gebr. Mann, Berlin 1996, ISBN 3-7861-1816-7, S. 11–33.
- Annette Schmollinger: „Intra muros et extra“. Deutsche Literatur im Exil und in der inneren Emigration. Ein exemplarischer Vergleich (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. Folge 3, Bd. 161). Winter, Heidelberg 1999, ISBN 3-8253-0954-1 (Zugleich: Heidelberg, Universität, Dissertation, 1998).
- Paul Riegel, Wolfgang van Rinsum: Drittes Reich und Exil 1933–1945 (= Deutsche Literaturgeschichte. Bd. 10 = dtv. 3350). Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2004, ISBN 3-423-03350-9, S. 116–122.
Einzelnachweise
- ↑ Bergengruen S. 7
- ↑ Bergengruen S. 13
- ↑ Bergengruen S. 23
- ↑ Riegel und van Rinsum S. 116
- ↑ Bergengruen S. 259
- ↑ Bergengruen, zitiert in:Schmollinger S. 116
- ↑ Riegel und van Rinsum S. 122
- ↑ Riegel und van Rinsum S. 119
- ↑ Bergengruen S. 66, 233
- ↑ Bergengruen S. 146
- ↑ Bänziger S. 79
- ↑ Schmollinger, S. 118.
- ↑ Zitiert bei Schmollinger, S. 116.
- ↑ Denk S. 23
- ↑ Schmollinger, S. 138.
- ↑ Bänziger S. 76
- ↑ Bänziger S. 77
- ↑ Bergengruen S. 21
- ↑ Bergengruen S. 25