Digitaler Zwilling

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Ein digitaler Zwilling (engl.

digital twin

) ist eine digitale Repräsentanz eines materiellen oder immateriellen Objekts aus der realen Welt in der digitalen Welt. Es ist unerheblich, ob das Gegenstück in der realen Welt bereits existiert oder zukünftig erst existieren wird. Digitale Zwillinge ermöglichen einen übergreifenden Datenaustausch. Sie sind mehr als reine Daten und bestehen aus Modellen des repräsentierten Objekts und können daneben Simulationen, Algorithmen und Services enthalten, die Eigenschaften oder Verhalten des repräsentierten Objekts beschreiben, beeinflussen, oder Dienste darüber anbieten.[1]

Das Digitale-Zwillings-Konzept

Anfang des 21. Jahrhunderts wurde die Idee des digitalen Zwillings durch M. Grieves und J. Vickers zu einem Konzeptmodell des digitalen Zwillings weiterentwickelt, das sich aus drei Hauptteilen zusammensetzt:

Bild des Digitalen Zwillings-Konzeptes von Grieves und Vickers[2]
  1. den physischen Produkten im „realen Raum“,
  2. den virtuellen oder digitalen Produkten im „virtuellen Raum“ und
  3. den Daten- und Informationsverbindungen die beide miteinander verbinden.[2]

In der Vergangenheit ging es „nur“ um die digitale Abbildung bzw. Repräsentanz eines realen Objektes oder Prozesses (s. o.), in dem Konzept von Grieves und Vickers geht es auch um die Kommunikation zwischen dem realen und virtuellen Objekt, deshalb sprechen sie auch vom Digitalen-Zwillings-Konzept. Die Daten, die von dem realen zum virtuellen Objekt/Prozess fließen werden auch als

digital shadow

oder digitaler Schatten bezeichnet. Die Informationen, die vom virtuellen zum realen Objekt/Prozess fließen, werden auch als

digital trigger

bzw. digitaler Impuls bezeichnet. Aus dem Vergleich und der Analyse der Abweichungen zwischen den realen und virtuellen Objekten können die realen Objekte wieder aneinander angepasst und die Prozesse entsprechend reguliert werden. Führend in diesem Digitalen Zwillings-Konzept ist das virtuelle Objekt, dem das reale Objekt folgen bzw. sich anpassen muss. Bei technischen Anlagen kann aus den auftretenden Abweichungen eine Nachjustierung einer Anlagenkomponente oder bspw. auch eine vorausschauende Instandhaltung (

predictive maintenance

) abgeleitet werden. Bei Prozessen oder sich bewegenden Objekten können die Abweichungen durch die Veränderung der Steuerungsgrößen (s. a. Stellgröße) und/oder der Eingabeparameter entsprechend wieder angeglichen werden. Damit umfasst die Definition des Digitalen Zwillings mittlerweile auch die Steuerung auf Basis von Echtzeitdaten,[3] sodass folgende Archetypen identifiziert werden können:[4]

  1. Basic Digital Twin: Digitale Repräsentation eines Objektes oder Systems mit internem Speicher und Datenverarbeitung
  2. Enriched Digital Twin: Digitaler Zwilling mit Einbindung benachbarter Datenströme (Upstream)
  3. Autonomous Control Twin: Autonomes cyber-physisches System mit Mensch-Maschine-Schnittstelle (z. B. Dashboard) zur Interaktion und Eingriffsmöglichkeit
  4. Enhanced Autonomous Control Twin: Autonomous Control Twin mit Daten-Downstream in nachgeordnete Systeme
  5. Exhaustive Twin: Autonomes, interoperables System, dass Usern volle Eingriffsmöglichkeit gewährt und sowohl eingehende Daten einbindet als auch ausgehende sendet

Anwendungsbereiche

Der digitale Zwilling kann für unterschiedliche Zwecke entwickelt und in unterschiedlichen Bereichen eingesetzt werden.

Industrielle Fertigung von technischen Produkten

Für die Industrie hat der digitale Zwilling[5] eine besondere Bedeutung.[6][7] Seine Existenz und Nutzung in den Prozessen der industriellen Wertschöpfung kann für die Unternehmen ein entscheidender Wettbewerbsvorteil sein. Dies gilt insbesondere seit Anfang der 2010er-Jahre, seit das Internet der Dinge die Herstellung von digital gesteuerten und vernetzten Produkten aller Art mit integrierten Dienstleistungen möglich macht.

In der Industrie gibt es digitale Zwillinge beispielsweise für Produkte, Produktionsanlagen, Prozesse und Dienstleistungen. Sie können auch schon vor dem realen Zwilling existieren, zum Beispiel als Designmodelle künftiger Produkte. Und sie können dazu dienen, Daten aus dem Einsatz der realen Zwillinge zu analysieren und auszuwerten. Sie haben unterschiedlichste Zwecke und Funktionen.

Ihr besonderer Wert für die Industrie ergibt sich aus der Einsparung physikalischer Prototypen und der Möglichkeit, Verhalten, Funktionalität und Qualität des realen Zwillings unter jedem relevanten Aspekt zu simulieren. Dieser Wert kann für alle Teile der Wertschöpfung über den gesamten Lebenszyklus von Produkten, Anlagen und Dienstleistungen genutzt werden.

Ein digitaler Zwilling nimmt verschiedenste Formen an. Er kann zum Beispiel aufbauen auf einem Verhaltensmodell der Systementwicklung, einem 3D-Modell oder einem Funktionsmodell, das mechanische, elektronische und andere Eigenschaften und Leistungsmerkmale des realen Zwillings im Lauf einer modellbasierten Ausgestaltung möglichst realistisch und umfassend abbildet.

Die unterschiedlichen digitalen Zwillinge können miteinander verknüpft sein und auch eine umfangreiche Kommunikation und Interaktion mit den realen Zwillingen erlauben. Man spricht auch von einem digitalen Faden (

digital thread

), der sich durch den gesamten Produktlebenszyklus zieht und noch weitere produktrelevante Informationen einschließen kann. Den größten Nutzen hat ein Unternehmen von solch einem durchgängigen digitalen Faden, der die Optimierung über verschiedene Wertschöpfungsprozesse hinweg erlaubt und die Ausschöpfung einer großen Palette von digitale Geschäftsmodellen für Produkte oder angebotene Dienstleistungen.

Die Produktionstechnik ist nur eines von vielen industriellen Einsatzfeldern. Digitale Zwillinge bilden Anlagen über den gesamten Lebenszyklus (Design, Erstellung, Betrieb und Wiederverwertung) ab. Schon während der Planung können Ingenieure Simulationsmodelle nutzen, um Abläufe zu optimieren. Ist die Anlage in Betrieb, können die gleichen Simulationsmodelle verwendet werden, um Abläufe weiter zu optimieren und um die Produktion zu wandeln.[8]

Illustration des Digitalen-Steuerungs-Zwilling

Transportwirtschaft

Im Bereich der Transportwirtschaft und des Lagerwesens entwickeln Internationale Logistikunternehmen wie die DHL oder UPS laufend neue Anwendungen für den digitalen Zwilling wie Track and Trace oder die intelligente Steuerung von Lagerhäuser oder ganze Hafenanlagen (s. Weblinks) und Software-Hersteller wie SAP oder Oracle erweitern ihre ERP-Systeme und bieten neue IT-Lösungen als

Digital Supply Chain

für das Supply Chain Management[9] an.

Produktions- und Auftragssteuerung

Das Konzept des digitalen Zwillings wird zunehmend auch in der Produktionssteuerung, der Logistik und der Beschaffung angewendet[10]. Dadurch kann dieses Konzept eng mit den Methoden und Mitteln der Steuerungstechnik und der Regelungstechnik verbunden werden.

Medizin

Die Idee des digitale Zwillings findet auch in der Medizin zunehmend Verbreitung, indem ein virtuelles Abbild eines Patienten zur Simulation von medizinischen Anwendungen erstellt wird. So kann sich der Arzt bereits vor der Behandlung mit der konkreten Situation des jeweiligen Patienten auseinandersetzen und bei chirurgischen Operationen können dadurch patientenindividuelle Einsätze (z. B. künstliche Gelenke) vorgefertigt und genau eingesetzt werden, was ein verbessertes Operationsergebnis und einen schnelleren Genesungsverlauf ermöglicht.

Stadtentwicklung

Moderne Geoinformationssysteme (GIS) versprechen, Baubestände, Versorgungsnetze, Verkehrsdaten und weitere Informationen zu digitalen Zwillingen zusammenführen.[11] Das Konzept ist eng mit Smart-City-Bestrebungen verbunden.[12] Städte wie Barcelona und Zürich versprechen sich hiervon Infrastruktur effizienter instand halten zu können und Bürgerbeteiligung enger mit evidenzbasierten Verwaltungsmaßnahmen zusammenführen zu können.[13][14] Auch wenn die Adaption des Paradigmas vielversprechende Potentiale auftut, wird das wohl nicht einlösbare Versprechen einer vollständigen digitalen Abbildbarkeit urbaner Systeme wissenschaftlich problematisiert.[15]

Siehe auch

Weblinks

  • Digitaler Steuerungs-Zwilling und Supply Chain [1]

Literatur

  • Markus Kannwischer: Interaktive Präzisionswerkzeuge für die effizientere Bearbeitung. Produktivitätsfortschritte durch Industrie 4.0, VDMA, 2015/05.
  • R. Rosen, J. Jäkel, M. Barth et al.: VDI Statusreport 2020: Simulation und digitaler Zwilling im Anlagenlebenszyklus. VDI/VDE, 2020 (vdi.de [abgerufen am 6. Februar 2020]).
  • Ulrich Sendler: Industrie 4.0 grenzenlos. Springer Vieweg, Heidelberg/Berlin 2016, ISBN 978-3-662-48277-3.
  • Michael W. Grieves: Virtually Intelligent Product Systems: Digital and Physical Twins. In: Complex Systems Engineering: Theory and Practice (= Progress in Astronautics and Aeronautics. Volume 256). American Institute of Aeronautics and Astronautics, Inc., 2019, ISBN 978-1-62410-564-7, S. 175–200, doi:10.2514/5.9781624105654.0175.0200.
  • M. Grieves: Digital Twin - Manufacturing Excellence through Virtual Factory Replication. Whitepaper, LLC, 2004 (researchgate.net).
  • Digitaler Zwilling - Engineering der Zukunft. In: IFFOCUS - Zeitschrift des Fraunhofer-Instituts IFF Magdeburg. Nr. 1, 2019 (fraunhofer.de [PDF; abgerufen am 21. Juni 2020]).
  • W. Herlyn, H. Zadek: Der Digitale Steuerungs-Zwilling - Dynamische Auftrags- und Materialflusssteuerung auf Basis des Konzeptes eines digitalen Steuerungs-Zwillings. In: Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb (ZwF). Special, Nr. 115, April 2020, S. 70–73, doi:10.3139/104.112338.
  • M. Eigner: Digitaler Zwilling – Stand der Technik. In: Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb (ZwF). Special, Nr. 115, April 2020, S. 3–6, doi:10.3139/104.112300.

Einzelnachweise

  1. Gesellschaft für Informatik (GI): Digitaler Zwilling. 15. Februar 2018, abgerufen am 17. Februar 2018.
  2. a b Michael Grieves: Digital Twin – Manufacturing Excellence through Virtual Factory Replication (Whitepaper). LLC, 2014 (researchgate.net).
  3. Hendrik van der Valk, Hendrik Haße, Frederik Möller, Michael Arbter, Jan-Luca Henning: A Taxonomy of Digital Twins. In: AMCIS 2020 Proceedings. 10. August 2020 (aisnet.org [abgerufen am 21. Juli 2022]).
  4. Hendrik van der Valk, Hendrik Haße, Frederik Möller, Boris Otto: Archetypes of Digital Twins. In: Business & Information Systems Engineering. Band 64, Nr. 3, 1. Juni 2022, ISSN 1867-0202, S. 375–391, doi:10.1007/s12599-021-00727-7.
  5. Ulrich Sendler, Rainer Stark, Anton S. Huber: Industrie 4.0 grenzenlos. Hrsg.: Ulrich Sendler. Springer Vieweg, Berlin / Heidelberg 2016, ISBN 978-3-662-48277-3, S. 270.
  6. Was ist ein Digitaler Zwilling? SendlerCircle klärt auf. 26. Februar 2019, abgerufen am 12. Mai 2019 (deutsch).
  7. Definition des sendler\circle für ‘Digitaler Zwilling’ – Neues und Hintergrundinfos zu PLM. Abgerufen am 12. Mai 2019.
  8. Definition » Digitaler Zwilling «. In: Gabler Wirtschaftslexikon. (wirtschaftslexikon.gabler.de [abgerufen am 17. Februar 2018]).
  9. H. Zadek, W. Herlyn: Mastering the Supply Chain by a Concept of a Digital Control-Twin. doi:10.15480/882.3120.
  10. W. Herlyn, H. Zadek: Der Digitale Steuerungs-Zwilling - Dynamische Auftrags- und Materialflusssteuerung auf Basis des Konzeptes eines digitalen Steuerungs-Zwillings. In: Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb (ZwF). Bd. 115, 2020, S. 70–73.
  11. Technologie für digitale Zwillinge und GIS | Was ist ein digitaler Zwilling? In: ESRI. Abgerufen am 16. Juli 2022 (deutsch).
  12. Virtual City Systems. In: Smart City Berlin. Abgerufen am 16. Juli 2022 (deutsch).
  13. Aitor Hernández-Morales: Barcelona bets on ‘digital twin’ as future of city planning. In: Poltico. 18. Mai 2022, abgerufen am 16. Juli 2022 (amerikanisches Englisch).
  14. Gerhard Schrotter, Christian Hürzeler: The Digital Twin of the City of Zurich for Urban Planning. In: PFG – Journal of Photogrammetry, Remote Sensing and Geoinformation Science. Band 88, Nr. 1, Februar 2020, ISSN 2512-2789, S. 99–112, doi:10.1007/s41064-020-00092-2 (springer.com [abgerufen am 16. Juli 2022]).
  15. Marianna Charitonidou: Urban scale digital twins in data-driven society: Challenging digital universalism in urban planning decision-making. In: International Journal of Architectural Computing. Band 20, Nr. 2, Juni 2022, ISSN 1478-0771, S. 238–253, doi:10.1177/14780771211070005 (sagepub.com [abgerufen am 16. Juli 2022]).