Dschazīra
Die Dschazīra (arabisch الجزيرة
, DMG
‚die Insel‘, heute häufig auch
/ الجزيرة الفراتية /‚die Euphrat-Insel‘) ist eine Kulturlandschaft im Nordwesten des Irak und im Nordosten Syriens. Andere Schreibweisen sind Dschasira und Dschesireh (z. B. bei Karl May; englisch Jazirah, französisch Djazirah und italienisch Gesireh). Das Gebiet stimmt mit Obermesopotamien überein und erstreckt sich vom Euphrat bis zum Tigris. Der Chabur entspringt in der Türkei und fließt auf 440 km durch diese Landschaft, bis er am Nordrand der Syrischen Wüste in den Euphrat mündet. Die größeren Städte der Dschazīra sind Mossul, Deir ez-Zor, Raqqa, al-Hasaka und Qamischli. Der westliche syrische Teil entspricht dem Gouvernement al-Hasaka. Die Hauptstadt der westlichen Region ist al-Hasaka. Der östliche irakische Teil ist identisch mit der irakischen Provinz Ninawa. Die Hauptstadt der östlichen Region ist Mossul.
Geographie
Die Region gehört zum Fruchtbaren Halbmond. Der westliche Teil von Nordmesopotamien (bis ar-Raqqa) wird als Diyar Mudar bezeichnet, der nördliche Teil als Diyar Bakr (entsprechend Diyarbakır) und der östliche Teil heißt Diyar Rabi’a. Diese Namen stammen von arabischen Stämmen her. Der Name al-Dschazīra wurde in den islamischen Quellen für die Benennung des nördlichen Teils Mesopotamiens benutzt und machte zusammen mit der Region Sawād den Irak (Al-‘arāgh) aus. Die Dschazīra wurde im Süden durch den Dschabal Sindschar begrenzt, aber die westlichen und östlichen Grenzen scheinen in der Zeit vor den Abbasiden variabel gewesen zu sein und schlossen manchmal Westsyrien und Adiabene im Osten ein.
Dschazīra wird als Flachland beschrieben und steht landschaftlich im Kontrast zur syrischen Wüste und dem tiefer liegenden Zentralmesopotamien. So gibt es in Zentralmesopotamien eine der größten Salzwüsten der Welt. Weiter südlich von Mossul bis Basra gibt es eine Sandwüste, die der Rub al-Chali ähnelt. Die Region wurde in den letzten Jahren von Dürren geplagt.
Geschichte
Frühe Geschichte
Teile der Dschazīra gehörten im PPNB zu der Region, in der erstmals die Pflanzen und Tiere domestiziert wurden, die auch nach der Kaltzeit bei der Besiedelung Europas mitgenommen wurden. Nordmesopotamien war das Herzstück des antiken Assyriens und eine wirtschaftlich gedeihende Region mit verschiedenen landwirtschaftlichen Produkten wie Früchten und Getreide. Es besaß ein produktives Fertigungssystem für Lebensmittel und Bekleidung. Die Position der Region an den Grenzen zum sassanidischen und byzantinischen Reich machte es später zu einem wichtigen Wirtschaftszentrum. Diese Vorteile bestanden auch noch, als Muslime Teile des byzantinischen Anatoliens erobert hatten. Die Dschazīra umschloss die damaligen sassanidischen Provinzen Arbayestan, Nisibis und Mossul.
Islamische Reiche
Die arabische Eroberung der Dschazīra erfolgte zur Zeit des zweiten Kalifen ʿUmar ibn al-Chattāb (634–644) im Wesentlichen durch den Prophetengefährten (Sahāba) ʿIyād ibn Ghanm (gest. 641). Er wurde entweder durch ʿUmar oder durch Abū ʿUbaida ibn al-Dscharrāh mit diesem Unternehmen beauftragt.[1] Die Araber führten die ehemalige Verwaltung unverändert weiter mit der Ausnahme, dass sie jetzt bei den Nichtmuslimen die Dschizya-Steuer erhoben. Nichtmuslime hatten außerdem die Muslime mit einem monatlichen Betrag an Getreide und Pflanzenöl zu unterstützen.[2] Zur Zeit Muʿāwiyas (Gouverneur Syriens und späterer Kalif und Gründer der Umayyadendynastie), wurde die Verwaltung der Dschazīra in die Verwaltung Syriens integriert. Während der frühen islamischen Reiche wurde die Verwaltung mit der von Armenien geteilt.
Der Wohlstand der Region und seine hohen landwirtschaftlichen und fertigungstechnischen Erträge machte es zu einem Streitobjekt verschiedener lokaler Herrscher. Mehrere Eroberer versuchten vergeblich, die verschiedenen Städte der ehemaligen sassanidischen Provinzen und die kürzlich eroberte byzantinische Provinz Mesopotamien unter einer Einheit an sich zu binden.
Aber auch die spätere Führungsmacht der Muslime in Bagdad, namentlich die Abbasiden, wollten die Dschazīra unter ihrer direkten Kontrolle haben. Denn zu der Zeit war die Dschazīra auch eine der steuerlich ergiebigsten Provinzen.
Während der frühen Geschichte des Islams war die Dschazīra ein Zentrum der Charidschitenbewegung und musste so andauernd von den Kalifen unterworfen werden. Später etablierten die Hamdaniden, Nachfahren der Charidschiten, im neunten Jahrhundert einen autonomen Staat in der Dschazīra und Nordsyrien. Das Verschwinden der Hamdaniden brachte die Region wieder unter die nominelle Herrschaft der Kalifen in Bagdad, während die echte Herrschaft in den Händen der Buyiden lag.
Türkische Reiche
In den anschließenden Zeiten kam die Dschazīra unter die Kontrolle der neu gegründeten türkischen Dynastien wie der Ichschididen (10. Jhr) und der Zengiden (12.–13. Jhr), und wurde schließlich durch die Ayyubiden (12.–13. Jhr) kontrolliert. Die spätere Entwicklung der Region wurde durch den Aufstieg Mossuls und Nisibis', die beide wichtige kommerzielle und produzierende Zentren waren, bestimmt. Im 12. Jh. wurde die Region von den Seldschuken erobert und beherrscht und später den Rumseldschuken unterstellt. Als die Osmanen den Rumseldschuken in Kleinasien folgten, kam die Dschazīra unter ihre Kontrolle.
Moderne Geschichte
Tausende christliche Flüchtlinge aus der Türkei betraten die syrische Dschazīra nach dem Ersten Weltkrieg. Zusätzlich kamen 1933 17.000 assyrische Christen und 7000 chaldäische Katholiken wegen Verfolgung und Massakern aus dem Nordirak.[3]
Gegenwärtige Situation
Dschazīra ist eine der vier Erzdiözesen der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien. Die anderen befinden sich in Aleppo, Homs und Damaskus.[3]
In den letzten 40 Jahren sind viele Christen aus diesem Gebiet ausgewandert. Wichtige Gründe waren die Dürren, die Auswanderung der Christen aus der Türkei und der Einstrom von Kurden aus dem Osten.[3] In neuester Zeit verstärkte sich dieser Trend durch den Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs 2011.
Literatur
- Nafi Nasser Al-Kasab: Die Nomadenansiedlung in der irakischen Jezira. Geographisches Institut, Tübingen 1966.
- Ralph W. Brauer: Boundaries and Frontiers in Medieval Muslim Geography. Philadelphia 1995.
- J. G. Dercksen (ed.): Anatolia and the Jazira during the Old Assyrian period. Nederlands Institut voor het Nabije Oosten, Leiden 2008.
- Almut von Gladiss (Hrsg.): Die Dschazira. Kulturlandschaft zwischen Euphrat und Tigris. Museum für Islamische Kunst. Staatliche Museen zu Berlin 2006, ISBN 3-88609-557-6.
- Ralph Hempelmann: Tell Chuēra, Kharab Sayyar und die Urbanisierung der westlichen Ǧazīra. Harrassowitz, Wiesbaden 2013.
- G. Le Strange: The lands of the eastern caliphate. Cambridge University Press, Cambridge 1930.
- Michael G. Morony: Iraq after the Muslim Conquest. Princeton University Press, Princeton 1984; Neuauflage: Gorgias Press, New Jersey 2005, ISBN 1-59333-315-3
- Julian Raby: The art of Syria and the Jazīra: 1100-1250. Oxford University Press, Oxford 1985.
Einzelnachweise
- ↑ al-Balādhurī: Kitāb Futūḥ al-Buldān. Ed. Michael Jan de Goeje. Brill, Leiden, 1866, S. 172 (Textarchiv – Internet Archive).
- ↑ Al-Balādhurī: Kitāb Futūḥ al-Buldān. S. 125. – Dt. Übers. O. Rescher. S. 126 (Textarchiv – Internet Archive).
- ↑ a b c Ray J. Mouawad: Syria and Iraq – Repression: Disappearing Christians of the Middle East. In: The Middle East Quarterly. Band 8, Nr. 1, Winter 2001.