Ethnozentrismus

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Ethnozentrismus ist ein primär psychologischer, aber auch in unterschiedlichsten sozialwissenschaftlichen und politikwissenschaftlichen Untersuchungen gebrauchter Begriff, der die Voreingenommenheit eines Individuums gegenüber ihm fremden Gruppen bezeichnet.[1] Das Phänomen basiert auf der Überzeugung, dass die eigenen Verhaltensmuster und die der ethnischen Gruppe, der man angehört, immer normal, natürlich, gut, schön oder wichtig sind. Vor diesem normativen Maßstab können Fremde – deren Kultur sich deutlich unterscheidet – als wild, unmenschlich, ekelhaft oder irrational bewertet werden.[2] Man spricht daher auch von der „Selbstbezogenheit einer Gruppe“;[3] die Merkmale der Eigengruppe werden dabei als Bewertungsgrundlage vorausgesetzt[4] und gegenüber denen von Fremdgruppen für überlegen gehalten.[5] Dies kann sich u. a. beziehen auf Kultur, Lebensweise, Lebensstil, Weltanschauung, Religion.[6] Der Begriff „Ethnozentrismus“ bezieht sich zwar zunächst nicht etwa auf eine Nation oder Rasse im Sinne der obsoleten Rassentheorie, sondern das Verhältnis des Individuums zu seiner ethnischen Gruppe; Ethnozentrismus kann aber die Grundlage für ein Verhalten bilden, welches Nationalismus oder Rassismus zugrunde liegt.[7]

Studien etwa in der Soziologie, Psychologie, Sozialpsychologie, Ethnologie[8] oder Anthropologie, aber auch der Kulturgeschichte, z. B. auch bezüglich der Mythologie, analysieren, inwiefern Personen derartige Kategorien und Wertungen bilden und verwenden. In diesem Zusammenhang stehen auch vielfältige Untersuchungen der kulturvergleichenden Sozialforschung.

Herkunft des Begriffs

Der Begriff wird auf den US-Soziologen William Graham Sumner zurückgeführt, der in seinem Buch Folkways (1906) „Ethnozentrismus“ so definierte:

„Ethnozentrismus ist der Fachausdruck für jene Sicht der Dinge, in welcher die eigene Gruppe der Mittelpunkt von Allem ist und alle anderen mit Bezug darauf bemessen und bewertet werden.“[9]

Schon Sumner hat die Anwendung des Begriffs „Ethnozentrismus“ nicht auf die Ebene von „Völkern“ begrenzt, sondern den Begriff sehr umfassend auf soziale Gruppen bezogen, denen sich ein Mensch selbst zuordnet: „Jede Gruppe denkt, ihre Lebensweisen [folkways] seien die richtigen.“[10]

Er sprach dem Ethnozentrismus die Funktion zu, die Eigengruppe gegenüber der Fremdgruppe zu stabilisieren, weil er die besondere Eigentümlichkeit der Gebräuche und dadurch die Gruppenzugehörigkeit in der Abgrenzung zu anderen stärke. Diese Funktion bewertete er positiv, da er davon ausging, dass Gruppen in einem Wettbewerb im Sinne des Sozialdarwinismus stünden.[11]

Auftreten

Die Tendenz zum Ethnozentrismus ist in den universellen Bedingungen menschlichen Wahrnehmungsverhaltens angelegt; das behaupten etwa Theorien der sozialen Kognition, wie speziell etwa die Theorie des sozialen Vergleichs (Bezugsgruppentheorie). In der Sozialbiologie und in der Evolutionstheorie werden positive (arterhaltende) Funktionen des Ethnozentrismus angenommen.[12]

Die für die betreffende Person negativen Konsequenzen (etwa Wahrnehmungsverzerrungen oder Lernhindernisse) sowie sozial und/oder politisch unerwünschten Folgekosten[13] werden vor allem im Bereich der sozialen Vorurteile, der selbsterfüllenden Prophezeiung sowie der sozialen Konflikte in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt, insbesondere wenn es um Probleme im Umgang mit interkulturellen Kontakten geht. Hier steht Ethnozentrismus in Verbindung mit Erscheinungen des Rassismus, Nationalismus, der Segregation oder der Fremdenfeindlichkeit.

Der Ethnozentrismus ist ein wesentlicher methodologischer Gesichtspunkt zur Beurteilung der wissenschaftlichen Qualität in der ethnologischen Forschung. Kulturanthropologen sehen in ihm eine Quelle für mögliche Wahrnehmungsverzerrungen und Beurteilungsfehler des Forschungspersonals, vor allem bei der Feldforschung in fremden Kulturen. Franz Boas setzte dem Ethnozentrismus die These des Kulturrelativismus entgegen, Bronisław Malinowski die Perspektive des Funktionalismus.

Der Kriminalsoziologe Howard S. Becker beobachtete eine „duale Ethik“, die zwischen den Normen für die Eigengruppe und denjenigen für die Fremdgruppen scharf unterscheide.

Gegenkonzepte

In der amerikanischen

wurde von ihrem Wegbereiter Franz Boas „interkulturelle Toleranz als Gegengewicht“ zum Ethnozentrismus propagiert.[14]

In jüngster Zeit werden unter der Überschrift „Interkulturalität“ auf Grundlage der Theorien von Alfred Schütz und Thomas Luckmann, Erving Goffman, Jan Assmann u. a. Verfahrensweisen erarbeitet, die die Verständigung zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen erleichtern sollen. Die Interkulturelle Wirtschaftskommunikation wendet diese Techniken auf Unternehmensangelegenheiten an. Wesentlich sind dabei stets Konzepte zum interkulturellen Lernen. Auf der Umsetzung solcher Konzepte ruht die Hoffnung auf langfristige Konfliktvermeidung zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen, gerade an Schulen. Das kritische Erkennen und Akzeptieren des unvermeidlichen eigenen Ethnozentrismus („aufgeklärter Ethnozentrismus“) sowie das Erlernen interkultureller Kompetenz sollen helfen, das Miteinanderleben in einer multikulturellen Gesellschaft erträglich zu gestalten. Nach Milton Bennett durchläuft man beim Erwerb interkultureller Kompetenz zunächst die Phasen des Ethnozentrismus, der sich schließlich in Ethnorelativismus wandelt.[15]

Literatur

  • Dieter Fuchs, Jürgen Gerhards und Edeltraud Roller: Wir und die Anderen. Ethnozentrismus in den zwölf Ländern der Europäischen Gemeinschaft. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1993, Nr. 45, S. 238–253.
  • David Theo Goldberg: Ethnocentrism. In: Maryanne Cline Horowitz (Hrsg.): New Dictionary of the History of Ideas. Thomson Gale, New York u. a. 2005, Band 2, 722–725.
  • Kien Nghi Ha: Ethnizität und Migration Reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs. Überarb. und erw. Neuauflage, Westfälisches Dampfboot/WVB 1999/2004. ISBN 3-86573-009-4.
  • Georg Hansen: Ethnie, Ethnozentrismus, Ethnizität. In: Cornelia Schmalz-Jacobson, Georg Hansen (Hrsg.): Ethnische Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Lexikon. München 1995.
  • V. Reynolds, V.S.E. Falger, I. Vine (Hrsg.): The Sociobiology of Ethnocentrism: Evolutionary Dimensions of Xenophobia, Discrimination, Racism, and Nationalism. Croom Helm, London 1987.
  • Ulrich Rosar: Ethnozentrismus in Deutschland. Eine komparative Analyse. 1980 bis 1996. (PDF; 55 k B) Westdeutscher Verlag 2001, ISBN 3-531-13654-2.
  • William Graham Sumner: Folkways. A Study of the Sociological Importance of Usages, Manners, Customs, Mores, and Morals. University of Michigan, 1906. Digitalisat

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Vgl. etwa James G. Kellas: The Politics of Nationalism and Ethnicity. 2. Auflage. MacMillan, London 1998, S. 6 (einsehbar bei Google Books): „Ethnocentrism is basically a psychological term, although it is also used generally in the study of society and politics … It is essentially concerned with an individual’s psychological biases towards his/her ethnic group, and against other ethnic groups.“
  2. Marvin Harris: Kulturanthropologie – Ein Lehrbuch. Aus dem Amerikanischen von Sylvia M. Schomburg-Scherff. Campus, Frankfurt am Main/New York 1989, ISBN 3-593-33976-5, S. 22.
  3. Ulrich Schneckener: Ethnozentrismus. In: Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik. Band 7 (Politische Begriffe). C.H. Beck, München 1992 ff, 156: „Fachterminus, der die Selbstbezogenheit einer Gruppe bezeichnet, insbesondere in ethnischer, religiöser und kultureller Hinsicht.“ James G. Kellas: The Politics of Nationalism and Ethnicity. 2. Auflage. MacMillan, London 1998, S. 6: "Favourable attitudes are held about the 'ingroup' … and unfavourable ones about the 'outgroup'".
  4. Vgl. z. B. Ethnozentrismus. In: Klaus Schubert, Martina Klein: Das Politiklexikon. 4. Auflage. Dietz, Bonn 2006. „eine politische Einstellung, die die Werte (z. B. Religion) und die Besonderheiten (z. B. Hautfarbe) der eigenen Volksgruppe (Ethnie) über die anderer Völker stellt bzw. zur Bewertungsgrundlage nimmt.“
  5. Vgl. zum Letzteren z. B. Ulrich Schneckener: Ethnozentrismus. In: Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik. Band 7 (Politische Begriffe). C.H. Beck, München 1992 ff., S. 156: „Die bevorzugte Eigenwahrnehmung wird als konstitutiv für Gruppenbildungsprozesse angesehen, i. d. R. werden dabei die Merkmale und Fähigkeiten der Eigengruppe als »wertvoller« bewertet als die von Fremdgruppen“.
  6. Vgl. z. B. David Theo Goldberg: Ethnocentrism, in: Maryanne Cline Horowitz (Hrsg.): New Dictionary of the History of Ideas, Thomson Gale, New York u. a. 2005, Band 2, S. 722–725, hier 722: „the disposition to read the rest of the world, those of different cultural traditions, from inside the conceptual scheme of one’s own ethnocultural group. The ethnocentric attitude assumes that one’s own ethnic Weltanschauung (worldview) is the only one from which other customs, practices, and habits can be understood and judged.“ Vgl. auch den Artikel Ethnozentrismus. In: Wolfgang J. Koschnik: Standardwörterbuch für die Sozialwissenschaften. Band 2 / Teil 1 A–L. KG Saur, München/London/New York/Paris 1992, ISBN 3-598-10527-4, S. 279.
  7. Vgl. etwa James G. Kellas: The Politics of Nationalism and Ethnicity. 2. Auflage. MacMillan, London 1998, S. 6: “Ethnocentrism … can be related to 'nationalism' and racism', but its focus is strictly on the individual’s relationship with an ethnic group rather than with a ‘nation’ or a ‘race’. Ethnocentrism gives a general and perhaps even universal basis for a type of behaviour which also underlies nationalism and racism.”
  8. Vgl. z. B. W. Rudolph: Ethnozentrismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, S. 812: „Der E. ist in der Folgezeit explizit und implizit in den verschiedensten theoretischen Zusammenhängen von Soziologie, Psychologie (besonders Sozialpsychologie) und Ethnologie diskutiert worden“ mit Verweis auf D. T. Campbell, R. L. Levine: Propositions about Ethnocentrism from social science theories, Chicago 1965.
  9. William Graham Sumner: Folkways. A study of the sociological importance of usages, manners, customs, mores, and morals. Ginn and Company, Boston / New York u. a. 1906. Nachdruck Cosimo, New York 2007, S. 13: „Ethnocentrism is the technical name for this view of things in which one’s own group is the center of everything, and all others are scaled and rated with reference to it.“ (einsehbar bei Google Books)
  10. William Graham Sumner: Folkways. A study of the sociological importance of usages, manners, customs, mores, and morals. Ginn and Company, Boston/New York u. a. 1906. Nachdruck Cosimo, New York 2007, S. 12 f: „Each group thinks its own folkways the only right ones.“
  11. Richard Hofstadter: William Graham Sumner, Social Darwinist. In: The New England Quarterly, 14/3 (1941), S. 457–477, JSTOR 360486.
  12. Donald T. Campbell: Variation and selective retention in socio-cultural evolution. In: Herbert R. Barringer, George I. Blanksten, Raymond W. Mack (Hrsg.): Social change in developing areas: A reinterpretation of evolutionary theory. Schenkman, Cambridge (MA) 1965, S. 19–49. Chad Joseph McEvoy: A Consideration of the Sociobiological Dimensions of Human Xenophobia and Ethnocentrism. 1995.
  13. Jiri Spendlingwimmer: Die negativen Auswirkungen des Ethnozentrismus und deren Vermeidung. (2008) Diplomarbeit, Universität Wien.
  14. vgl. Wolfgang Rudolph: Ethnozentrismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 2, S. 812, mit Bezug auf Franz Boas:
    The mind of primitive man.
    New York 1911, S. 208 f.
  15. Milton Bennett: Towards Ethnorelativism: A developmental Model of Intercultural Sensitivity. In: R. Paige (Hrsg.): Education for the Intercultural Experience. Intercultural Press, Yarmouth 1993, S. 21–71.