Vermisstenfall Familie Schulze

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Die Familie Schulze aus Drage bei Hamburg wird seit dem 23. Juli 2015 vermisst. Die Leiche von Vater Marco Schulze wurde eine Woche später gefunden; von Mutter Sylvia und Tochter Miriam fehlt weiterhin jede Spur.

Hintergrund

Marco Schulze (* ca. 1974) war gelernter Landwirt. Ende der 1990er Jahre hatte er als Fahrer für eine Wäscherei gearbeitet, dort jedoch um die Jahrtausendwende gekündigt, um wieder in seinem erlernten Beruf zu arbeiten. Er fand eine Anstellung bei einem Schweinezüchter in der Nähe von Lüneburg. 2002 lernte er seine spätere Frau Sylvia (* ca. 1972) kennen, die bereits aus einer früheren Beziehung eine Tochter (* ca. 1990) hatte. Die beiden bekamen eine Tochter, Miriam (* ca. 2003), bauten 2004 ein Einfamilienhaus in Drage und heirateten am 1. November 2007.[1][2][3][4]

Sylvia Schulzes ältere Tochter lebte zum Zeitpunkt des Verschwindens der Familie nicht mehr im Haushalt. Marco Schulze war inzwischen in einer Chemiefabrik in Geesthacht beschäftigt, an den Wochenenden arbeitete er nebenher als Lkw-Fahrer für eine Supermarktkette. Zudem half er auf dem Reiterhof aus, auf dem seine Tochter Reitstunden nahm.[1] Sylvia Schulze arbeitete als stellvertretende Filialleiterin bei einem Discounter in Geesthacht. Sie wurde als sehr zuverlässig beschrieben.[2][3][4]

Von Zeugen, einschließlich seiner Stieftochter, wurde Marco Schulze als fürsorglicher und liebevoller Familienvater beschrieben. Ein Freund beschrieb ihn als hilfsbereiten Menschen, der „immer für jeden da sein“ wollte.[1][3][4]

Sylvia Schulzes ältere Tochter berichtete von Alkoholproblemen ihres Stiefvaters und dass dieser wenige Tage vor dem Verschwinden seinen Führerschein wegen Trunkenheit am Steuer habe abgeben müssen, wodurch er seinen Nebenjob als Fahrer verloren habe.[1][3] Eine Zeugin gab an, Sylvia Schulze habe die Absicht gehabt, sich von ihrem Mann zu trennen; eine Freundin der Familie berichtete von einem Streit, in dem Marco Schulze für den Fall einer Trennung mit Suizid gedroht habe. Nach Angaben der Polizei gab es jedoch keine Hinweise auf eine Trennung. Der ehemalige Leiter der Sonderkommission Schulze berichtete, der Tag vor dem Verschwinden sei „anders als sonst“ gewesen, etwas habe „die Familie bedrückt“. Möglicherweise habe es aus Marco Schulzes Sicht „einen unüberwindbaren Konflikt zwischen Mann und Frau gegeben“.[5][6][2][3][7]

Tochter Miriam hatte mit einer Freundin aus der Nachbarschaft Reiterferien geplant, die am 25. Juli beginnen sollten. Die Mutter dieser Freundin sagte später, Miriam habe kurz zuvor geäußert, dass sie sich nicht sicher sei, ob es klappe.[6][2] Am 21. Juli, dem Tag, bevor sie zum letzten Mal gesehen wurde, besuchte die Familie einen Pferdehof in der Nähe von Drage.[2] Die Eltern hatten (je nach Quelle für August oder für den Herbst) zu zweit einen Urlaub in Mexiko gebucht.[2][7]

Hergang

Der 22. Juli 2015, ein Mittwoch, war in Niedersachsen der letzte Schultag vor den Sommerferien. Miriam Schulze wurde am Morgen des 22. Juli von ihren Eltern in der Schule krank gemeldet;[2][3] anderen Quellen zufolge hatte sie bereits mehr als eine Woche gefehlt.[8][9] Zu einem Arzttermin am selben Tag erschien sie nicht mehr, so dass es am 22. Juli kein Lebenszeichen mehr von ihr gab. Anderen Quellen zufolge schrieb sie am Mittag des 22. Juli noch eine WhatsApp-Nachricht an eine Freundin. Sylvia Schulze fuhr wie üblich zu ihrer Arbeitsstätte, was die Ermittler als Zeichen werten, dass ihre Tochter zu dem Zeitpunkt noch lebte. Gegen 13.45 Uhr erhielt sie von ihrem Mann eine SMS, in der er sie bat, nach Hause zu kommen, da es Miriam schlechter gehe. Gegen 16.20 Uhr verließ sie ihren Arbeitsplatz und fuhr nach Hause, wo sie um 16.50 Uhr ankam. Am 23. Juli blieb sie ihrer Arbeit unentschuldigt fern und war auch per Handy nicht erreichbar.[8][9][6][2]

Marco Schulze hatte am 22. Juli frei. Um 17.25 Uhr erhielt er einen Anruf von dem Reiterhof, an dem er aushalf, und wurde gefragt, ob er am nächsten Tag kommen könne. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit zögerte er mit seiner Zusage. Gegen 19.30 Uhr wurde er auf dem Reiterhof beim Ausfegen eines Stalles gesehen.[8] Er wurde auch noch am Abend gesehen, als er die Mülltonne vor die Tür seines Hauses stellte.[6] Zeugen wollen ihn auch noch am 23. Juli gegen 7.30 Uhr an der Elbe bei Stove gesehen haben, wo er mit dem Auto seiner Frau, einem grauen Dacia Sandero, in Richtung Drage fuhr.[10][2]

Ermittlungen

Als Sylvia Schulze am Donnerstag, dem 23. Juli, und auch am Freitag nicht zur Arbeit erschien, benachrichtigten Kollegen die Polizei. Nachdem diese ermittelt hatte, dass auch Marco Schulze nicht am Arbeitsplatz aufgetaucht war, verschaffte sie sich Zugang zum Haus der Schulzes. Die Fenster waren gekippt, im Haus und im Schuppen befanden sich die zwei Katzen der Familie, auch Geldbörsen, Handys und Ausweispapiere der Familie wurden im Haus gefunden. Beide Autos der Schulzes standen in der Garage. Ein Abschiedsbrief fand sich nicht, auch ergaben sich keine Hinweise auf Blut- oder Kampfspuren im Haus oder in den Autos.

Miriams Lieblingskuscheltiere waren nicht auffindbar, außerdem fehlte ein grünes Herrenfahrrad aus dem Haushalt (dieses wurde am 30. Juli am Bahnhof in Winsen gefunden). Die Handys der Familie wurden ebenfalls nicht gefunden; Ortungsversuche ergaben, dass diese nicht mehr ins Netz eingebucht und wahrscheinlich abgeschaltet waren. Das Handy von Sylvia Schulze hatte sich am 22. Juli um 16.50 Uhr mit dem heimischen WLAN verbunden, das Handy von Marco Schulze ging am 22. Juli um 20:58 vom Netz.

Ein spontaner Kurzurlaub erschien angesichts der Spuren unwahrscheinlich.[8][6][10][1][2][3][7]

Zunächst suchte die Polizei mit Unterstützung der Feuerwehr in Drage nach den Vermissten und weitete die Suche immer mehr aus, bis sie am 5. August vorerst eingestellt wurde. Nach Zeugenhinweisen gab es auch in der Folgezeit noch einzelne Suchaktionen, so am Mühlenteich in Holm-Seppensen, in der Elbe bei Hoopte und am Ufer bei Geesthacht sowie bei Radbruch. Unter anderem kamen Hubschrauber, Spürhunde, Taucher und Sonarboote zum Einsatz. Am 27. Juli bat die Polizei erstmals die Öffentlichkeit um Hinweise. Es wurde auch Hinweisen von „Hobbydetektiven“ und Hellsehern nachgegangen.

Die Fernsehsendung Aktenzeichen XY … ungelöst berichtete am 12. August 2015 und ein weiteres Mal am 29. Juni 2016 über den Fall. Trotz zahlreicher Hinweise ergab sich keine „heiße Spur“.[11][6][12][2]

Die Sonderkommission Schulze wurde Ende August 2015 auf drei, später auf einen Mitarbeiter verkleinert und im März 2016 endgültig aufgelöst, nachdem alle Spuren abgearbeitet worden waren.[6][7]

Wie im Mai 2017 bekannt wurde, hatten Privatermittler bereits im Dezember 2016 in der Nähe des Hauses der Familie Kleidungsstücke gefunden und der Polizei übergeben, die eine DNA-Analyse einleitete.[13] Die Untersuchungen ergaben jedoch im Juli 2017, dass die Kleidung nicht den Schulzes gehörte.[11]

Fund der Leiche von Marco Schulze

Am 31. Juli 2015 beobachteten Anwohner in Lauenburg etwa 400 m von der Elbbrücke entfernt eine in Ufernähe treibende Leiche und verständigten die Polizei. Der Tote konnte als Marco Schulze identifiziert werden. Als Todesursache wurde Ertrinken angegeben, als Todeszeitpunkt die Nacht vom 23. auf den 24. Juli.

Die Leiche war mit einem Betonklotz beschwert, der mit Spanngurten am Körper befestigt war, und trug gelbe Arbeitshandschuhe. Der Betonklotz stammte von einer Baustelle auf der Brücke. Im Fluss unter der Brücke wurde ein Damenfahrrad gefunden, das aus dem Haushalt der Schulzes stammte. Auf dem Gepäckträger befanden sich weitere Spanngurte, identisch mit denen an der Leiche Schulzes. Der Leichenfundort befindet sich 20–25 km flussaufwärts vom Wohnort der Familie. Spuren von Ehefrau und Tochter fanden sich dort nicht. Auf Grund der Spurenlage gingen die Ermittler von einem Suizid aus.[9][6][14][2][3]

Nach Ansicht der Ermittler tötete Marco Schulze zunächst seine Frau und die gemeinsame Tochter und nahm sich dann selbst das Leben. Da nach deutschem Recht nicht gegen Verstorbene ermittelt wird, wurden die Mordermittlungen damit eingestellt. Der Fall wird seither als Vermisstensache behandelt.[3]

Hypothesen

Tötung durch den Vater

Die Polizei geht davon aus, dass Marco Schulze zunächst Frau und Tochter, dann sich selbst tötete. Ein Motiv für die Tat fehlt jedoch. Hinweise auf eine mögliche Trennung gab es nach Polizeiangaben nicht, auch wenn dies nicht völlig auszuschließen sei. Auch die finanzielle Situation sei nicht auffällig gewesen. Ungewöhnlich sei an der Tathergangshypothese jedoch, dass sich Marco Schulze demnach viel Mühe gegeben haben muss, Tatgeschehen und Leichen verborgen zu halten.[9]

Im August 2015 meldete sich eine Zeugin, die angab, die Familie am 22. Juli – dem Tag ihres Verschwindens – nach 18.00 Uhr am Mühlenteich in Holm-Seppensen beobachtet zu haben. Sie habe dabei Gesprächsfetzen mitbekommen, in denen auch der Spitzname von Sylvia Schulzes älterer Tochter gefallen sein soll, der nur innerhalb der Familie benutzt wurde. Später will die Zeugin Schreie gehört haben, unter anderem „Was soll das? Spinnst du?“ und „Papa, lass das!“; danach einen Knall wie von einem platzenden Luftballon.

Die Gegend wurde Mitte August, 3–4 Wochen nach der Sichtung, mit Spürhunden abgesucht. Dabei wurden tatsächlich Geruchsspuren von Vater, Mutter und Tochter gefunden, die zum See hinführten, doch führte lediglich die Spur des Vaters wieder weg vom See. Auf Grund des zeitlichen Abstandes zwischen Sichtung und Suche waren die Spuren aber möglicherweise nicht mehr stark genug, um von den Hunden verfolgt zu werden.

Marco Schulze hätte gemäß der Rekonstruktion des Tagesablaufs 30 Minuten gehabt, um seine Frau und Tochter zu töten und anschließend verschwinden zu lassen. Auch weil der Ort bei Spaziergängern und Joggern beliebt ist, halten die Ermittler einen unbemerkten Doppelmord an dieser Stelle und Abtransport beider Leichen für unwahrscheinlich, aber nicht ganz ausgeschlossen.[8][5][9][6][1][3][7]

Die ältere Tochter von Sylvia Schulze vermutete im Mai 2016, dass ihr Stiefvater seine Frau und die gemeinsame Tochter getötet habe. Durch seine Arbeit habe er Zugang zu Chemikalien gehabt, mit denen es möglich sei, eine Leiche spurlos verschwinden zu lassen. Nach Angaben der Polizei seien alle Säuren in der Firma, in der Marco Schulze beschäftigt war, auf Fehlbestände überprüft worden.[1][7]

Die Linzer Psychiaterin und Gutachterin Adelheid Kastner bezeichnete Schulzes Verhalten als ungewöhnlich für einen erweiterten Suizid: Dieser geschehe meist aus einer Depression heraus mit der primären Absicht der Selbsttötung. Abhängige, etwa Kinder oder pflegebedürftige Angehörige, die der Täter nicht für allein lebensfähig hält, würden in solch einem Fall mit in den Tod genommen, um sie nicht allein zurückzulassen; für die Tötung eines eigenständigen Erwachsenen gebe es meist kein Motiv. Für sie deuten die Umstände auf einen „erweiterten Mord“ hin:

„Dann ist anzunehmen, dass sich Sylvia Schulze trennen wollte. Er tötete sie, um sich zu rächen, um ihr Leid zuzufügen, gepaart mit einer dramatischen Selbstüberhöhung: Er entschied. Und entzog sich mit seinem Selbstmord dann den Konsequenzen.“

Kastner zufolge komme in solchen Fällen zur Trennung meist ein weiterer Stressfaktor hinzu, etwa finanzielle Probleme, Verlust des Arbeitsplatzes oder Angst vor dem sozialen Abstieg. Die Ausführung deute darauf hin, dass Marco Schulze den Doppelmord geplant haben muss: Ein spontan handelnder Täter befinde sich nach der Tat in einer emotionalen Ausnahmesituation und sei kaum in der Lage, zwei Leichen unauffindbar zu verstecken.[2]

Untertauchen von Mutter und Tochter

Für ein gemeinsames Untertauchen von Mutter und Tochter gibt es laut Polizei keine Hinweise. Jedoch meldeten sich auf die „Aktenzeichen XY“-Sendung im Juni 2016 Zeugen, die behaupteten, Mutter und Tochter im In- und Ausland gesehen zu haben.[8]

Folgen

Sylvia Schulze kann frühestens 2026, zehn Jahre nach dem Ende des Jahres ihres Verschwindens, für tot erklärt werden, ihre Tochter Miriam ab dem Ende des Jahres, in dem sie 25 Jahre alt geworden wäre.

Das Eigentum der Familie wurde von einem Anwalt verwaltet. Autos und Haus der Familie wurden verkauft und der Erlös auf ein Sperrkonto eingezahlt.[15][11]

Einzelnachweise

  1. a b c d e f g Familie Schulze: Tochter hält Stiefvater für den Täter. In: Stern. 11. Mai 2016, abgerufen am 15. Dezember 2019.
  2. a b c d e f g h i j k l m Familie Schulze und das Rätsel von Drage. In: Stern. 22. Juli 2016, abgerufen am 15. Dezember 2019.
  3. a b c d e f g h i j Seit drei Jahren vermisst: Was passierte mit Familie Schulze aus Drage? In: Stern. 20. Juli 2018, abgerufen am 15. Dezember 2019.
  4. a b c Taucher im Mühlenteich. In: Zeit. 20. August 2015, abgerufen am 15. Dezember 2019.
  5. a b Aktenzeichen XY: Vermisste aus Drage im Ausland gesehen? In: Neue Osnabrücker Zeitung. 30. Juni 2016, abgerufen am 15. Dezember 2019.
  6. a b c d e f g h i Miriam und Sylvia Schulze: Heute vor einem Jahr fing alles an. In: SHZ. 22. Juli 2016, abgerufen am 15. Dezember 2019.
  7. a b c d e f Rätsel um verschwundene Familie noch immer ungelöst. In: Welt. 21. Juni 2016, abgerufen am 15. Dezember 2019.
  8. a b c d e f Um 20.58 Uhr meldete sich Marcos Handy aus dem Funknetz ab. In: Kreiszeitung Wochenblatt. 23. Juli 2016, abgerufen am 15. Dezember 2019.
  9. a b c d e Fall Schulze in Drage bleibt mysteriös. In: n-tv. 22. Juli 2016, abgerufen am 15. Dezember 2019.
  10. a b Wo steckt Familie Schulze? In: Stern. 28. Juli 2015, abgerufen am 15. Dezember 2019.
  11. a b c Als Schulzes einfach verschwanden. In: n-tv. 22. Juli 2017, abgerufen am 15. Dezember 2019.
  12. Neue Hinweise zur Familie Schulze, aber keine heiße Spur. In: Stern. 13. August 2015, abgerufen am 15. Dezember 2019.
  13. Neue Spur im Fall der vermissten Familie aus Drage? In: Welt. 21. Mai 2017, abgerufen am 15. Dezember 2019.
  14. Toter aus der Elbe ist vermisster Familienvater. In: Stern. 1. August 2015, abgerufen am 15. Dezember 2019.
  15. Fall Drage: Als plötzlich eine Familie verschwand. In: LN Online. 22. Juli 2018, abgerufen am 15. Dezember 2019.