Ernst von Glasersfeld

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Ernst von Glasersfeld (* 8. März 1917 in München; † 12. November 2010 in Leverett, Franklin County, Massachusetts[1]) war Philosoph, Kommunikationswissenschaftler und gilt mit Heinz von Foerster als Begründer der erkenntnistheoretischen Schule des Radikalen Konstruktivismus.

Leben

Von Glasersfeld wurde als Österreicher geboren, nach dem Ersten Weltkrieg ließen sich seine Eltern in Oberitalien nieder. Glasersfeld wuchs dreisprachig auf (deutsch, englisch, italienisch) und lernte im Schweizer Lyceum Alpinum Zuoz eine vierte Sprache (französisch). Er studierte ein Semester in Zürich und ein Semester in Wien Mathematik, bevor Hitler durch die Annektierung Österreichs seiner akademischen Laufbahn ein Ende bereitete.

Er sagt von sich, dass er nicht eine, sondern mehrere Muttersprachen habe. Die Entwicklung des Radikalen Konstruktivismus führt er maßgeblich darauf zurück. Mit einer Muttersprache sei man auch immer so verbunden, dass „die Art und Weise in der diese Sprache die Erlebniswelt aufteilt, ordnet und beschreibt, selbstverständlich der wirklichen Wirklichkeit entspricht. Je tiefer ein Denker in seiner Muttersprache verankert ist, um so schwerer ist es für ihn, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass andere die Welt auf andere Weise sehen, kategorisieren und somit erkennen könnten.[2] Ihn selbst habe die Mehrsprachigkeit genau davor bewahrt und ihm die Einsicht ermöglicht, dass es verschiedene Wirklichkeiten gibt (vgl. die Sapir-Whorf-Hypothese: die Struktur der Welt wird durch die Muttersprache festgelegt/geprägt).

Nach der Schule studierte er Mathematik in Zürich, musste aber, weil der Vater das Studium in der Schweiz nicht mehr finanzieren konnte, schon nach einem Semester nach Wien zurück. Besonders beeindruckten ihn Sigmund Freud – vor allem die Traumdeutung – und der Tractatus von Wittgenstein. Als er den Satz 2.223 erreicht: „Um zu erkennen, ob ein Bild wahr oder falsch ist, müssen wir es mit der Wirklichkeit vergleichen“, wird ihm schlagartig klar, dass dies ja gar nicht möglich ist, weil man dazu über einen unmittelbaren Zugang zur Realität verfügen müsse, die ja jenseits der eigenen Erfahrung liegt. „Ich verstand, daß es Dinge gab, die man in der einen Sprache sagen und für wahr halten und die man dennoch nicht in eine andere Sprache übersetzen konnte.“[3]

Den „Nazis in Gängen und Vorlesungsräumen“ wollte er ausweichen und nahm daher 1937 – noch vor dem Ende des 2. Semesters – einen Winterjob als Skilehrer in Australien an. Er war erster australischer Abfahrtsmeister.[4] Als Skilehrer merkte er schnell, dass man Kindern das Skifahren nicht erklären kann. Sie lernen durch Beobachtung und kopieren den Fahrstil des jeweiligen Skilehrers. Später denkt er darüber nach, wie „unbewußte visuelle Eindrücke in eigene motorische Programme übersetzt werden. Es muß also im Nervensystem Muster geben, die sowohl in der Wahrnehmung als auch im motorischen Netzwerk funktionieren können.“[5]

Er heiratete seine erste Frau Isabel, eine Australierin mit britischer Mutter, und lebte während des Zweiten Weltkrieges als staatenloser Ausländer in Irland. Er bekam keine Arbeitserlaubnis und arbeitete daher freiberuflich als Farmer. Er nahm die irische Staatsbürgerschaft an und las mit Freunden James Joyce (Finnegans Wake), Giambattista Vico und G.A. Berkeley. Sie bewegten ihn in die Richtung der subjektiven Konstruktion.[6]

Nach dem Krieg zog er nach Partschins[7] bei Meran in Südtirol, wo Glasersfeld am Gardasee Silvio Ceccato kennenlernt. Ceccato befasste sich mit Theorien der Semantik und gründete 1945 einen interdisziplinären Kreis (Logiker, Linguisten, Psychologen, Physiker, Ingenieure, Computerspezialisten), die „Italienische operationistische Schule“. Diese Gruppe beschäftigte sich damit, Semantik auf mentale Operationen zurückzuführen. Ceccato gründete die internationale Zeitschrift Methodos (für Sprachanalyse und Logik) und Glasersfeld wurde der Übersetzer für die Beiträge in dieser Zeitschrift und arbeitete die nächsten sechs Jahre als Fachjournalist für Methodos. 1955 wurde Ceccato von Colin Cherry dazu aufgefordert, seine operationalen Analysen auf maschinelle Übersetzungsaufgaben anzuwenden. Ceccato gründete in Mailand das erste „Zentrum für Kybernetik“ und arbeitete für die amerikanische Luftwaffe. Glasersfeld wurde sein Forschungsassistent. Auf dieser Arbeit beruht seine Erfahrung, dass „jede Sprache eine andere begriffliche Welt bedeutet.“

Seit 1965 war er Leiter eines Projekts der US Air Force über computergestützte Linguistik in Athens (Georgia) 1969 starb seine Frau Isabel an einer Embolie. Als Präsident Richard Nixon eine Reihe von Forschungsprojekten beendete – darunter auch das von Glasersfeld – wurden die Wissenschaftler aus seiner Gruppe von der Universität von Georgia übernommen.

Ihm wurde eine Professur für Kognitionspsychologie angeboten. Man hatte großes Interesse für seine computerlinguistischen Arbeiten im Zusammenhang mit der Frage, ob ein Schimpanse eine Sprache lernen könnte. Ray Carpenter fragte Glasersfeld ob er ein entsprechendes Computerprogramm entwickeln wollte. Zusammen mit seinem Kollegen Piero Pisani entwickelte er eine Kunstsprache mit dem Namen Yerkish zur Erforschung der Kommunikationsmöglichkeiten mit Schimpansen. Sie arbeiteten mit der Schimpansin Lana, zogen sich aber aus dem Projekt zurück, weil die erheblichen Meinungsverschiedenheiten bezüglich der starken behavioristischen Forschungsorientierung nicht zu überbrücken waren.

Seit 1972 lernte er das Werk Jean Piagets kennen, dem er nach eigener Aussage viel Dank schuldete[8]. Persönlich hat Glasersfeld Piaget nie kennengelernt. Sein „Konstruktivismus“ bildet das „Rückgrat der genetischen Erkenntnistheorie“, die sich sowohl mit der Herstellung als auch mit der Bedeutung des Wissens befasst.

Eine enge Freundschaft verband ihn mit Warren McCulloch und Heinz von Foerster.

1974 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. 1976 konnte er an den Untersuchungen von Leslie Steffe zur Entwicklung von Zahlenbegriffen bei Kindern teilnehmen. In der Arbeitsgruppe, der auch Paul Cobb und Patrick Tompson angehörten, entwickelten sie ein plausibles Modell, das erklärt „was Kinder möglicherweise tun, um den Begriff der Zahl und die Grundoperationen der Arithmetik zu erwerben.“[9] In Lehrexperimenten, einer Verbindung von erziehungswissenschaftlichen Verfahren mit der klinischen Methode Piagets, verfolgten sie die konstruktiven Wege der Kinder. Im Zentrum stand dabei die „spontane Art und Weise, wie die Kinder die einzelnen Probleme angehen, … die Mathematik der Kinder“.[10]

Seit seiner Emeritierung 1987 war er mehrere Jahre bei Jack Lochhead Scientific Reasoning Research Institute, Physics Department, University of Massachusetts tätig. Er starb an Pankreaskrebs.[11]

Das Ernst-von-Glasersfeld-Archiv, Teil des Forschungsinstituts Brenner-Archiv an der Universität Innsbruck betreut den wissenschaftlichen Nachlass und organisiert auch die Ernst-von-Glasersfeld-Lectures. Die Nachlassverwalter sind Theo Hug und Josef Mitterer.

Auszeichnungen

Werke

  • Institut für Empirische Literatur- und Medienforschung [LUMIS] (Hrsg.): Konstruktivistische Diskurse. Siegen 1984.
  • Wissen, Sprache und Wirklichkeit. Arbeiten zum radikalen Konstruktivismus. In: Wissenschaftstheorie, Wissenschaft und Philosophie. Band 24. Vieweg, Braunschweig / Wiesbaden 1987, ISBN 3-528-08598-3 (books.google.de – autorisierte deutsche Fassung von Wolfram K. Köck).
  • Über Grenzen des Begreifens. Benteli, Bern 1996, ISBN 3-7165-1004-1.
  • Ernst von Glasersfeld: Wege des Wissens. Konstruktivistische Erkundungen durch unser Denken. 1. Auflage. Carl-Auer-Systeme, Heidelberg 1997, ISBN 3-89670-004-9 (Herausgegeben und mit einem Vorwort von Hans Rudi Fischer).
  • Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. In: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. Band 1326. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-518-28926-8 (englisch, Originaltitel: Radical Constructivism. Übersetzt von Wolfram K. Köck).
  • Willibald Dörfler, Josef Mitterer (Hrsg.): Ernst von Glasersfeld. Konstruktivismus statt Erkenntnistheorie. Drava-Verlag, Klagenfurt 1998, ISBN 3-85435-302-2.
  • mit Heinz von Foerster: Wie wir uns erfinden. Eine Autobiographie des radikalen Konstruktivismus. Hrsg.: Hans Rudi Fischer. Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2007, ISBN 978-3-89670-580-8 (Erstausgabe: 1999).
  • Unverbindliche Erinnerungen. Skizzen aus einem fernen Leben. Folio-Verlag, Wien / Bozen 2008, ISBN 978-3-85256-401-2.

Audio-CD

  • Zwischen den Sprachen. Eine persönliche Geschichte des Radikalen Konstruktivismus. Konzeption und Regie: Klaus Sander. supposé, Köln 2005, ISBN 978-3-932513-63-3.

Sekundärliteratur

  • Hugh Gash, Alexander Riegler (Hrsg.): Commemorative Issue for Ernst von Glasersfeld. Sonderausgabe von Constructivist Foundations. 6(2), 2011, S. 135–253. (online auf: univie.ac.at)

Zitate

Eine kurze Liste der Bedeutungen, die dem Wort „Wahrheit“ zugeschrieben werden:

  • Realisten möchten etwas „wahr“ nennen, wenn es mit der Realität übereinstimmt
  • Pragmatisten, wenn es sich bewährt
  • Kohärenztheoretiker, wenn es mit der umfassenden Theorie vereinbar ist
  • und Konstruktivisten sollten das Wort vermeiden, es sei denn in alltäglichen Kontexten, wo es nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als daß etwas gestern Gesagtes heute ohne wesentliche Änderung wiederholt wird[13]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Ein Nachruf auf Ernst von Glasersfeld (1917–2010) Universität Innsbruck iPoint - das Informationsportal der Universität Innsbruck
  2. Ernst von Glasersfeld: Wissen, Sprache und Wirklichkeit, Arbeiten zum radikalen Konstruktivismus. Braunschweig/ Wiesbaden 1987, S. XII.
  3. Glasersfeld, 1998, S. 26f.
  4. a b Eva Fessler: Ernst von Glasersfeld ist Ehrendoktor der Universität Innsbruck. Universität Innsbruck, 18. April 2008, abgerufen am 22. April 2011.
  5. Glasersfeld, Foerster, S. 120.
  6. Glasersfeld, 1987, S. XII
  7. Ernst von Glasersfeld: Unverbindliche Erinnerungen: Skizzen aus einem fernen Leben, Bozen, 2008
  8. Ernst von Glasersfeld: An Introduction to Radical Constructivism. In: Paul Watzlawick (Hrsg.): The Invented Reality. Norton, New York 1984, S. 17–40 (cesipc.it).
  9. Glasersfeld, 1998, S. 45.
  10. Glasersfeld, 1998, S. 47.
  11. diepresse.com
  12. Veranstaltungswebsite
  13. EvG: Rezension von: S.J. Schmidt: Der unbehagliche Blick aufs Wissen. In: Soziologische Revue. 22(3), 1999, S. 287–292.