Indogermanische Sprachen

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Die indogermanischen oder indoeuropäischen Sprachen bilden mit etwa drei Milliarden Muttersprachlern die sprecherreichste Sprachfamilie der Welt. Die Bezeichnung „indogermanisch“ kann missverständlich sein: Sie soll die Grenzen des ursprünglichen Verbreitungsgebiets abstecken – jedoch ist die Mehrzahl der indogermanischen Sprachen weder germanisch noch indisch. Zu dieser Sprachfamilie gehören zum Beispiel auch die romanischen, slawischen, baltischen und keltischen Sprachen, Griechisch, Armenisch und Persisch.

Ebenso wenig ist mit der Bezeichnungsvariante „indoeuropäisch“ gemeint, dass es sich um eine europäische Sprachfamilie handelt; ihre ältesten historischen Zeugnisse stammen von außerhalb Europas (Hethitisch und Vedisches Sanskrit). Allerdings stellt diese Sprachfamilie heute die Mehrzahl der Sprachen Europas. Außerhalb der indoeuropäischen Familie stehen in Europa hauptsächlich: Ungarisch, Finnisch und Estnisch (die zur uralischen Sprachfamilie gehören), Türkisch und weitere Turksprachen (die vom Balkan bis nach Russland vorkommen), Maltesisch (eine semitische Sprache) und Baskisch (eine isolierte Sprache), sowie daneben eine Anzahl von weiteren Regionalsprachen in Nord- und Osteuropa.

Die indogermanischen Sprachen zeigen untereinander weitreichende Übereinstimmungen beim Wortschatz, in der Flexion, in grammatischen Kategorien wie Numerus und Genus sowie im Ablaut. Als gemeinsamer Ursprung wird eine vorgeschichtliche indogermanische Ursprache angenommen, die in Grundzügen durch einen Vergleich der einzelnen Nachfolgesprachen rekonstruiert werden konnte. Die große Verbreitung dieser Sprachfamilie ist das Ergebnis von Völkerwanderungen im Laufe der Jahrtausende und zuletzt auch der europäischen Expansion seit dem 15. Jahrhundert.

Die Teildisziplin der Sprachwissenschaft, die sich mit dieser Sprachfamilie und insbesondere ihrer Entstehung beschäftigt, heißt Indogermanistik.

Bezeichnung

Die beiden gängigen Bezeichnungen sind Klammerbegriffe, die sich an der (vorkolonialen) geografischen Verbreitung der Sprachfamilie orientieren. Sie werden nach Wissen und Tradition des frühen 19. Jahrhunderts verwendet, als man vom Hethitischen und Tocharischen noch nichts wusste.

Der in der deutschsprachigen Linguistik gängige Ausdruck indogermanisch orientiert sich an den geographisch am weitesten voneinander entfernt liegenden Sprachgruppen des (vorkolonialen) Verbreitungsgebietes, den indoarischen Sprachen im Südosten (mit Singhalesisch auf Sri Lanka) und den germanischen Sprachen mit dem Isländischen im Nordwesten.[1] Diese Bezeichnung wurde als langues indo-germaniques 1810 vom dänisch-französischen Geografen Conrad Malte-Brun (1775–1826) eingeführt,[2][3] der eine Ausdehnung der Sprachfamilie vom Ganges bis zum Oceanus Germanicus (Nordsee) annahm.[4] Später wird Heinrich Julius Klaproth den Begriff „indogermanisch“ in seiner 1823 erschienenen Asia Polyglotta im deutschsprachigen Raum einbringen. Franz Bopp jedoch, der Begründer der „Indogermanistik“, spricht in seiner schon 1816 erschienenen richtungsgebenden Schrift[5] von den „indoeuropäischen“ Sprachen.

Die Wortbildungen indogermanisch und indoeuropäisch sind also nicht so zu verstehen, dass der rechts stehende Wortteil -germanisch / -europäisch das Grundwort einer Zusammensetzung darstellte und folglich alle beteiligten Völker so einordnen würde. Auch die international üblichere Bezeichnung indoeuropäisch ist nicht wesentlich präziser als indogermanisch und muss analog dazu verstanden werden als „Sprachen, die in einem Bereich von Europa bis Indien vorkommen“. Persisch, Kurdisch oder Armenisch sind Beispiele für „indoeuropäische“ Sprachen, deren Heimat weder in Europa noch in Indien liegt, dasselbe gilt für die ausgestorbenen Sprachen Hethitisch und Tocharisch.

Völlig veraltet ist die im 19. Jahrhundert auch in der britischen Linguistik verbreitete Bezeichnung arische Sprachen. In der englischsprachigen Literatur wird arisch (Aryan) allerdings weiterhin für die Untergruppe der indoiranischen Sprachen verwendet.

Gliederung der indogermanischen Sprachfamilie

Zweige des Indogermanischen

Zu den indogermanischen Sprachen gehören die folgenden Gruppen heute noch gesprochener Sprachen (hier zunächst in alphabetischer Reihenfolge, zu Fragen der Systematik siehe anschließend):

Zwei weitere wichtige Gruppen sind ausgestorben (†):

Außerdem sind folgende Sprachen lediglich in Fragmenten überliefert, deren Zugehörigkeit zur indogermanischen Sprachfamilie außer Zweifel steht, deren genauere Zuordnung zu anderen Sprachen jedoch umstritten ist:

  • Illyrisch † (möglicherweise die Vorstufe des Albanischen)
  • Lusitanisch † (möglicherweise keltisch oder mit dem Keltischen näher verwandt)
  • Makedonisch † (möglicherweise mit dem Griechischen näher verwandt)
  • Messapisch † (möglicherweise mit dem Illyrischen näher verwandt)
  • Phrygisch † (zeigt gemeinsame Entwicklungen mit dem Griechischen und Armenischen)[6]
  • Sikulisch † (möglicherweise italisch)
  • Thrakisch † (mit den Dialekten Dakisch, Getisch, Moesisch)
  • Venetisch † (möglicherweise zum Italischen gehörig)

Einige fragmentarisch überlieferte Sprachen können nicht sicher als indogermanisch identifiziert werden:

  • Elymisch † (möglicherweise zum Italischen gehörig)
  • Nordpikenisch † (möglicherweise sabellisch[7] oder griechisch[8])
  • Camunnisch † (möglicherweise keltisch[9])
  • Ligurisch † (aufgrund unzureichender sprachlicher Zeugnisse umstritten, ob vorindogermanisch, indogermanisch[10] oder möglicherweise keltisch)[11]
  • Tartessisch † (möglicherweise keltisch[12])

Zurückgehend auf Peter von Bradke (1890) werden die indogermanischen Sprachen nach dem Einzelkriterium der Entwicklung des palatalisierten /k’/ (z. B. im Zahlwort *k’mtom ‚hundert‘) in sogenannte Kentum- und Satem-Sprachen eingeteilt. Die ursprüngliche Annahme, diese Einteilung ginge auf eine Dialekt-Isoglosse der indogermanischen Ursprache zurück, hat sich mit der Entdeckung des Hethitischen und Tocharischen gegen Anfang des 20. Jahrhunderts als unhaltbar herausgestellt, wurde aber einige Jahrzehnte lang teilweise noch weiter vertreten. Als rein deskriptives Kriterium ist die Einteilung heute noch lebendig.[13]

Gruppierung in engere Verwandtschaftsverhältnisse

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Ein hypothetischer Stammbaum der indogermanischen Sprachen

Seit August Schleicher haben Sprachwissenschaftler immer wieder versucht, Sprachzweige aus obiger Liste in enger verwandte Unterfamilien zusammenzufassen, die sich historisch dann auch auf gemeinsame Zwischensprachen zurückführen lassen müssten. Durchgesetzt haben sich nur wenige: Unstreitig ist die Zusammenfassung der indoarischen und der iranischen Sprachen als indoiranische Sprachen. Weitgehend anerkannt ist auch die Baltisch-Slawische Sprachgruppe. Strittig bleiben eine nähere Verwandtschaft zwischen den italischen und den keltischen Sprachen, die Zuordnung des Venetischen zum Illyrischen oder zu den italischen Sprachen, eine thrakisch-phrygische Sprachgemeinschaft, die Abstammung des Albanischen vom Illyrischen, die Gruppe des Balkanindogermanischen (Griechisch, Armenisch, Albanisch) und vieles mehr.

Einige Forscher stellen die früh abgespaltenen anatolischen Sprachen den gesamten übrigen indogermanischen Sprachen als Primärzweig gegenüber und bezeichnen die Gesamtheit dieser Sprachen als indohethitisch. Dieser Begriff wird in der Indogermanistik heute weitgehend abgelehnt, da der anatolische Zweig trotz seiner sicherlich frühen Abspaltung als einer unter mehreren Primärzweigen des Indogermanischen – wie z. B. Germanisch, Italisch, Keltisch oder Indoiranisch – angesehen wird.

Daher wird bei der obigen Liste auf genauere Zuordnungen verzichtet, Streitfälle stehen dort als Einzelgruppen ohne Hinweise auf vermutete Verwandtschaftsverhältnisse.

Sprachfamilie

Die indogermanischen Sprachen werden als genealogisch verwandt betrachtet, d. h. als „Tochtersprachen“ einer gemeinsamen Ursprungssprache, nämlich des nicht mehr erhaltenen Urindogermanischen oder Proto-Indoeuropäischen (PIE). Dass ihre Ähnlichkeit nur durch Angleichung infolge von Sprachkontakt, also nach Art eines Sprachbundes, zustande kam, kann aufgrund der zahlreichen regelmäßigen Entsprechungen ausgeschlossen werden. Die bereits seit langem bekannte Tatsache, dass die romanischen Sprachen als Nachfolger der lateinischen bzw. der vulgärlateinischen Sprache anzusehen sind, sowie einige ähnlich gelagerte Fälle wie die aus dem Altnordischen hervorgegangenen skandinavischen Sprachen, führte zum Konzept der Sprachfamilie. Dieses wurde auch auf solche Gruppen von Sprachen übertragen, die in gleicher Art aus einer gemeinsamen Vorläufersprache hervorgegangen erschienen, ohne dass der Vorläufer durch Texte bekannt war. In solchen Fällen kann immer noch die einstige Existenz einer Vorläufersprache, zumindest hypothetisch, durch Rekonstruktion erschlossen werden. Bei der Rekonstruktion stützt man sich vor allem auf Gemeinsamkeiten der grammatischen Formen und auf verwandte Wörter (Kognaten). Eine hohe Anzahl an Kognaten weist auf eine genealogische Verwandtschaft hin, wenn der zu vergleichende Wortschatz aus dem Grundwortschatz stammt.

Die Archaismen des Urindogermanischen sind heute nur noch in wenigen der modernen Nachfolgesprachen erhalten. Dabei können Sprachen sich in einigen Eigenschaften als konservativ zeigen, in anderen aber große Veränderungen aufweisen. Meinungen, wonach eine Sprache besonders konservativ ist (z. B. oft für das Litauische vertreten), müssen sich also auf konkrete Eigenschaften beziehen und sind nicht zu verallgemeinern. Im Sinne der Stammbaumtheorie sah man früher im Altindischen die gemeinsame Urform des Indoeuropäischen; auch hier ist jedoch eher nur der Lautstand der Konsonanten nahe am ursprünglichen System, wogegen z. B. das Lateinische im Lautstand der Vokale konservativer ist.

Geschichte der Indogermanistik

Der florentinische Gelehrte und Kaufmann Filippo Sassetti, der über Konstantinopel und Teheran bis nach Indien reiste, begann sich neben seiner Handelstätigkeit auch für das Sanskrit zu interessieren. Um das Jahr 1585 bemerkte er die auffälligen Wortähnlichkeiten zwischen den indoarischen Sprachen und dem Italienischen.[14]

Bereits 1647 stellte der niederländische Linguist und Gelehrte Marcus Zuerius van Boxhorn erstmals eine grundlegende Verwandtschaft zwischen einer Reihe von europäischen und asiatischen Sprachen fest; ursprünglich bezog er in diese Verwandtschaft die germanischen sowie die „illyrisch-griechischen“ und italischen Sprachen einerseits und das Persische andererseits ein, später fügte er noch die slawischen, keltischen und baltischen Sprachen hinzu. Die gemeinsame Ursprache, von der all diese Sprachen abstammen sollten, bezeichnete van Boxhorn als Skythisch. Er konnte sich allerdings mit dieser These im 17. Jahrhundert noch nicht durchsetzen.

1786 erkannte der englische Orientalist William Jones aus Ähnlichkeiten des Sanskrit mit Griechisch und Latein, dass es für diese Sprachen eine gemeinsame Wurzel geben müsse. Er deutete zudem an, dass dies auch für Keltisch und Persisch gelten könnte.

1808 bezeichnete Friedrich Schlegel Indien als Urheimat der indoeuropäischen Völker und Sprachen. Da es sich mit der biblischen Überlieferung von der Urheimat der Menschen in Asien deckte, wurde der Gedanke schnell aufgenommen.[15]

Der Deutsche Franz Bopp erbrachte 1816 in seinem Buch Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache den methodischen Beweis für die Verwandtschaft dieser Sprachen und begründete damit die deutsche Indogermanistik. Diese indogermanische Ursprache ließ sich durch Rekonstruktion gewinnen (siehe dazu: Vergleichende Sprachwissenschaft).

Zur Erklärung, wie sich die indogermanischen Sprachen verbreiteten und dabei weiterentwickelten und differenzierten, sowie zum Problem einer einheitlichen indogermanischen Protosprache, versuchen verschiedene Theorien Modelle anzubieten. Vier bekannte Theorien sind die:

Der deutsche Linguist August Schleicher hat versucht, die Entwicklung und Verwandtschaftsstruktur der indogermanischen Sprachen in seiner berühmten Stammbaumtheorie darzustellen. In diesem Stammbaum gibt es sowohl gesicherte als auch spekulative Verzweigungen; letztere betreffen insbesondere ausgestorbene Sprachen, die keine Nachfolgesprachen hinterlassen haben. Schleicher versuchte das hypothetische Urindogermanische zu rekonstruieren, indem er sich ursprünglicher Formen verschiedener indogermanischer Sprachen bediente. Zur Veranschaulichung seiner Rekonstruktion erstellte Schleicher sogar einen hypothetischen indogermanischen Text, die indogermanische Fabel Das Schaf und die Pferde – in seiner Übersetzung: „Avis akvasasca“.

Hermann Hirt begründete die Substrattheorie und gebrauchte dabei das Bild von Sprachschichten, die sich überlagern. Eine Grundsprache, das Substrat, wäre demnach durch Sprachmischung infolge wandernder indogermanischer Ethnien modifiziert worden, sei es durch Überlagerung (Superstrat) oder Anlagerung (Adstrat) einer Kontaktsprache.

Von Hugo Schuchardt und Johannes Schmidt stammte die Wellentheorie. Sie ersetzt die Vorstellung eines Stammbaums, welcher sich aus einer indogermanischen Ursprache entwickelt haben soll, durch das Modell von Wellen in konzentrischen Kreisen, die mit zunehmender Entfernung vom Mittelpunkt immer schwächer werden. Gemäß diesem Modell haben sich die verschiedenen indogermanischen Sprachgruppierungen und Einzelsprachen aus nur relativ einheitlichen Ursprüngen ausgegliedert, und in der Folge seien durch wellenartige Verbreitung sprachlicher Neuerungen mannigfaltige Übergangsdialekte entstanden.

Es können sowohl Wortwurzeln als auch morphologische und phonologische, ja sogar (mit Einschränkungen) syntaktische Merkmale des Indogermanischen rekonstruiert werden. Eine Grundsprache im Sinne eines vollständigen Kommunikationssystems wird mit dieser Rekonstruktion jedoch nicht erreicht.

Urheimat

Ausgehend von Wortstämmen, die allen indogermanischen Sprachen gemeinsam sind, versucht die Ethnolinguistik, in Zusammenarbeit mit der Archäologie das Ursprungsgebiet der Indogermanen zu bestimmen und mit prähistorischen Völkern oder Kulturen in Verbindung zu bringen. Bei der Frage nach einer Urheimat ist allerdings immer zwischen einer hypothetischen sprachhistorischen Rekonstruktion örtlicher Einflussgrößen im Rahmen der Herausbildung der frühest fassbaren indogermanischen Wurzelwörter und demgegenüber einer Identifikation von Volk, Sprache und Raum (Kontinuitätstheorie) zu unterscheiden.

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Karte der indoeuropäischen Migration von ca. 4000 bis 1000 v. Chr. (Kurgan-Hypothese). Die Einwanderung nach Anatolien könnte entweder über den Kaukasus (nicht gezeigt) oder über den Balkan stattgefunden haben.
  • Urheimat gemäß der Kurgan-Hypothese
  • indogermanisch sprechende Völker bis 2500 v. Chr.
  • Besiedlung um 1000 v. Chr.
  • Kurgan-Hypothese

    Die Kurgan- und die eng verwandte Steppen-Hypothese sind Hypothesen, die eine Urheimat weder im Westen in Mitteleuropa, noch im Osten im indischen Raum annehmen, sondern dazwischen, in den Steppen Osteuropas. Als Urheimat gelten nach dieser Hypothese im Wesentlichen die Steppen-Gegenden nördlich des Schwarzen Meeres bis im Osten hin zum Kaspischen Meer, in denen die Kurgankultur verbreitet war.

    Sprachwissenschaftler (z. B. J.P. Mallory (1989),[16] A. Parpola (2008),[17] R.S.P. Beekes (2011)[18]) neigen überwiegend zur Steppen-These,[19] die auch von archäologischen Befunden gestützt wird.[20]

    Anatolien-Hypothese

    Die Anatolien-Hypothese (Anatolien ist ein modernes Exonym für den Begriff Armenisches Hochland) postuliert den Kulturtransfer, vor allem für Sprachen, Ackerbau und Viehzucht nach Europa durch Einwanderung aus Anatolien. Im engeren Sinne wird darunter die Ausbreitung einer indogermanischen Ursprache vom armenischen Hochland her nach Europa durch und mit der jungsteinzeitlichen Revolution gesehen. Der britische Archäologe C. Renfrew (1987)[21] gilt als Schöpfer der Anatolien-Hypothese, nach der die Urheimat in Anatolien liegt.

    Renfrew (2003) geht von einer graduellen Einwanderung der indoeuropäischen Sprachen aus, auch „Indo-hethitisches Modell“ genannt.[22] Die modifizierte Hypothese integriert vor allem neueste Erkenntnisse zur Genetik europäischer Populationen (Ausbreitung von Haplogruppen);

    1. ab 6500 v. Chr. sei die neolithische Expansion aus Anatolien über die Balkanhalbinsel (Starčevo-Kultur, Körös-Cris-Kultur) bis zur mitteleuropäischen Bandkeramik erfolgt;[23]
    2. gegen 5000 v. Chr. sei mit der Ausbreitung kupferzeitlicher Kulturen eine Dreiteilung indogermanischer Sprachen auf dem Balkan erfolgt, mit Aufspaltung in einen nordwesteuropäischen Zweig (Donauraum) und einen östlichen Steppenzweig (Vorfahren der Tocharer).
    3. erst nach 3000 v. Chr. sei die Aufspaltung der Sprachfamilien vom Proto-Indogermanischen (Griechisch, Armenisch, Albanisch, Indo-Iranisch, Baltisch-Slawisch) erfolgt.

    Keine der Herkunfts-Hypothesen hat bisher allgemeine Akzeptanz gefunden. Einen Überblick über die Diskussion bietet z. B. der Mallory-Schüler John Day.[24]

    Kaukasus-Iran-Hypothese

    Die Transkaukasien-Hypothese geht auf die Linguisten T. Gamqrelidse und W. Iwanow (1984) zurück.[25]

    Diese These steht in starkem Zusammenhang mit der Anatolien-Hypothese, baut aber auf linguistischen sowie genetischen Daten aus den Jahren 2018 und 2019 auf. Analysen zur Ausbreitung der Indogermanischen Sprachen weisen auf eine Urheimat im südlichen Kaukasus und dem nördlichen Iran hin.[26][27]

    Eine genetische Studie (Wang, Reich et al., 2018) unterstützt diese These. Den Wissenschaftlern zufolge stimmt die DNA der frühen Indogermanen mit den Bewohnern des südlichen Kaukasus und des nördlichen Irans überein. Ihnen zufolge wanderten diese Ur-Indogermanen einerseits nach Anatolien und andererseits Richtung Norden in die südlichen Steppenregionen, in denen später die Yamna-Kultur entstand.[28]

    Weitere Hypothesen

    Einige Hypothesen sind erheblich vom Nationalismus geprägt oder wurden von einer Ideologie vereinnahmt (z. B. im Nationalsozialismus). Dies gilt z. B. auch für viele indische Wissenschaftler, die im Rahmen der Out-of-India-Theorie die indogermanische Urheimat in Indien selbst verorten und damit gleichzeitig die Trägerschaft z. B. der Harappa-Kultur den Indoariern bzw. ihren urindoiranisch- oder gar urindogermanischsprachigen Vorläufern zusprechen. Andere extreme Annahmen sehen die Urheimat z. B. in Südosteuropa oder ostwärts des Urals bis zum Altaigebirge.

    Zu diesen gehört die Hypothese, die den Ursprung der Indogermanische Sprachen in Nordindien und Pakistan sieht, die jedoch nur von Wissenschaftlern aus dem dortigen Raum vertreten wird und die Hypothese, dass der Ursprung in Mittel- oder Nordeuropa, im Bereich der germanischen Sprachen lag, die vor allem von Wissenschaftlern vertreten wurde, die dem Nationalsozialismus nahe standen.

    Ausbreitung der indogermanischen Sprachen

    Die Karten veranschaulichen geografisch eine der oben beschriebenen Ausbreitungshypothesen bis ca. 500 n. Chr.

    Indogermanisch und andere Sprachfamilien

    Über Außenbeziehungen des Indogermanischen gibt es zahlreiche Hypothesen. Zu den im Folgenden angeführten Sprachfamilien werden in der wissenschaftlichen Literatur engere Beziehungen aufgezeigt (siehe dazu auch den Abschnitt Literatur).

    • zum Uralischen. Diese dürften besonders auf Kontakt mit dem östlichen Indogermanischen beruhen und liegen im Bereich des Wortschatzes (z. B. beim Pronominalsystem[29]) oder der Morphologie.
    • zum Kartwelischen. Die beiden Sprachen weisen Übereinstimmungen im morphonologischen System auf.
    • zum Semitischen. Obwohl bei einer Urheimat des Indogermanischen nördlich des Kaukasus keine besonderen Beziehungen zu erwarten wären, sind solche aufgezeigt worden, die gar an eine Urverwandtschaft der beiden Sprachen denken lassen.

    Einige, vor allem sowjetische Wissenschaftler haben versucht, Belege für eine sogenannte nostratische Sprachfamilie zu finden, zu der neben den indogermanischen auch die afroasiatischen Sprachen (früher hamitosemitischen Sprachen) und die als genealogische Einheit selbst umstrittenen altaischen Sprachen gehören sollen. Die mutmaßlichen Belege werden derzeit überwiegend als nicht ausreichend angesehen.

    Der US-amerikanische Linguist Joseph Greenberg hat, aufgrund lexikalischer und grammatischer Gemeinsamkeiten, eine eurasiatische Makro-Sprachfamilie vorgeschlagen. Sie umfasst insbesondere die drei relativ umfangreichen indogermanischen, uralischen und altaischen Sprachfamilien sowie einige Kleinfamilien und Einzelsprachen Eurasiens, jedoch ausdrücklich nicht Afroasiatisch. Diese Makro-Sprachfamilie deckt sich somit teilweise mit dem Nostratischen, wobei auch grundlegendere Gemeinsamkeiten beiderseitig (Greenberg, Bomhard) festgestellt wurden. Bisher ist eine Entscheidung über die Gültigkeit der eurasiatischen Hypothese ebenfalls nicht möglich.

    Literatur

    Allgemeines, wissenschaftliche Publikationen

    Grundlagen und Lehrbücher

    • Robert S.P. Beekes: Vergelijkende taalwetenschap. Een inleiding in de vergelijkende Indo-europese taalwetenschap. Het Spectrum, Amsterdam 1990. (niederländisch)
      • englisch: Comparative Indo-European Linguistics. An Introduction. 2. Auflage. Übersetzt von UvA Vertalers / Paul Gabriner. John Benjamins, Amsterdam / Philadelphia 2011 (1. Auflage 1995), ISBN 1-55619-505-2
    • Warren Cowgill: Indogermanische Grammatik. Band I: Einleitung; Band II: Lautlehre. Begr. v. Jerzy Kuryłowicz, Hrsg.: Manfred Mayrhofer. Indogermanische Bibliothek, Reihe 1, Lehr- und Handbücher. Winter, Heidelberg 1986
    • Benjamin W. Fortson IV: Indo-European Language and Culture. An Introduction. 2. Auflage. Wiley-Blackwell, Malden, MA / Chichester 2010 (1. Auflage 2004), ISBN 978-1-4051-8896-8
    • Matthias Fritz, Michael Meier-Brügger: Indogermanische Sprachwissenschaft. Walter de Gruyter, Berlin 2021 (10., völlig neu bearbeitete Auflage), ISBN 978-3-11-059832-2
    • Oswald Szemerényi: Einführung in die vergleichende Sprachwissenschaft. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990 (4. Aufl.), ISBN 3-534-04216-6
    • Eva Tichy: Indogermanistisches Grundwissen. Hempen, Bremen 2000, ISBN 3-934106-14-5

    Historische Werke

    • Berthold Delbrück: Einleitung in das Studium der indogermanischen Sprachen. Ein Beitrag zur Geschichte und Methodik der vergleichenden Sprachforschung. Bibliothek indogermanischer Grammatiken. Band 4. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1919 (6. Auflage).
    • August Schleicher: Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen. Böhlau, Weimar 1861/62, Olms, Hildesheim 1974 (Nachdr.), ISBN 3-487-05382-9.

    Beziehungen zu anderen Sprachfamilien

    Uralisch

    • Hermann Jacobsohn: Arier und Ugrofinnen. Göttingen 1922.
    • Björn Collinder: Indo-uralisches Sprachgut. In: Uppsala Universitets Årsskrift 1934. Filosofi, Språkvetenskap och historiska vetenskaper I, S. 1–116. Uppsala 1934.
    • Hans Jensen: Indogermanisch und Uralisch. In: Helmut Arntz (Hrsg.): Germanen und Indogermanen, 2. Band, S. 171–181. Heidelberg 1936.
    • Aulis Joki: Uralier und Indogermanen. Die älteren Berührungen zwischen den uralischen und indogermanischen Sprachen. (= Suomalais-ugrilaisen seuran toimituksia, 151) Helsinki 1973.
    • Károly Rédei: Zu den indogermanisch-uralischen Sprachkontakten. Wien 1986.

    Kartwelisch

    • Thomas V. Gamkrelidze: Kartvelian and Indo-European. A Typological Comparison of Reconstructed Linguistic Systems. In: Bulletin of the Georgian National Academy of Sciences, Band 2, Nr. 2, 2008, S. 154–160.
    • Thomas V. Gamkrelidze, Givi I. Mačavariani: Sonantensystem und Ablaut in den Kartwelsprachen. Tübingen 1982.

    Semitisch/Afroasiatisch

    • Allan R. Bomhard: The ‘Indo-European-Semitic’ Hypothesis Re-examined. In: The Journal of Indo-European Studies, Band 5, Nr. 1 (spring 1977), S. 55–99.
    • Albert Schott: Indogermanisch-Semitisch-Sumerisch. In: Helmut Arntz (Hrsg.): Germanen und Indogermanen, Band 2, S. 45–95. Heidelberg 1936.
    • Hermann Möller: Semitisch und Indogermanisch. 1. Teil: Konsonanten. Kopenhagen 1906.
    • Hermann Möller: Indogermanisch-Semitisches Wörterbuch. 1911.

    Nostratisch

    Archäologie und Urheimat

    • David W. Anthony: The Horse, the Wheel and Language. How Bronze-Age Riders from the Eurasian Steppes Shaped the Modern World. Princeton University Press, Princeton, NJ 2007, ISBN 978-0-691-14818-2.
    • David W. Anthony / Don Ringe: „The Indo-European Homeland from Linguistic and Archaeological Perspectives“. In: Annual Review of Linguistics. Heft 1, 2015, S. 199–219 (annualreviews.org).
    • Linus Brunner: Die gemeinsamen Wurzeln des semitischen und indogermanischen Wortschatzes – Versuch einer Etymologie. Francke, Bern, München 1969.
    • Luigi Luca Cavalli-Sforza: Gene, Völker und Sprachen. Die biologischen Grundlagen unserer Zivilisation. dtv, München 2001, ISBN 3-423-33061-9
    • Thomas W. Gamkrelidse / Wjatscheslaw Iwanow: Die Frühgeschichte der indoeuropäischen Sprachen. In: Spektrum der Wissenschaft. Dossier. Die Evolution der Sprachen. Spektrumverlag, Heidelberg 2000,1, S. 50–57. ISSN 0947-7934
    • Marija Gimbutas: The Kurgan Culture and the Indo-Europeanization of Europe. Selected Articles from 1952 to 1993. Institute for the Study of Man, Washington 1997, ISBN 0-941694-56-9
    • Marija Gimbutas: Das Ende Alteuropas. Der Einfall von Steppennomaden aus Südrussland und die Indogermanisierung Mitteleuropas. In: Archeolingua. series minor 6. jointly ed. by the Archaeological Institute of Hungarian Academy of Sciences and the Linguistic Institute of the University of Innsbruck. Archaeolingua Alapítvány, Budapest 1994 (auch als Buch). ISSN 1216-6847 ISBN 3-85124-171-1
    • James P. Mallory: In Search of the Indo-Europeans. Language, Archaeology and Myth. Thames & Hudson, London 1989, ISBN 0-500-27616-1
    • James P. Mallory / D. Q. Adams (Hrsg.): Encyclopedia of Indo-European Culture. Fitzroy Dearborn, London 1997, ISBN 1-884964-98-2
    • Georges-Jean Pinault: La langue poétique indo-européenne – actes du colloque de travail de la Société des Études Indo-Européennes. Leuven, Peeters, 2006, ISBN 90-429-1781-4
    • Colin Renfrew: Archaeology and Language. The Puzzle of Indo-European Origins. 2. Auflage. University Press, Cambridge 1995 (1. Aufl. 1987), ISBN 0-521-38675-6
    • Colin Renfrew: Die Indoeuropäer – aus archäologischer Sicht. In: Spektrum der Wissenschaft. Dossier. Die Evolution der Sprachen. Spektrumverlag, Heidelberg 2000,1, S. 40–48. ISSN 0947-7934
    • Elmar Seebold: Versuch über die Herkunft der indogermanischen Verbalendungssysteme. In: Zeitschrift für vgl. Sprachforschung 85-2 (1971), 185-210.
    • Jürgen E. Walkowitz: Die Sprache der ersten europäischen Bauern und die Archäologie In: Varia neolithica III, 2004, ISBN 3-937517-03-0

    Populäre Darstellungen

    • Elisabeth Hamel: Das Werden der Völker in Europa, Forschungen aus Archäologie, Sprachwissenschaft und Genetik. Tenea Verlag Ltd., Berlin 2007, ISBN 978-3-86504-126-5
    • Milan Machovec: Heimat Indoeuropa: Das Leben unserer Vorfahren aufgrund eines Vergleichs einzelner Sprachen. Verlagsatelier Wagner, Linz 2002, ISBN 3-9500891-9-5
    • Reinhard Schmoeckel: Die Indoeuropäer. Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 1999, ISBN 3-404-64162-0. Das Werk findet sich nur in drei deutschen Uni-Bibliotheken.
    • Harald Wiese: Eine Zeitreise zu den Ursprüngen unserer Sprache. Wie die Indogermanistik unsere Wörter erklärt, Logos Verlag, Berlin 2010, 2. Auflage, ISBN 978-3-8325-1601-7.

    Weblinks

    Einzelnachweise

    1. Rudolf Wachter: Indogermanisch oder Indoeuropäisch? Universität Basel, 25. August 1997, abgerufen am 13. Juni 2020.
    2. Conrad Malte-Brun: Précis de la Géographie universelle. Band 1: Ou description de toutes les parties du monde, sur un plan nouveau, d’apres les grandes divisions naturelles du globe …, F. Buisson, Paris 1810, S. 577.
    3. Michael Meier-Brügger, Indogermanische Sprachwissenschaft. 8. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2002, E 301.
    4. Paul Heggarty: Wer waren die Ur-Indoeuropäer. In: Die Geschichte der Migration. Spektrum der Wissenschaft Spezial: Archäologie, Geschichte, Kultur. Nr. 4.18. Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft, 2018, ISSN 0170-2971, S. 42 (online).
    5. Franz Bopp: Vergleichende Grammatik. Band 1. 1. Auflage. Dümmler, Berlin, S. 1199 (Google Books): in dem indo-europäischen Sprachstamm. 2. Auflage. Dümmler, Berlin 1857, S. XXIV (Google Books).
    6. Benjamin W. Fortson: Indo-European Language and Culture: An Introduction. 2. Auflage. Blackwell Publishing, Malden, Oxford, Victoria 2010, ISBN 978-1-4051-8895-1, S. 461 f. (englisch).
    7. John Harkness: The Novilara Stele Revisited. In Journal of Indo-European Studies, vol. 39, no. 1+2, spring/summer 2011, S. 13–32.
    8. rossellamartiniopere.simplesite.com
    9. Thomas Markey: Shared Symbolics, Genre Diffusion, Token Perception and Late Literacy in North-Western Europe NOWELE
    10. Henri d’Arbois de Jubainville: Les premiers habitants de l’Europe, d’après les écrivains de l’antiquité. 2. Band, S. 3–215. Paris 1894
    11. Hans Krahe: Ligurisch und Indogermanisch. In Helmut Arntz: Germanen und Indogermanen. 2. Band, S. 241–255. Heidelberg 1936; Ligurian language.
    12. John T. Koch: Tartessian. Celtic in the South-West at the Dawn of History. Celtic Studies Publications, Aberystwyth 2009, ISBN 978-1-891271-17-5.
    13. z. B. in Benjamin W. Fortson: Indo-European Language and Culture: An Introduction. Blackwell Publishing, Malden, Oxford, Victoria 2004, ISBN 978-1-4051-0316-9 (englisch).
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