Kentum- und Satemsprachen
Nach einem heute veralteten Modell lassen sich die Zweige der indogermanischen Sprachfamilie in zwei Gruppen einteilen: Kentumsprachen und Satemsprachen. Diese Unterscheidung beruht auf der Entwicklung der ursprünglichen palatalen Gaumenlaute (Tektale) *k̑, *g̑ und *g̑ʰ.
- In den Kentumsprachen verloren diese Laute ihren palatalen Charakter und fielen dadurch mit den velaren Gaumenlauten *k, *g und *gʰ zusammen. Die Labiovelare *kʷ, *gʷ und *gʷʰ blieben dagegen erhalten.
- In den Satemsprachen wurden die ererbten palatalen Gaumenlaute dagegen palatalisiert, d. h. regelhaft zu verschiedenen stimmlosen oder stimmhaften Sibilanten oder Affrikaten weiterentwickelt. Die velaren und labiovelaren Gaumenlaute fielen durch Aufgabe der Lippenrundung zu einer Lautreihe zusammen.
Die Bezeichnungen Kentumsprachen und Satemsprachen sind aus zwei Wörtern für „hundert“ abgeleitet, nämlich lateinisch centum und jungavestisch satəm.
August Schleicher, Franz Bopp und andere vertraten ursprünglich die Auffassung, die Kentumsprachen seien der westliche Zweig der indogermanischen Sprachen und die Satemsprachen der östliche Zweig. Man vermutete, dass die Aufteilung auf eine frühe Verzweigung gemäß der Stammbaumtheorie zurückgehe. Diese Auffassungen sind inzwischen relativiert worden und haben als Theorie nur noch historische Bedeutung.
Lautverschiebungen in den Kentum- und Satemsprachen
Die Differenzierung aufgrund der Lautverschiebungen zeigt die Entwicklung von drei Isoglossen innerhalb der indogermanische Sprachfamilie anhand der dorsalen Konsonanten auf.[1] Für die indogermanische Ursprache wurden tektale Plosive rekonstruiert, die an drei Artikulationsorten im Bereich des Gaumendachs gebildet werden: Palatale werden am vorderen (harten) Gaumen und Velare am hinteren (weichen) Gaumen artikuliert; Labiovelare werden wie Velare artikuliert, aber mit gleichzeitiger Lippenrundung.[2]
palatal | velar | labiovelar | |
---|---|---|---|
Stimmlose Plosive | k̑ | k | kʷ |
Stimmhafte Plosive | g̑ | g | gʷ |
Aspirierte stimmhafte Plosive | g̑ʰ | gʰ | gʷʰ |
Die Fortsetzungen in den indogermanischen Sprachzweigen lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen:
- Bei den Kentumsprachen fielen die Palatale mit den Velaren zusammen (*k, *k̑ → *k), während die Labiovelare erhalten blieben. So wurde im Latein *k̑m̥tóm zu centum (lat. <c> wird als /k/ ausgesprochen). Weitere Kentumsprachen sind das Griechische, die germanischen Sprachen, die keltischen Sprachen, das Hethitische und das Tocharische.
- In den Satemsprachen fielen dagegen labiovelare und velare Plosive zusammen (*k, *kʷ → *k) und das palatale *k̑ wurde allmählich zu einem Zischlaut /s/ bzw. /ʃ/. Dieser Lautwandel trat z. B. bei den indoiranischen Sprachen auf, zu denen Sanskrit, Persisch und Avestisch gehören. Im Avestischen wurde *k̑m̥tóm zu satəm. Auch in den frühen slawischen und baltischen Sprachen sowie im Albanischen gab es diesen Vorgang. – Einige Nachfolgesprachen des Lateinischen entwickelten sich später ähnlich; so heißt das lateinische centum im Spanischen heute cien /θien/, im Französischen cent /sɑ̃/ und im Italienischen cento /'tʃɛnto/.
Die Kentum-/Satem-Unterscheidung lässt sich wie folgt zusammenfassen (am Beispiel der stimmlosen Plosive):
palatal | velar | labiovelar | |
---|---|---|---|
Protoindoeuropäisch | k̑ | k | kʷ |
Kentumsprachen | k | kʷ | |
Satemsprachen | k̑ | k |
Relevanz der Einteilung
Vor hundert Jahren nahm man an, dass sich das Indogermanische zuerst in zwei Sprachen geteilt habe: eine Kentumsprache im Westen und eine Satemsprache im Osten. Alle damals bekannten westlichen indogermanischen Sprachen schienen Kentumsprachen und alle östlichen Satemsprachen zu sein.
Doch nicht erst die Entdeckung des „kentumsprachlichen“ Hethitischen und noch mehr des Tocharischen, das im Gebiet des heutigen China entdeckt wurde, widersprechen dieser Annahme. So steht zum Beispiel auch das satemsprachliche Armenisch dem kentumsprachlichen Griechisch am nächsten. Auch innerhalb des anatolischen Zweiges gibt es mit dem Hethitischen zwar eine Kentumsprache, doch zeigen z. B. das Luwische[3] und das Lykische[4] eine Satementwicklung der Palatale und keinen Zusammenfall der drei tektalen Verschlusslautreihen. Zudem erfolgte die Satemisierung erst zu einer Zeit, als sich die Einzelsprachen bereits herausgebildet hatten. Daher ist dieser Lautwandel für die Frage nach der Aufgliederung nicht relevant.[5][6][7] Die tatsächlichen Verhältnisse sind viel komplexer. Beispielsweise werden in einem vereinfachenden Stammbaum-Modell die Sprachkontakte nicht berücksichtigt. Sie sind jedoch für eine korrekte Rekonstruktion der Entwicklung unverzichtbar (vgl. die Grafik rechts).
In nichtwissenschaftlichen Kreisen wird der auffällige Unterschied zwischen Kentum- und Satemsprachen immer noch fälschlich für eine genealogische Unterteilung der indogermanischen Sprachen herangezogen.[8][9]
Siehe auch
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ J.P. Mallory; D.Q. Adams (Hrsg.): The Encyclopedia of Indo-European Culture 1997, S. 461.
- ↑ Hans Krahe: Einleitung in das vergleichende Sprachstudium. Institut für vergleichende Sprachwissenschaften der Universität Innsbruck 1970, ISBN 3-85124-500-8, S. 43 (Online, PDF)
- ↑ Michael Meier-Brügger: Indogermanische Sprachwissenschaft. 8., überarbeitete und ergänzte Auflage. Walter de Gruyter, Berlin / New York 2002, S. 130, 134.
- ↑ Ignacio-Javier Adiego: Greek and Lycian. In: Anastasios-Phoibos Christidis (Hrsg.): A History of Ancient Greek. From the Beginnings to Late Antiquity. Cambridge University Press, Cambridge 2007, ISBN 978-0-521-83307-3, S. 766–767.
- ↑ Johann Tischler: Hundert Jahre kentum-satem-Theorie. Indogermanische Forschungen (1990)95: 63–98
- ↑ Michael Meier-Brügger (2010:L339), Indogermanische Sprachwissenschaft. Berlin: De Gruyter
- ↑ Wolfram Euler und Konrad Badenheuer, Sprache und Herkunft der Germanen. Verlag Inspirations Un Limited, Frankfurt 2009: 36
- ↑ Wolfram Euler und Konrad Badenheuer, Sprache und Herkunft der Germanen. Verlag Inspirations Un Limited, Frankfurt 2009: 29,36
- ↑ J.P. Mallory; D.Q.Adams (Hrsg.): "Proto-Indo-European". Encyclopedia of Indo-European Culture. London, Chicago: Fitzroy Dearborn Publishers, 1997, ISBN 1-884964-98-2, S. 461.