Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie beschäftigt sich mit der Vorbeugung, Diagnostik und Behandlung von psychischen, psychosomatischen und neurologischen Störungen, die in der Kindheit oder Adoleszenz auftreten. Sie hat sich aus der allgemeinen Psychiatrie entwickelt und ist heute ein eigenständiges medizinisches Fachgebiet. In Deutschland lautet die offizielle Gebietsbezeichnung seit 1993 Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie.
Geschichte
Das Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie begann sich kurz vor 1900 zu etablieren. So hatte Hermann Emminghaus 1887 das erste kinderpsychiatrische Lehrbuch veröffentlicht.[1] Die erste klinische Einrichtung für Kinderpsychiatrie in Deutschland wurde 1926 in Bonn begründet und von Otto Löwenstein geleitet. Sie war wohl auch die erste dieser Art von Einrichtungen weltweit.[2] Als Nestor der Kinder- und Jugendpsychiatrie galt bis in die 1980er Jahre Hermann Stutte.[3]
Beschreibung
Typische Diagnosen der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind im Kapitel zu psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters des ICD-10 aufgeführt (siehe F90-F98, Kapitel V). Die Diagnostik erfasst aber darüber hinaus die Gesamtheit der psychosozialen Bezüge eines Kindes oder Jugendlichen. Die ganzheitliche Betrachtung orientiert sich an den wissenschaftlichen Standards des Fachgebietes und ist Grundlage für alle kinder- und jugendpsychiatrische Therapiemaßnahmen (Psychotherapie, Pharmakotherapie etc.).
In folgenden Situationen kann eine Diagnostik und Therapie durch einen Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie angezeigt sein:[4]
- Psychische Probleme nach akuten Belastungen oder nach traumatisierenden Ereignissen (Misshandlung und sexuelle Ausbeutung, familiäre Konflikte);
- Probleme mit Aufmerksamkeit und Impulsivität (z. B. ADHS),
- Umschriebene Entwicklungsstörungen (Teilleistungsstörungen), massivste Schulprobleme,
- Entwicklungsauffälligkeiten in der Motorik, Sprache, auch im Zusammenhang mit Hirnfunktionsstörungen und anderen neurologischen Entwicklungsauffälligkeiten;
- Probleme der Sauberkeitserziehung,
- Emotionale Störungen (z. B. extreme Ängste und Stimmungsschwankungen),
- Essstörungen (wie Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Adipositas),
- Psychosomatische Beschwerden und reaktive seelische Probleme bei chronischen Erkrankungen,
- Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (z. B. Autismus-Spektrum-Störungen),
- Erkrankungen aus dem Formenkreis der Psychosen,
- Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung,
- Aggressives oder aufsässiges, trotziges Verhalten im Sinne einer Störung des Sozialverhaltens,
- Auffälligkeiten in der sexuellen Entwicklung, Probleme mit der eigenen Sexualität,
- Suchtprobleme (z. B. Drogenabhängigkeit, aber auch Kaufsucht oder Computerspielabhängigkeit),
- Tic-Störungen oder Tourette-Syndrom,
- Epilepsien,
- Hilfe bei Sorgerechts- und Umgangsregelungen, bei Fremdunterbringung und bei gerichtlichen Fragestellungen.
Facharztausbildung
Kinder- und Jugendpsychiater sind in der Regel entweder niedergelassen oder in einem Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst (kurz KJPD) tätig, darüber hinaus natürlich in einschlägigen Kliniken und Universitäten.
Um nach einem absolvierten Medizinstudium in Deutschland als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie tätig zu werden, bedarf es einer fünfjährigen Weiterbildungszeit:[5]
- 4 Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie -psychotherapie, davon 2 Jahre Stationsdienst und
- 1 Jahr Pädiatrie oder Psychiatrie und Psychotherapie (anrechenbar sind auch Zeiträume aus Kliniken für psychosomatische Medizin oder Neurologie, siehe Regelungen der Ärztekammer des jeweiligen Bundeslandes).
Die Weiterbildung erfolgt nach einem festgelegten Pensum aus dem Muster-Logbuch der Bundesärztekammer, daraus sind die gültigen Logbücher der einzelnen Bundesländer abgeleitet. Die Bezeichnung wurde 1993 im Zuge der neuen Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer eingeführt und löste den 1968 eingeführten Titel „Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie“ ab.
Nach der Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer (Stand 2021), die mittlerweile von den meisten lokalen Ärztekammern umgesetzt wurde, entfällt das verpflichtende Fremdjahr in einem bestimmten Fach. Vielmehr können auf die fünfjährige Weiterbildungszeit nun 12 Monate Weiterbildung in jedwedem Fachgebiet zum Kompetenzerwerb angerechnet werden.[6] Die genauen Bestimmungen legt die jeweilige Ärztekammer fest.
Statistiken
- 2010 waren in Deutschland ca. 1600 Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie berufstätig, von denen ca. 750 niedergelassen waren.[7]
- Bei der Versorgung mit niedergelassenen Fachärzten und Therapeuten für Kinder-/Jugendpsychiatrie und -psychotherapie gibt es große regionale Unterschiede. Im Bundesdurchschnitt kommen auf 100.000 Personen bis 18 Jahre etwa 29 Spezialisten für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Mehr als 70 % aller deutschen Kreise und kreisfreien Städte liegen jedoch unter diesem Durchschnittswert. In 15 Kreisen hat sogar kein einziger Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut oder -psychiater seinen Praxissitz. Der bundesweite Durchschnittswert wird stark durch eine kleine Zahl von Städten mit deutlich höherem Versorgungsangebot – in der Spitze bis zu etwa 150 Spezialisten pro 100.000 Kinder und Jugendliche – bestimmt.[8]
Literatur
Geschichte
- Annette Waibel: Prof. Dr. Otto Löwenstein und die Gründerjahre der Provinzialkinderanstalt für seelisch Abnorme in Bonn 1926–1933. Dissertation. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn, Bonn 1998.
- Rolf Castell, Jan Nedoschill, Madeleine Rupps, Dagmar Bussiek: Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland in den Jahren 1937 bis 1961. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003, ISBN 3-525-46174-7.
- Gerhardt Nissen: Kulturgeschichte seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Klett-Cotta, Stuttgart 2005, ISBN 3-608-94104-5.
- Gerhardt Nissen (Hrsg.): Psychiatrie des Schulalters. Neuroanatomische, psychopathologische, anthropologische, heilpädagogische, zerebralorganische, psychodynamische und psychopharmakologische Aspekte. [in memoriam Prof. Dr. Otto Schrappe (1924–1983)]. Bern 1984.
- Gerhardt Nissen, unter Mitarbeit von Francisco Alonso-Fernandez (Hrsg.): Psychiatrie des Pubertätsalters. Endokrinologische, anthropologische, jugendpsychiatrische, psychosexuelle, psychodynamische, lernpsychologische, psychopathologische und psychopharmakologische Aspekte. Bern 1985.
- Gerhardt Nissen (Hrsg.): Psychiatrie des Jugendalters. Endomorphe, anthropologische, neurochemische, hirnorganische, psychodynamische, familientherapeutische, psychopathologische und psychopharmakologische Aspekte. Bern 1986.
- Gerhardt Nissen, unter Mitarbeit von Francisco Alonso-Fernandez: (Hrsg.): Somatogene Psychosyndrome und ihre Therapie im Kindes- und Jugendalter. Medizinhistorische, neurologische, neurophysiologische, neuropsychologische, psychologische, neurochirurgische, endokrinologische, psychiatrische, prognostische und therapeutische Aspekte. Bern 1990.
Lehrbücher
- Helmut Remschmidt (Hrsg.): Kinder- und Jugendpsychiatrie. Eine praktische Einführung. 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Thieme Verlag, Stuttgart u. a. 2000, ISBN 3-13-576603-9.
- Helmut Remschmidt, Martin Schmidt, Fritz Poustka (Hrsg.): Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO. Mit einem synoptischen Vergleich von ICD-10 mit DSM-IV. 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Huber, Bern u. a. 2001, ISBN 3-456-83516-7.
- Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. u. a. (Hrsg.). Redaktion: A Warnke, G Lehmkuhl. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Deutschland. Die Versorgung von psychisch kranken Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. 4. Auflage. Schattauer, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-7945-2685-7.
Siehe auch
Weblinks
- Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
- Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland
Einzelnachweise
- ↑ Helmut Siefert: Kinder- und Jugendpsychiatrie. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 739, hier: S. 739 f.
- ↑ LVR-Klinik BN-Geschichte (Memento vom 22. November 2015 im Internet Archive)
- ↑ Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. S. Fischer, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-10-039310-4, S. 113–115.
- ↑ Martin Fuchs, Andreas Karwautz: Epidemiologie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. In: Neuropsychiatrie. Band 31, Nr. 3, 2017, S. 96–102, doi:10.1007/s40211-017-0238-x (link.springer.com [PDF]).
- ↑ Bundesärztekammer (Arbeitsgemeinschaft der deutschen Ärztekammern): (Muster-)Weiterbildungsordnung 2003. (PDF) S. 97, abgerufen am 3. Januar 2018 (in der Fassung vom 23. Oktober 2015).
- ↑ (Muster-)Weiterbildungsordnung. Abgerufen am 29. August 2021 (deutsch).
- ↑ Ärztestatistik. Bundesärztekammer, 2018, abgerufen am 9. Mai 2020.
- ↑ Faktencheck Gesundheit. Regionale Unterschiede in der Gesundheitsversorgung. Bertelsmann Stiftung, 2011.