Chinesisches Orakel
In China haben Orakel eine jahrtausendealte Tradition.
Formen
Tierknochen-Orakel (auch Skapulamantie)
Am ältesten ist das Orakel mit im Feuer erhitzten Tierknochen, das insbesondere während der in die Bronzezeit fallenden Shang-Dynastie häufig zur Entscheidungsfindung genutzt wurde.[1] Hierbei wurden Schulterblätter von Rindern, Schweinen oder Schafen, häufig auch Brustpanzer von Schildkröten verwendet.[2][3] Die Orakelbefragung selbst lag in der Hand von Priestern, die Interpretation dagegen oblag dem König.[4] Von diesen Orakeln erhoffte man sich Aufschluss über den Erfolg bevorstehender Feldzüge, die Entwicklung des Wetters und der Ernte oder auch den Fortgang der Dynastie. Andererseits holten sich dich Shang-Herrscher vom Orakel aber auch Ratschläge beispielsweise für die Ernennung von Amtsträgern, den Bau von Städten sowie politische Entscheidungen aller Art.[1] Üblich waren schließlich auch Anfragen an die Ahnen.
Die Knochen wurden vor Verwendung mit hineingebohrten Löchern speziell präpariert. Anschließend wurden komplementäre Prophezeiungen auf den Knochen oder den Schildkrötenpanzer geschrieben: „Der König (Wu Ding) sollte sich Wang Cheng anschließen, um Xiawei anzugreifen“ – „Der König sollte sich nicht Wang Cheng anschließen, um Xiawei anzugreifen“. Durch Einführen eines erhitzten Metallstabes in die Löcher wurden Risse erzeugt, die dann vom König interpretiert wurden. Die Schlussfolgerung des Königs sowie das später tatsächlich eingetretene Resultat (Erfolg oder Fehlschlag des Feldzugs) wurden auf dem Knochen notiert und dieser dann archiviert.[4]
Bis heute wurden mehr als 100.000 Orakelknochen gefunden.[3] Die Orakelinschriften haben einen erheblichen Beitrag zur Erforschung der frühen Formen der chinesischen Schrift geleistet.
Schafgarbenorakel
Gegen 1000 v. Chr. setzte sich daneben das sog. Schafgarbenorakel (筮 shì, mit Schafgarbe, 蓍草 shīcǎo, orakeln) durch[5][6]. Hierbei wurden aus einem Bündel von getrockneten Stängeln der Schafgarbe (heute auch dünne Stäbchen aus Holz, Metall oder Elfenbein) in einem komplizierten Verfahren fünfzig herausgezogen und nach einem bestimmten System so ausgelegt, dass Tri- bzw. Hexagramme aus durchgezogenen bzw. unterbrochenen Linien entstanden. Dem Schafgarbenorakel liegt eine komplizierte Numerologie zugrunde.
Aus dem Schafgarbenorakel hat sich die Weissagungstechnik des I Ging (Buch der Wandlungen) entwickelt. Es gelten folgende Regeln:
- Nach einer rituellen Reinigung des Raumes werden die 50 Stäbchen in die linke Hand genommen und eines weggelegt, danach werden die 49 verbliebenen in zwei Haufen geteilt, und unter Wegnahme von jeweils vier Stäbchen durchgezählt. Je nach Rest -vier oder weniger- ermittelt man die Zahlen »2« oder »3«.
So bleiben bei der ersten Zählung fünf oder neun Stäbchen über; bei den darauf folgenden letzten zwei Zählungen vier oder acht Stäbchen. Fünf bzw. vier Stäbchen bedeuten die Zahl »3«. Neun bzw. acht Stäbchen bedeuten die Zahl »2«.
- Dieser Vorgang wird dreimal vollzogen und die ermittelten Zahlen addiert: Es ergeben sich acht mögliche Kombinationen mit den Summen 6, 7, 8 und 9. Die »6« und »8« entsprechen einem Yin (). Die »7« und »9« entsprechen Yang ().
- Dieser Vorgang wird sechs Mal wiederholt. Daraus ergeben sich von unten nach oben die sechs Striche des Hexagramms.
- Die mit den Ziffern »6« und »9« ermittelten Linien oder Striche eines Zeichens sind die wandelnde Linien, durch die ihr jeweiliges Gegenteil ihren Platz einnimmt und dadurch in eines der 63 anderen Zeichen auflösen.
Jedes so entstandene Hexagramm steht für eine bestimmte Kombination von Yin- und Yang-Einflüssen und damit für eine bestimmte zukünftige Entwicklung.
Stäbchenorakel
Unter dem Einfluss des Buddhismus hat sich schließlich das Stäbchenorakel entwickelt. Es ist einfacher durchzuführen und zu deuten als die vorgenannten Formen, was zu seiner größeren Volkstümlichkeit beigetragen hat.
Üblicherweise wurde hierbei in einem Tempel der Göttin Guanyin eine konkrete Frage zu einem Thema der persönlichen Zukunft wie etwa Geschäften, Gesundheit, Heirats- und Nachwuchsaussichten und dergleichen gestellt. Daraufhin schüttelte man in einem Becher eine bestimmte Anzahl mit Schriftzeichen versehener Holzstäbchen (chin.: 签 qiān) und zog eines davon heraus. Die darauf enthaltene Weissagung gab dann Antwort auf die gestellte Frage.
Das Münzorakel
Später entwickelte sich deshalb eine Methode, um einfachere Fragestellungen schneller zu beantworten, in Form eines Münzorakels. Diese Art des Orakels wurde in China wahrscheinlich seit der Epoche der streitenden Reiche (403–221 v. Chr.) angewandt. Der Legende nach wurde das Münzorakel des I Ging durch den daoistischen Eremiten und Philosophen Gui Guo Zi entwickelt. Die Münzmethode fand in der chinesischen Gesellschaft bald eine weite Verbreitung. Die Anzahl der jeweils verwendeten Münzen war jedoch unterschiedlich. In Verbindung mit dem I Ging setzte sich schließlich die Methode der drei Münzen weitestgehend durch. Die Befragung und insbesondere die Deutung des Orakels sollte unmittelbar nach oder während einer Meditation erfolgen – dies gilt für jede der hier angeführten Methoden.
Der Vorderseite einer Münze ist die Zahl »3« zugeordnet, der Rückseite die Zahl »2«. Danach folgt die Methode analog zum Schafgarbenorakel.
16 Murmeln
Diese 16 Murmeln sind wie folgt verteilt in einer Urne: Eine Murmel trägt die Nummer »6«, drei Murmeln tragen die Nummer »9«, fünf Murmeln tragen die Nummer »7« und sieben Murmeln tragen die Nummer »8«. Die vier verschiedenen Nummern stehen für vier verschiedene Linienqualitäten, die später erläutert werden.
Nun sollen sechs Murmeln aus der Urne gezogen werden, wobei jede gezogene Murmel wieder zurückgelegt wird, bevor erneut gezogen wird. Auf diese Art und Weise erhält man sechs Nummern, die dann als übereinander gemalte Linien das Orakel bilden, da jede Nummer eine andere Linienart bedeutet.
Das hat die gleiche Wahrscheinlichkeit wie die Schafgarbenmethode: random(array(8, 8, 8, 8, 8, 8, 8, 7, 7, 7, 7, 7, 9, 9, 9, 6));
Das seltenste Zeichen ist demnach das Hexagramm mit den Strichen 6,6,6,6,6,6.
Dazu das I Ging (Hexagramm mit der Nr. 2): „Alle Linien: Ihr Charakter ist gefestigt und im Gleichgewicht. Sie können jetzt nachhaltig und vorteilhaft auf die Welt einwirken.“
Weitere Orakelformen
Daneben gibt es Anhaltspunkte für weitere Orakelformen: So berichtet die Legende etwa davon, dass die beiden Geschwistergötter Fuxi und Nüwa erst durch ein Orakel von zwei sich in der Luft vereinigenden Rauchsäulen dazu gebracht wurden, ihre Bedenken gegen eine inzestuöse Verbindung zurückzustellen und einander zu heiraten.
Das um die Zeitenwende entstandene Buch Shen Shu enthält ein Münzorakel.
Siehe auch
Literatur
- Jacques Gernet: Die chinesische Welt. Die Geschichte Chinas von den Anfängen bis zur Jetztzeit. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-518-38005-2, S. 51–53 (Suhrkamp-Taschenbuch 1505).
Einzelnachweise
- ↑ a b Dieter Kuhn: Ostasien bis 1800. S. Fischer, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-10-010843-2, S. 92.
- ↑ Walter Flemmer: Das alte China. Tessloff, Nürnberg 2000, ISBN 3-7886-0672-X, S. 8.
- ↑ a b Dieter Kuhn: Ostasien bis 1800. S. Fischer, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-10-010843-2, S. 134.
- ↑ a b Michael Schimmelpfennig: Grundlagen herrschaftlicher Entscheidungsfindung im früh-kaiserlichen China. In: Michael Grünbart (Hrsg.): Unterstützung bei herrscherlichem Entscheiden: Experten und ihr Wissen in transkultureller und komparativer Perspektive. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2020, S. 192 f.
- ↑ 揭開千年蓍草神秘面紗,能占卜只是其中一個特技!|Zi 字媒體. 21. Juli 2017, abgerufen am 16. Februar 2019 (chinesisch (traditionell)).
- ↑ Wolfram Eberhard: Lexikon chinesischer Symbole. Diedrichs, ISBN 3-424-00750-1.
Weblinks
»Das Münzorakel«, nach Ausführungen von Richard Wilhelm, eingesehen am 16. April 2011