Insulin glargin

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(Weitergeleitet von Lantus)
Insulin glargin
Masse/Länge Primärstruktur 53 Aminosäuren, 6,06 kDa
Bezeichner
Externe IDs
Arzneistoffangaben
ATC-Code A10AE04
DrugBank BTD00045
Wirkstoffklasse Antidiabetikum

Insulin glargin (Insulinum glarginum; Handelsnamen: Lantus, Toujeo) ist ein Arzneistoff aus der Gruppe der Insulinanaloga, der zur Behandlung der Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) eingesetzt wird, und zählt zu den Basal-Insulinen. Der Wirkstoff ist ein rekombinantes Protein, das aus gentechnisch veränderten Mikroorganismen hergestellt wird. Er unterscheidet sich geringfügig vom körpereigenen Insulin. Verglichen mit anderen Verzögerungsinsulinen verfügt es über eine längere Halbwertszeit, was dazu führt, dass es nach der Injektion langsamer und gleichmäßiger vom Körper aufgenommen wird, und eine einmal tägliche Gabe ermöglicht.

Klinische Angaben

Insulin glargin ist als Fertigarzneimittel zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 bei Erwachsenen und eingeschränkt bei Kindern ab 6 Jahren zugelassen. Es wird in der Regel einmal täglich, bei fehlender Wirksamkeit über 24 Stunden auch zweimal täglich[1] subkutan und immer zur gleichen Tageszeit jeden Tag gespritzt. Zu den Risiken der Anwendung in Schwangerschaft oder Stillzeit liegen bisher weder klinische noch epidemiologische Daten vor. Wie andere Medikamente auch darf Insulin glargin bei Überempfindlichkeit oder Allergie gegen den Wirkstoff nicht angewendet werden.

Als unerwünschte Wirkungen kommen Reaktionen an der Einstichstelle vor. Es kann, wie bei jeder Insulintherapie an der Einstichstelle zu Veränderung des Unterhautfettgewebes (Lipodystrophie), Zubildungen (Hypertrophie) des Unterhautfettgewebes (Lipohypertrophie) und, weniger, zu Fettauszehrungen (Lipoatrophie) kommen. Selten kommt es zu allergischen Reaktionen, Geschmacksstörungen, Sehstörungen bei deutlichen Veränderungen der Blutzuckereinstellung. Eine kontinuierlich verbesserte Blutzuckereinstellung mindert das Risiko für das Fortschreiten einer durch Zuckerkrankheit verursachten Augenerkrankung (diabetische Retinopathie). Jedoch kann sich bei einer intensivierten Insulintherapie bzw. einer durch Insulin glargin herbeigeführten abrupten Verbesserung des Blutzuckerspiegels eine diabetische Retinopathie vorübergehend verschlimmern. Sehr selten kommt es zu Muskelschmerzen und Ödemen. Eine Unterzuckerung, die eine sehr häufige Nebenwirkung der Insulintherapie darstellt, kann auftreten, wenn die Insulindosis den Bedarf überschreitet.[2]

Pharmakologische Eigenschaften

Wirkungsmechanismus (Pharmakodynamik)

Insulin glargin wirkt durch Bindung an die Insulinrezeptoren und bewirkt primär die Senkung des Blutglukosespiegels.

Es bindet stärker an den IGF-1-Rezeptor als Humaninsulin.

Aufnahme und Verteilung im Körper (Pharmakokinetik)

Das Fertigarzneimittel ist als saure Lösung mit einem pH von 4 formuliert, in der der Wirkstoff gelöst vorliegt. Nach Injektion wird die saure Lösung im Unterhautgewebe (Subkutis) langsam neutralisiert, wobei sich Insulin glargin-Mikrokristalle bilden. Diese lösen sich langsam auf und treten als biologisch aktive Form in die Blutbahn ein. Bei täglicher Gabe stellt sich nach zwei bis vier Tagen ein steady state ein, also ein stabiler Plasmaspiegel ohne Schwankungen.

Sonstige Informationen

Chemische und pharmazeutische Informationen

Insulin glargin hat in der Aminosäuresequenz gegenüber dem menschlichen Insulin an der Position A21 (Asn21) statt Asparagin die Aminosäure Glycin. Die B-Kette ist durch zwei Arginin-Einheiten verlängert.

Insulin glargin
          ┌─────────┐
G-I-V-E-Q-C-C-T-S-I-C-S-L-Y-Q-L-E-N-Y-C-G
            │                       ┌─┘
F-V-N-Q-H-L-C-G-S-H-L-V-E-A-L-Y-L-V-C-G-E-R-G-F-F-Y-T-P-K-T-R-R

Insulin glargin wird im Produkt Lantus (erstmals hergestellt von Sanofi-Aventis) sowie im Biosimilar Abasaglar zusammen mit Zink, m-Kresol[3] sowie Natronlauge und Salzsäure als nicht wirksame Bestandteile formuliert. Angeboten wird es in 3 ml Zylinderampullen zur Verwendung in Insulin-Pens oder Flaschen zu 10 ml.

Seit 2015 wird Insulin glargin auch angeboten als Insulin glargin U300 mit 300 E/ml (Handelsname Toujeo) und als erstes Insulin-Biosimilar (Handelsname Abasaglar), seit 2017 als ein weiteres Insulin-Biosimilar (Handelsname Lusduna).

Entwicklung

Am 9. Juni 2000 erteilte die Europäische Kommission dem Pharmaunternehmen Sanofi-Aventis Deutschland GmbH eine Genehmigung für das Inverkehrbringen von Lantus in der gesamten Europäischen Union.[4]

Seit 1. September 2015 ist Abasaglar[5] der Hersteller Lilly und Boehringer Ingelheim erhältlich, seit Januar 2017 Lusduna des Herstellers MSD Sharp & Dohme.

Studien

In einer umfangreichen Analyse der vorhandenen Studien zu Insulin glargin stellte das IQWiG 2009 bei der Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2 keine Vorteile für die Blutzuckereinstellung, Mortalität, Retinopathien und Anzahl der Krankenhausbehandlungen gegenüber NPH-Insulin fest. Allerdings wird bei Insulin glargin ein statistisch signifikanter Vorteil bezüglich schwerer Hypoglykämien gegenüber NPH-Insulin gesehen.[6] Dieser Vorteil der erhöhten Sicherheit vor Unterzuckerungen wird für Insulin glargin auch von anderen systematischen Übersichtsarbeiten bestätigt.[7]

Kontrovers wird die Frage diskutiert, ob die Anwendung von Insulin glargin das Wachstum von Krebszellen fördern könne.[8] Eine sehr umfangreiche in Deutschland durchgeführte Studie kam im Jahr 2009 zu dem Ergebnis, die Anwendung von Insulin glargin erhöhe möglicherweise das Krebsrisiko im Vergleich zu Patienten, die mit Humaninsulin behandelt würden. Die Autoren räumten jedoch ein, dass diese Frage auch aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Unterlagen nicht abschließend zu beurteilen sei; weitere Langzeitstudien seien hierzu erforderlich. Es erfolgte weder eine Unterscheidung zwischen den Diabetestypen noch hinsichtlich von Einflussfaktoren wie Vorerkrankungen, Körpergewicht, allgemeinem Krebsrisiko, Krebsvorerkrankungen oder der Dauer der Diabeteserkrankung.[9] Eine zur gleichen Zeit veröffentlichte Studie, die in Schottland durchgeführt worden war, konnte kein erhöhtes Krebsrisiko bei den mit Insulin glargin behandelten Diabetikern feststellen, das auf die Anwendung von Insulin glargin zurückzuführen wäre.[10] Beim Kongress der Deutschen Diabetes Gesellschaft 2012 wurde eine Metastudie vorgestellt, der zufolge kein Zusammenhang zwischen Insulin glargin und dem Krebsrisiko nachweisbar sei. Das Krebsrisiko falle bei Patienten, die mit Insulin glargin behandelt würden, sogar leicht geringer aus als allgemein. Abschließend könne man dies aber wegen der Latenz bei der Entwicklung von Tumoren erst nach einem Zeitraum von zehn bis 30 Jahren nach der Markteinführung des Medikaments beurteilen.[11]

Deutschland

Laut Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) von 18. März 2010 ist der Wirkstoff Insulin glargin bzw. das Präparat Lantus zur Behandlung des Typ 2 Diabetes nicht verordnungsfähig, „solange sie – unter Berücksichtigung der notwendigen Dosierungen zur Erreichung des therapeutischen Zieles – mit Mehrkosten im Vergleich zu intermediär wirkendem Humaninsulin (NPH) verbunden sind. (…) Für die Bestimmung der Mehrkosten sind die der zuständigen Krankenkasse tatsächlich entstehenden Kosten maßgeblich.“.[12] Der reale Preisunterschied zwischen Lantus und herkömmlichen Verzögerungsinsulin soll nach einer Studie bei 19 Cent pro Tag liegen; dieser wird durch Kosteneinsparungen im Gegensatz zu kurzwirksamen Insulinen, etwa bei Teststreifen, komplett kompensiert, so dass Kostenneutralität entstehe.[13]

Zwar sollen nach der neuen Beschlusslage in Deutschland GKV-Patienten mit einem Typ 2-Diabetes, deren Krankenkassen keinen Vertrag mit Sanofi-Aventis abgeschlossen haben und die bereits ein lang wirkendes Insulinanalogon erhalten, auf NPH-Insulin umgestellt und solche, die erstmals eine Insulintherapie erhalten sollen, ebenso auf NPH-Insulin eingestellt werden, jedoch gilt diese Verordnungseinschränkung nicht für Patienten, bei denen nach entsprechender Prüfung ein hohes Risiko für schwere Hypoglykämien besteht; ebenso gilt sie nicht für jene seltenen Fälle, wo es zu einer allergischen Reaktion gegen intermediär wirkende Humaninsuline kommen kann.[14] Die Regelung, wonach die Erstattungsfähigkeit bei einem schweren Hypoglykämierisiko weiter bestehen bleibt, gilt nur für Lantus. Grund für diese Besonderheit von Lantus ist der Abschlussbericht des IQWiG, der hinsichtlich eines geringeren Risikos für schwere Hypoglykämien ausschließlich für Lantus einen Vorteil gegenüber NPH-Insulin anerkennt.[15]

Der G-BA Beschluss, der am 14. Juli 2010 in Kraft getreten ist, besagt, dass Lantus auch zukünftig voll erstattungsfähig bleibt für alle Versicherten von gesetzlichen Krankenkassen, die mit Sanofi-Aventis Mehrwertverträge geschlossen haben (Sanofi-Aventis bietet den Kassen eine vertragliche Garantie, eine Kostendifferenz auszugleichen). Sanofi-Aventis hat nach eigenen Angaben solche Verträge bereits mit ca. 95 % der Krankenkassen[16] abgeschlossen, so dass Insulin glargin für die meisten Patienten weiter verordnungsfähig ist.[17][18][19]

USA

Die länger wirksamen Insuline wie Insulin glargin sind ebenso wirksam wie NPH-Insulin, jedoch teurer.[20] Langzeitergebnisse sind noch nicht verfügbar.[21] Im Gegensatz zu anderen länger wirksamen Insulinen darf Insulin glargin nicht mit anderen Insulinen in einer Spritze gemischt werden.[22] Diese Praxis wurde in klinischen Studien in Frage gestellt.[23]

Literatur

  • EPAR Lantus. (PDF; 66 kB) – Zusammenfassung des Europäischen Öffentlichen Beurteilungsberichts für Lantus (deutsch)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Hellmut Mehnert: Diabetologie in Klinik und Praxis. Thieme, Stuttgart Mai 2003, 5. Auflage, S. 257, ISBN 978-3-13-512805-4.
  2. E. Mutschler, G. Geisslinger, H. K. Kroemer, S. Menzel, P. Ruth: Mutschler Arzneimittelwirkungen. Pharmakologie − Klinische Pharmakologie − Toxikologie. 10. Auflage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2012, ISBN 3-8047-2898-7, S. 385.
  3. Peter Hürter: Diabetes bei Kindern und Jugendlichen. Springer-Verlag, 2013, ISBN 978-3-662-06575-4, S. 134 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  4. EPAR Lantus (PDF; 66 kB) deutsche Zusammenfassung des Zulassungsberichtes der Europäischen Arzneimittelagentur.
  5. Zusammenfassung des EPAR für die Öffentlichkeit. (PDF) EPAR, abgerufen am 12. Dezember 2016.
  6. Abschlussbericht A0503 (PDF; 2,4 MB) IQWiG zu langwirksamen Insulinanaloga bei Diabetes mellitus Typ 2.
  7. SR Singh, F Ahmad, A Lal, C Yu, Z Bai, H Bennett: Efficacy and safety of insulin analogues for the management of diabetes mellitus: a meta-analysis. In: |CMAJ, Band 180, Nr. 4, Februar 2009, S. 385–397, PMID 19221352, PMC 2638025 (freier Volltext), doi:10.1503/cmaj.081041
  8. Harro Albrecht: Insulinschock. Das millionenfach gespritzte Analoginsulin Lantus steht im Verdacht, das Wachstum von Krebszellen anzuregen. In: Die Zeit, Nr. 28/2009-
  9. L. G. Hemkens, U. Grouven, R. Bender, C. Günster, S. Gutschmidt, G. W. Selke, P. T. Sawicki: Risk of malignancies in patients with diabetes treated with human insulin or insulin analogues: a cohort study. In: Diabetologia. 52, 2009, S. 1732–1744, doi:10.1007/s00125-009-1418-4: One major limitation of the study is the fact that patients were not randomised to treatment groups. Although the results were adjusted for all known and available confounders, potentially relevant factors such as insulin resistance, body mass index, smoking, social status and duration of diabetes were not available and therefore could not be considered in the analyses. However, to explain the observed dose-dependent risk increase in the glargine group, these potential confounders would have to be associated with both a higher cancer risk and a higher glargine dosage. For example, we have no evidence that the glargine group included more smokers or people from a lower socioeconomic class; in fact, at baseline, the glargine group generally seemed to be healthier than the human insulin group, and these findings were consistent when comparing subgroups of patients within the same dose range (S. 1738f.)
  10. H. M. Colhoun: Use of insulin glargine and cancer incidence in Scotland: a study from the Scottish Diabetes Research Network Epidemiology Group. In: Diabetologia. 52, 2009, S. 1755–1765, doi:10.1007/s00125-009-1453-1.
  11. Sven Siebenand: Typ-2-Diabetes und Krebs. Keine Einbahnstraße. In: Pharmazeutische Zeitung online. Abgerufen am 25. Juni 2012 (Beitrag in Nr. 21/2012).
  12. G-BA Beschluss. In: Bundesanzeiger, Ausgabe Nr. 103 vom 14. Juli 2010, S. 2422, g-ba.de (PDF; 287 kB)
  13. Thieme Gesundheitsökonomie Report 2010, 1. S. 1–46.
  14. G-BA: Arzneimittel-Richtlinie/ Anlage III (Lang wirkende Insulinanaloga zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2).
  15. Langwirksame Insulinanaloga. (PDF; 378 kB) iqwig.de
  16. Liste der Krankenkassen mit Rabatt-/Mehrwertvertrag.
  17. G-BA-Beschluss zu Insulinanaloga: Ungerechtfertigte Arzneimittelkosten nicht länger zulasten der GKV. Pressemitteilung. Gemeinsamer Bundesausschuss, 18. März 2010, abgerufen am 21. Oktober 2016.
  18. Deutsche Apotherkerzeitung, 2. Juli 2010 (Memento vom 8. Juli 2010 im Internet Archive).
  19. Deutsche Ärztezeitung, 11. Juli 2010 online.
  20. N Waugh, E Cummins, P Royle, C Clar, M Marien, B Richter, S Philip: Newer agents for blood glucose control in type 2 diabetes: systematic review and economic evaluation. In: Health technology assessment (Winchester, England), Juli 2010, Band 14, Nr. 36, S. 1–248, PMID 20646668, doi:10.3310/hta14360
  21. SR Singh, F Ahmad, A Lal, C Yu, Z Bai, H Bennett: Efficacy and safety of insulin analogues for the management of diabetes mellitus: a meta-analysis. In: CMAJ, Band 180, Nr. 4, Februar 2009, S. 385–397, PMID 19221352, PMC 2638025 (freier Volltext), doi:10.1503/cmaj.081041
  22. American Diabetes Association: Position statement: Insulin administration. In: Diabetes Care. 26, Nr. Suppl. 1, 2003, S. 121–124.
  23. W. Kaplan et al.: Effects of Mixing Glargine and Short-Acting Insulin Analogs on Glucose Control. In: Diabetes Care, 2004, Band 27, Nr. 11, S. 2739–2740, PMID 15505016, doi:10.2337/diacare.27.11.2739