Michael Rostovtzeff

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Michael Rostovtzeff

Michael Rostovtzeff (auch Michael I. Rostovtzeff, ursprünglich russisch Михаил Иванович Ростовцев/

Michail Iwanowitsch Rostowzew

, wiss. Transliteration

Michail Ivanovič Rostovcev

; * 29. Oktoberjul. / 10. November 1870greg. in Schytomyr; † 20. Oktober 1952 in New Haven) war ein russischer Althistoriker, der als Professor an den Universitäten zu St. Petersburg (1908–1918), Madison (1920–1925) und Yale (1925–1944) wirkte. Er gilt als bedeutendster Althistoriker seiner Generation[1] und beschäftigte sich intensiv mit der Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen und römischen Zeit.

Leben und Werk

Michael Rostovtzeff war der Sohn des Kurators Ivan Jakovlevič Rostovcev, der im Kiewer Bildungsministerium arbeitete. Michael Rostovtzeff studierte an der Universität von Sankt Petersburg, wo ihn besonders Victor Jernstedt und Tadeusz Stefan Zieliński beeinflussten.

Wanderjahre

Nach dem Studienabschluss unternahm er ausgedehnte Bildungsreisen durch Europa, um seine Studien an verschiedenen Universitäten zu vertiefen. Um 1900 hielt er sich an der Universität Wien auf und studierte Archäologie und Epigraphik bei Otto Benndorf und Eugen Bormann. Anschließend ging er nach Berlin und Leipzig, wo ihn Ulrich Wilcken mit der Papyrologie vertraut machte und sein Interesse auf die römische Verwaltung lenkte. Während eines Aufenthaltes in Italien besuchte Rostovtzeff die Stätte von Pompeji, wo der Archäologe August Mau ihn führte, und Rom, wo er 1903 mit dem Berliner Philologen und Wissenschaftsorganisator Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff in Kontakt kam; im selben Jahr ernannte ihn das Deutsche Archäologische Institut zum ordentlichen Mitglied. Zum Zweck der Promotion empfahl ihm Wilamowitz, sich an Georg Wissowa in Halle zu wenden.[2] Dort veröffentlichte Rostovtzeff 1905 seine Dissertation Römische Bleitesserae. Ein Beitrag zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der römischen Kaiserzeit, die noch 1963 und 1979 nachgedruckt wurde. Durch Wilamowitz’ Empfehlung kam es auch dazu, dass Rostovtzeff verschiedene Artikel für die von Wissowa geleitete Neubearbeitung der Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft verfasste. Sein Artikel zur Getreideversorgung im Römischen Reich (frumentum, in: RE 7 (1912), Sp. 126–187) bedeutete einen Neubeginn der römischen Wirtschaftsgeschichte.[3]

Professor in St. Petersburg

Nach Russland kehrte Rostovtzeff im November 1908 zurück, als er von der Universität zu St. Petersburg zum ordentlichen Professor berufen wurde. Eine seiner Studentinnen war Natalja Dawidowna Flittner. Seine wissenschaftlichen Kontakte ins Ausland behielt er auch hier bei. Die Preußische Akademie der Wissenschaften ernannte ihn im Frühjahr 1914 zum korrespondierenden Mitglied.

Durch den russischen Bürgerkrieg und die Oktoberrevolution brach für Rostovtzeff eine Welt zusammen.[4] Er ließ seine Bibliothek und Manuskripte zurück und wanderte zunächst über Finnland und Norwegen nach England aus, wo er jedoch durch den Professor für Alte Geschichte Hugh Last abgelehnt wurde. Auch in den USA hatte Rostovtzeff anfangs Schwierigkeiten: Er musste den Behörden glaubhaft machen, dass er weder ein Kommunist noch ein Jude war. Schließlich wurde er am 3. Januar 1920 auf den Westermann-Lehrstuhl für Alte Geschichte an der University of Wisconsin berufen.

Exil in den USA

Die Jahre in Madison bezeichnete Rostovtzeff später als seine glücklichsten;[5] dennoch wechselte er 1925 als Sterling Professor of Ancient History and Classical Archaeology an die Yale University, weil die dortige Bibliothek besser ausgestattet war und das historische Seminar einen größeren Einzugsbereich hatte. Von Yale aus unternahm Rostovtzeff ab 1927 eine mehrjährige Expedition nach Dura Europos, die ein großer Erfolg war: Durch das warme und trockene Klima in Mesopotamien hatten sich farbige Wandmalereien, Kleidung, Holzgegenstände und Papyri in großer Menge erhalten. Trotz der wirtschaftlichen Krise der 20er Jahre gelang Rostovtzeff die Durchführung der Expedition bis 1938. Durch den Kontakt zu Franz Cumont, der noch aus seiner Studienreise herrührte, erhielt er Hilfe von der französischen Académie des sciences. Die Grabungsberichte gab er in sechzehn Bänden heraus: Zehn Bände mit vorläufigen Berichten und sechs mit dem Abschlussbericht der Expedition. Um die Bearbeitung des Materials zu fördern, setzte Rostovtzeff zahlreiche Schüler aus Yale mit ihren Dissertationen darauf an, darunter Alfred R. Bellinger, R. O. Fink, James Frank Gilliam, Clark Hopkins, Carl Hermann Kraeling und Charles Bradford Welles, sein späterer Nachfolger in Yale.

1923 wurde er in die American Academy of Arts and Sciences[6] und 1929 in die American Philosophical Society[7] gewählt.

Rostovtzeff bildete in den zwei Jahrzehnten seines Wirkens an der Yale University eine archäologische Schule, die in den Vereinigten Staaten einzigartig war.[5]

Daneben bemühte sich Rostovtzeff intensiv, die Rettung von der Shoah bedrohter Juden aus Europa zu ermöglichen. Rückschläge und das Gefühl einer persönlichen Verantwortung gegenüber den Gefährdeten erschöpften seine geistige Gesundheit und führten ihn in eine nervliche Erschöpfung und schwere Depression. Nach Elektroschocktherapien machte eine frontale Lobotomie seiner aktiven wissenschaftlichen Arbeit 1944 ein Ende. Er starb am 20. Oktober 1952 in New Haven.[8]

Leistungen

Rostovtzeff gilt als der bedeutendste Althistoriker der Generation zwischen Eduard Meyer (1855–1930) und Ronald Syme (1903–1989).[1] Er erhielt während seiner Laufbahn die Ehrendoktorwürden der Universitäten Leipzig (1909), Oxford (1919), Wisconsin (1924), Cambridge (1934), Harvard (1936), Athen (1937) und Chicago (1941). Sein Wirken machte Yale zum damals wichtigsten altertumswissenschaftlichen Zentrum der USA.[1]

Rostovtzeffs Verdiensten als akademischer Lehrer stehen auch herausragende Leistungen in der Forschung gegenüber. Seine Beschäftigung mit der römischen Geschichte war von seiner Erfahrung mit der russischen Oktoberrevolution geprägt. Den Niedergang des römischen Reiches sah er im Licht des Niedergangs der russischen Gesellschaft im Bürgerkrieg von 1918–1920. Aber trotz seiner entschiedenen Ablehnung der Bolschewiken brachte er marxistische Anschauungen (Begriffe wie Kapital und Sozialrevolution) in seine Erklärung der antiken Geschichte ein. In der Wirtschafts- und Sozialgeschichte legte er grundlegende Arbeiten vor, die bis heute vielfach verwendet werden. Seine Hauptwerke sind die Social and Economic History of the Roman Empire (veröffentlicht 1926) und A Social and Economic History of the Hellenistic World (veröffentlicht 1941; beide sind unter anderem auch in deutscher und italienischer Übersetzung erschienen).

Schriften (Auswahl)

  • Geschichte der Staatspacht in der römischen Kaiserzeit bis Diokletian, Philologus Ergänzungsband 9, 1902
  • Römische Bleitesserae. Ein Beitrag zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der römischen Kaiserzeit, Klio, Beiheft 3, 1905
  • Studien zur Geschichte des römischen Kolonates, Archiv für Papyrusforschung und verwandte Gebiete, Beiheft 1, Leipzig, Berlin 1910, Nachdruck Teubner 1970, Archive
  • Iranians and Greeks in South Russia. Oxford: Clarendon Press, 1922. Archive
  • A large estate in Egypt in the third century B.C. A study in economic history. Madison: University of Wisconsin, 1922.
  • Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich, Leipzig: Quelle und Meyer 1931, Neudruck Aachen: Scientia Verlag 1985
    • Englische Ausgabe: The social and economic history of the Roman empire, Oxford 1926, 2. Auflage bearbeitet von P. Fraser, Oxford 1957
  • Dura and the Problem of Parthanian Art. In: Yale Classical Studies. Band 5, 1935, S. 155–304.
  • Die hellenistische Welt, Gesellschaft und Wirtschaft, 3 Bände, Kohlhammer, 1955, 1956
    • englische Ausgabe: The social and economic history of the hellenistic world, Oxford, Clarendon Press 1941, 2. Auflage 1953, weitere deutsche Ausgabe: Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt, 2 Bände, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012
  • Caravan cities, Oxford, Clarendon Press 1932
  • Geschichte der Alten Welt, 2 Bände, Bremen: Schünemann 1961
    • Englische Ausgabe: A history of the ancient world, 2 Bände, Oxford: Clarendon Press 1926, 1927, Band 2, Archive
  • Mystic Italy, New York: Henry Holt 1927, Archive
  • Skythien und der Bosporus, Berlin, H. Schoetz 1931
    • Band 2 (Wiederentdeckte Kapitel und Verwandtes, Herausgeber Heinz Heinen), Historia Einzelschriften 83, Franz Steiner Verlag 1993
  • Rostovtzeffs Briefwechsel mit deutschsprachigen Altertumswissenschaftlern (Herausgeber Gerald Kreucher), Wiesbaden: Harrassowitz 2005.

Literatur

  • C. Bradford Welles, M. I. Rostovtzeff †. In: Gnomon. Band 25, 1953, S. 142–144.
  • Karl Christ: Von Gibbon zu Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker der Neuzeit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1972, ISBN 3-534-06070-9, S. 334–349.
  • William M. Calder III: Rostovtzeff, Michael. In: Ward W. Briggs (Hrsg.): Biographical Dictionary of North American Classicists. Greenwood Press, Westport CT u. a. 1994, ISBN 0-313-24560-6, S. 541–547.
  • Gerald Kreucher (Hrsg.): Rostovtzeffs Briefwechsel mit deutschsprachigen Altertumswissenschaftlern. Einleitung, Edition und Kommentar (= Philippika. Band 6). Harrassowitz, Wiesbaden 2005, ISBN 3-447-05200-7.
  • Heinz Heinen: Michael Ivanovich Rostovtzeff. In: Lutz Raphael (Hrsg.): Von Edward Gibbon bis Marc Bloch (= Klassiker der Geschichtswissenschaft. Band I). C. H. Beck, München 2006, ISBN 3-406-54118-6, S. 172–189.
  • Helmuth Schneider: Rostovtzeff, Michael Iwanowitsch. In: Peter Kuhlmann, Helmuth Schneider (Hrsg.): Geschichte der Altertumswissenschaften. Biographisches Lexikon (= Der Neue Pauly. Supplemente. Band 6). Metzler, Stuttgart/Weimar 2012, ISBN 978-3-476-02033-8, Sp. 1083–1089.
  • Nadezda Fichtner: Der Althistoriker Michail Rostovtzeff. Wissenschaft und Politik im vorrevolutionären und bolschewistischen Russland (1890–1918). Harrassowitz, Wiesbaden 2020 (Philippika; 142), ISBN 978-3-447-11450-9.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c Calder in Briggs (1994) 541.
  2. Der maschinengeschriebene Brief mit der Abschrift befindet sich in Wissowas Nachlass in der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt.
  3. Calder in Briggs (1994) 542.
  4. Marinus Wes, The Russian Background of the Young Michael Rostovtzeff, Historian in Exile: Russian Roots in an American Context, Historia-Einzelschriften 63 (1988), S. 207–221.
  5. a b Calder in Briggs (1994) 543.
  6. Book of Members 1780–present, Chapter R. (PDF; 507 kB) In: amacad.org. American Academy of Arts and Sciences, abgerufen am 26. Januar 2019 (englisch).
  7. Member History: Michael I. Rostovtzeff. American Philosophical Society, abgerufen am 26. Januar 2019.
  8. Albert I. Baumgarten: Elias Bickerman as a Historian of the Jews: A Twentieth Century Tale. Mohr Siebeck, Tübingen 2010, ISBN 978-3-16-150171-5 (Texts and Studies in Ancient Judaism. 131.), Seite 140f in der Google-Buchsuche