Otfridvers

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Otfridvers (auch Otfridscher Reimvers, (altdeutscher) Reimvers) bezeichnet in der Verslehre den in Otfrid von Weißenburgs Liber evangeliorum (um 870) erstmals erscheinenden althochdeutschen Endreimvers, der, beginnend in der Karolingerzeit, die stabreimenden Langzeile zunehmend verdrängte und maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der deutschsprachigen Dichtung nahm.

Das Metrum ist akzentuierend, oft schon vierhebig mit eingeschränkter Füllungsfreiheit und ebenfalls freiem Auftakt. Der Versschluss ist stets männlich.

Zwei Langzeilen ergeben die Otfridstrophe, von den Halbversen her betrachtet entspricht das der bis in die Gegenwart in der deutschen Dichtung äußerst beliebten paargereimten, vierzeiligen Strophe. Beispiel[1]:

Mánot únsih thísu fárt. ‖ thaz wír es wésen ánawárt
wír únsih óuh birúachèn ‖ inti éigan ĺant súachèn.

In neuhochdeutscher Übersetzung und als vierzeilige Strophe:

Daran ermahnt uns diese Reise
dass auch wir selbst in gleicher Weise
mit Eifer dafür Sorge tragen
das Land der Heimat zu erfragen

Der Vers wird auf die germanische Langzeile zurückgeführt, wobei anstelle des Stabreims die beiden Halbzeilen durch Endreim verbunden werden. Die Langzeile muss aber nicht die einzige Wurzel gewesen sein. So sieht Heusler das metrische Vorbild in der Ambrosianischen Hymnenstrophe. Die Ähnlichkeiten zwischen Hymnen- und Otfriedstrophe wurden bereits 1846 von Wilhelm Wackernagel wahrgenommen. Der vorherrschenden Ansicht nach ist die Otfriedstrophe ein Kompromiss zwischen Langzeile und Hymnenstrophe, wogegen eingewandt wird, dass in der Hymnenstrophe der Endreim bei weitem nicht die tragenden Rolle wie in der Otfriedstrophe spielt.[2]

Andere Autoren leiten den Otfriedvers vom Hexameter ab, so Paul Hörmann[3] und Friedrich Maurer.[4] Eine kritische Auseinandersetzung mit Hörmann und Maurer gibt Friedrich Neumann.[5]

Ebenfalls den Hexameter als literarisches Vorbild des Otfridverses sieht Ewald Jammers[6], wobei er den Otfridvers als sehr komplexes Gebilde sieht: „germanisch ist die Rolle der Hebung; der Wechsel in Hebung und Senkung wenigstens im metrischen Schema geht auf die [lateinischen] Ritmi zurück, doch germanisch sind wieder die Freiheiten bei den Senkungen.“[7]

Der Otfridstrophe entspricht weitgehend die vierzeilige mittelhochdeutsche Reimpaarstrophe (zu unterscheiden von dem lateinischen Vorläufer, der Paarreimstrophe), wobei hier auch vierhebige Reimpaare mit männlicher Kadenz und dreihebige Reimpaare Verse mit weiblicher Kadenz im Wechsel auftreten können. Ein Beispiel sind die Reichssprüche von Walther von der Vogelweide.

Literatur

  • Ivo Braak: Poetik in Stichworten. Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine Einführung. 8., überarbeitete und erweiterte Auflage. Bornträger, Berlin u. a. 2001, ISBN 3-443-03109-9, S. 114, 124.
  • Otto Knörrich: Lexikon lyrischer Formen (= Kröners Taschenausgabe. Band 479). 2., überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2005, ISBN 3-520-47902-8, S. 7f.
  • Otto Paul, Ingeborg Glier: Deutsche Metrik. 9. Auflage. Hueber, München 1974, S. 41–47.

Einzelnachweise

  1. Otfrid Die Anbetung der Magier / Mystice [I,18] v. 1–2.
  2. Reallexikon der germanischen Altertumskunde: Band 7: Einfache Formen – Eugippius. 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage. de Gruyter, Berlin u. a. 1989, ISBN 3-11-011445-3, S. 278 f., s.v. Endreim.
  3. Paul Hörmann: Untersuchungen zur Verslehre Otfrids. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görresgesellschaft. Bd. 9, 1939, ZDB-ID 2553-7, S. 1–106, hier S. 30 ff. (Zugleich: Freiburg (Breisgau), Universität, Dissertation, 1938).
  4. Friedrich Maurer: Über Langzeilen und Langzeilenstrophen in der ältesten deutschen Dichtung. In: Karl Friedrich Müller (Hrsg.): Beiträge zur Sprachwissenschaft und Volkskunde. Festschrift für Ernst Ochs zum 60. Geburtstag. Schauenburg, Lahr 1951, S. 31–52, bes. S. 33 ff.
  5. Friedrich Neumann: Otfrieds Auffassung vom Versbau. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Jg. 79, Sonderband, 1957, ISSN 0323-424X, S. 249–306.
  6. Ewald Jammers: Das mittelalterliche deutsche Epos und die Musik. In: Heidelberger Jahrbücher. Bd. 1, 1957, S. 31–90, doi:10.1007/978-3-642-45884-2_3.
  7. Ewald Jammers: Der musikalische Vortrag des altdeutschen Epos. In: Der Deutschunterricht. Bd. 11, H. 2, 1959, ISSN 0340-2258, S. 98–116, Zitat S. 110.