Constitutio Antoniniana

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(Weitergeleitet von P. Giss. 40)

Die Constitutio Antoniniana war eine Verordnung des römischen Kaisers Caracalla, wahrscheinlich vom 11. Juli 212, die allen freien Bewohnern des Römischen Reichs das römische Bürgerrecht verlieh. Bei einer Gruppe, den dediticii, geschah dies unter Vorbehalt. Ein Teil des Textes ist auf einem in Gießen aufbewahrten Papyrus erhalten.

Quellenlage und Inhalt

Eine Constitutio (lateinisch für Verordnung) ist eine kaiserliche Verfügung in Form eines Ediktes, Dekretes, Mandates oder Reskriptes, die – neben den Beschlüssen des Senats – zur zentralen Form der Gesetzgebung in der römischen Kaiserzeit wurde. Das päpstliche Gegenstück dazu ist die Constitutio Apostolica (Apostolische Festsetzung).

Auf einem Papyrus, der aus der Zeit um 215 stammt, im Jahr 1901 in Eschmunen in Ägypten erworben wurde und sich nun in der Papyrussammlung der Universitätsbibliothek Gießen (P. Giss. 40, col. I) befindet, glaubt man einen Teil des Textes wiederentdeckt zu haben. Ende Oktober 2017 wurde das Stück in die Liste des Weltdokumentenerbes der UNESCO aufgenommen.[1] Allerdings ist die inhaltliche Deutung der erhaltenen Stellen noch umstritten. Sinngemäß lautet der Text in diesem Papyrus:

„Imperator Caesar Marcus Aurelius Severus Antoninus Pius sagt: Nachdem ich Gesuche und Bittschriften erhalten habe, in denen vor allem gefragt wird, wie ich den unsterblichen Göttern dafür danken kann, dass sie mich durch einen derartigen Sieg gerettet haben, ist es vernünftig zu sagen, dass ich der Ansicht bin, eine Handlung auf eine so großartige und fromme Weise ausführen zu können, wie sie ihrer Majestät zukommt, indem die Fremden zusammengeführt werden in den Zeremonien ihres Glaubens, wie Römer, alle die kommen und sie vereinige mit meinen Männern. Ich gebe daher allen Fremden, die im Reich sind, das Recht des römischen Bürgers, eingeschlossen diejenigen, die sich in Städten jeglicher Art aufhalten, ausgenommen diejenigen, die dediticii sind. Wirklich soll es sein, dass die Menge von jetzt an auch an dem Sieg teilhabe. Dieses Edikt wird die Würde des römischen Volkes vergrößern.“

Nicht eindeutig geklärt ist die Abgrenzung des mit dediticii gemeinten Personenkreises. Als dediticii bezeichnete man für gewöhnlich Angehörige von Völkern oder Staaten, die sich den Römern bedingungslos unterworfen hatten, entweder im Krieg im Sinne einer Kapitulation oder im Frieden, um römischen Schutz zu erhalten. Juristisch bedeutete die Constitutio Antoniniana nicht, wie man früher glaubte, die Aufhebung örtlicher Rechtsgewohnheiten und ihre Ersetzung durch römisches Privatrecht; örtliches Recht wurde weiterhin angewendet, soweit es dem römischen nicht widersprach.

In späterer Zeit hielt man meist nicht mehr Caracalla, sondern Mark Aurel bzw. Antoninus Pius für denjenigen Kaiser, der die Constitutio Antoniniana erlassen habe. Beide trugen, wie er, den Namen Antoninus, doch wurden sie im Unterschied zu Caracalla in überwiegend positiver Erinnerung behalten. Moderne Historiker zweifelten hin und wieder die Datierung in das Jahr 212 an und setzten die Constitutio in die beiden folgenden Jahre, doch meistens wird die traditionelle Argumentation akzeptiert: Schon zu Beginn des Jahres 213 tauchte an mehreren Orten des Römischen Reiches – in Lykien und in Germanien – verstärkt der Gentilname Aurelius auf, was vermutlich damit zu tun hat, dass die neuen Bürger sich vielfach nach Caracalla benannten, um ihm zu danken und ihn zu ehren.

Motive Caracallas

Der Sinn und Zweck des Erlasses sind bis heute nicht befriedigend geklärt. In der Präambel des Edikts wird der Anlass hervorgehoben, der darin bestand, dass der Kaiser gerettet worden sei (dies ist vermutlich ein Hinweis auf einen angeblichen Mordplan seines Bruders Geta, der im Dezember 211 von Caracalla erschlagen worden war), und damit möglichst viele Untertanen den römischen Göttern für die „Errettung“ Caracallas danken könnten, habe dieser beschlossen, sie in den Kreis der Bürger Roms aufzunehmen. Dies wird nur ein Vorwand gewesen sein, der mutmaßlich den erwünschten Nebeneffekt haben sollte, dass Geta schlechtgeredet wurde. Die wahren Hintergründe der überaus einschneidenden Maßnahme waren nach Ansicht vieler Forscher andere.

Der Caracalla feindlich gesinnte Geschichtsschreiber Cassius Dio teilt mit (79,9,5), wie der Schritt des Kaisers in oppositionellen Kreisen aufgefasst wurde. Dort war man der Meinung, die Ausdehnung des Bürgerrechts habe vor allem den Zweck gehabt, die Betroffenen verschiedenen Steuern zu unterwerfen, die nur von römischen Bürgern zu bezahlen waren. Dazu gehörten die Steuer auf die Freilassung von Sklaven und die Erbschaftssteuer, die Caracalla verdoppelte. Die Erbschaftssteuer wurde nun auch den bisher nicht steuerpflichtigen Familienangehörigen auferlegt. Wegen der außerordentlich stark erhöhten Personalkosten beim Militär infolge einer großzügigen Solderhöhung und üppigen Sonderzuwendungen (Donativen) an die Soldaten musste Caracalla tatsächlich neue Einkommensquellen erschließen. Umstritten ist in der modernen Forschung allerdings, inwieweit Cassius Dios Behauptung zutrifft, denn römische Bürger waren ihrerseits von vielen Abgaben befreit, die nur Nichtrömer zu entrichten hatten.

Die Erhöhung der Steuereinnahmen kann in jedem Fall höchstens eines der Motive Caracallas gewesen sein. Zu bedenken ist, dass der Konflikt mit Geta zahlreiche Todesopfer gefordert, sein Ansehen stark beschädigt und seine Stellung erschüttert hatte. Mutmaßlich wollte er daher die Neubürger als ihm persönlich ergebene loyale Anhängerschaft gewinnen, um auf diese Art die Feindschaft der traditionellen Elite, bei der er verhasst war, zu kompensieren und so seine Machtbasis zu stärken. Zahlreiche Neubürger nahmen den Gentilnamen des Kaisers, Aurelius, an, der dadurch außerordentlich häufig wurde. Alles in allem lief die Maßnahme von 212 also wohl darauf hinaus, die Kasse des Staates und des Kaisers zu füllen und Caracalla in einer Krisensituation Popularität und loyale Anhänger zu verleihen.

Auswirkungen und historische Einordnung

Auch wenn die Maßnahme einer konkreten Krisensituation geschuldet gewesen sein sollte: Mit der Constitutio Antoniniana vollzog Caracalla einen wichtigen Schritt in Richtung auf eine Vereinheitlichung der rechtlichen Verhältnisse im Reich. Die Maßnahme spiegelt eine Entwicklung wider, die die soziale Schichtung der Bevölkerung betraf. Zur Zeit des Augustus (27 v. Chr. bis 14 n. Chr.) gab es im Grunde für römische Bürger eine Reihe von Privilegien (insbesondere die Befreiung von bestimmten Abgaben) und Schutzvorkehrungen, ungeachtet ihres sozialen Rangs. Jedoch bildeten sich in den danach folgenden zweieinhalb Jahrhunderten zwei entscheidende Änderungen heraus:

  1. Das römische Bürgerrecht wurde schrittweise ausgedehnt auf Personen im gesamten Reich, sowohl durch individuelle Genehmigungen (im Besonderen gegenüber entlassenen Hilfstruppen; siehe Militärdiplom) als auch gegenüber ganzen Gemeinschaften (wie zum Beispiel Leptis Magna oder Köln). Auch die Kinder freigelassener Sklaven eines römischen Bürgers besaßen automatisch das römische Bürgerrecht. Dies bedeutete, dass eine große und wachsende Zahl von einfachen Leuten fremder Herkunft den Schutz des römischen Bürgerrechts genoss (vergleiche: Paulus in der Apostelgeschichte des Lukas).
  2. Die Aristokratien verschiedener nichtrömischer Teile des Reichs assimilierten sich zu einem gewissen Grad an die römische Kultur, ihren Angehörigen gelang teils sogar der Aufstieg in den römischen Senat. Zur Zeit der Constitutio Antoniniana hatten andererseits viele wohlhabende Einwohner des Römischen Reichs Rechte erhalten, waren aber formal immer noch nur wohlhabende Fremde.

Das Ergebnis dieser Situation war, dass im Reich anstelle der Abgrenzung zwischen Römern und Fremden (peregrini) langsam eine neue Unterscheidung aufkam. Die römische Welt wurde aufgeteilt in angesehene (lat. honestiores) und weniger angesehene (lat. humiliores) Bewohner. Die erste Gruppe waren die Wohlhabenden sowie aktive und ehemalige Staatsbedienstete und Soldaten, die andere die Übrigen. Diese Unterscheidung wird im Strafgesetz am deutlichsten: Normalerweise konnten die honestiores für Kapitalverbrechen (von Hochverrat abgesehen) lediglich ins Exil geschickt werden, während die humiliores hingerichtet werden konnten. Diese Unterscheidung wird offenkundig erstmals unter Hadrian erwähnt, die Auffassung selbst aber stammt schon aus dem 1. Jahrhundert. Somit kann die Constitutio Antoniniana als der Höhepunkt einer Entwicklung gesehen werden, bei der fast jeder römischer Bürger werden konnte, da die Unterscheidung zwischen oben und unten im Kern nur noch die des sozialen Ansehens war.

Die Constitutio Antoniniana schließlich vollendete diesen Prozess: Alle freien Einwohner des Imperium Romanum erhielten nun das Bürgerrecht, außer der Gruppe der „Unterworfenen“ und natürlich der Sklaven. Dies hatte in den Augen einiger Historiker große Auswirkungen: In der frühen Kaiserzeit war für einen nicht besonders reichen Mann aus der Provinz ein Dienst in den Hilfstruppen der römischen Armee oft der einzige Weg, das Bürgerrecht zu erlangen. Dies fiel nun weg und damit verschwand mittelfristig auch die Unterscheidung zwischen Legionen und Hilfstruppen. Stattdessen dienten nun auch wenig romanisierte Männer aus abgelegenen Regionen direkt in der regulären Armee und stiegen seit dem 4. Jahrhundert auch in höchste Positionen auf. Ob dies, wie manche Forscher annehmen, zu einer „Barbarisierung“ des Heeres geführt und indirekt zum Ende Westroms beigetragen hat, ist in der heutigen Geschichtswissenschaft allerdings sehr umstritten.[2]

Literatur

  • Clifford Ando (Hrsg.): Citizenship and Empire in Europe. The Antonine Constitution after 1800 Years (= Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge. Band 54). Franz Steiner, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-515-11187-4.
  • Arnaud Besson: Constitutio Antoniniana. L’universalisation de la citoyenneté romaine au 3e siècle (= Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft. Band 52). Schwabe Verlag, Basel 2020, ISBN 978-3-7965-4186-5 (online).
  • Kostas Buraselis: Theia Dorea. Das göttlich-kaiserliche Geschenk. Studien zur Politik der Severer und zur Constitutio Antoniniana (= Akten der Gesellschaft für Griechische und Hellenistische Rechtsgeschichte. Band 18). Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2007, ISBN 978-3-7001-3725-2.
  • Alex Imrie: The Antonine Constitution. An Edict for the Caracallan Empire (= Impact of Empire. Band 29). Brill, Leiden/Boston 2018, ISBN 978-90-04-36822-4.
  • François Jaques, John Scheid: Rom und das Reich. Staatsrecht, Religion, Heerwesen, Verwaltung, Gesellschaft, Wirtschaft. Nikol, Hamburg 2008, ISBN 978-3-86820-012-6, S. 307 f.
  • Barbara Pferdehirt, Markus Scholz (Hrsg.): Bürgerrecht und Krise. Die Constitutio Antoniniana 212 n. Chr. und ihre innenpolitischen Folgen (= Mosaiksteine. Forschungen am Römisch-Germanischen Zentralmuseum. Band 9). Begleitbuch zur Ausstellung im Römisch-Germanischen Zentralmuseum 20. September 2012 bis 1. Januar 2013. Verlag des Römisch-Germanischen Zentralmuseums, Mainz 2012, ISBN 978-3-88467-195-5.
  • Adrian N. Sherwin-White: The Tabula of Banasa and the Constitutio Antoniniana. In: The Journal of Roman Studies. Band 63, 1973, S. 86–98.
  • Hartmut Wolff: Die constitutio Antoniniana und Papyrus Gissensis 40 I. 2 Bände, Köln 1976 (Dissertation, Universität Köln 1972).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Unterlagen des Auschwitz-Prozesses und Constitutio Antoniniana sind UNESCO-Weltdokumentenerbe. Pressemitteilung der deutschen UNESCO-Kommission vom 30. Oktober 2017, abgerufen am selben Tage.
  2. Siehe hierzu den Überblick bei Henning Börm: Westrom. Von Honorius bis Justinian. Stuttgart 2013, S. 160ff.