Prosopagnosie
Klassifikation nach ICD-10 | |
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R41.8, R44.8 | Agnosie |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Prosopagnosie [ˈpʁoːzoːpˌaːgnoˈziː] (von altgriechisch τὸ πρόσωπον tò prósōpon „das Gesicht“ und
„Nichterkennen“), Gesichtserkennungsschwäche oder Gesichtsblindheit bezeichnet die Unfähigkeit, die Identität einer bekannten Person anhand ihres Gesichtes zu erkennen. Es handelt sich also um eine Form der visuellen Agnosie.
Krankheitsbild und Typen
Das Krankheitsbild wurde erstmals 1947 durch den deutschen Neurologen Joachim Bodamer beschrieben. Er berichtete über drei Patienten, die nach einer Gehirnverletzung außerstande waren, das Pflegepersonal (und teils auch die eigenen Verwandten) wiederzuerkennen. Bodamer prägte zum Begriff auch die Bezeichnung Prosopagnosie.
Prosopagnosie wird nach zwei Merkmalen unterschieden:
- apperzeptiv (durch beschränkte Wahrnehmungsfähigkeit bedingt) oder assoziativ (durch beschränkte Verknüpfungs- oder Wiedererkennungsfähigkeit bedingt);
- angeboren (kongenital) oder erworben.
Apperzeptive Prosopagnostiker können Alter und Geschlecht nicht aus dem Gesicht erschließen, auch fällt ihnen das Erkennen von Emotionen schwer. Weiterhin sind sie nicht in der Lage, Gleich-Verschieden-Urteile über ähnliche Gesichter vor ihren Augen zu fällen.
Assoziative Prosopagnostiker können Gleich-Verschieden-Urteile fällen und das Alter und Geschlecht erkennen. Semantische Informationen, insbesondere die Identität der Person, können sie ebenso wenig abrufen wie apperzeptive Prosopagnostiker. Die Leistungen, zu denen kongenitale Prosopagnostiker fähig sind, sind deutlich variabler. Manche merken nicht, dass sie einen Passanten – etwa einen Nachbarn, aber nun an ganz anderem Orte – schon recht gut kennen, und gehen an ihm vorbei. Manche halten zwei flüchtig Bekannte so lange für denselben Menschen, bis sie beide überraschend nebeneinander sehen.
Kongenitalen Prosopagnostikern, also Menschen mit angeborener Prosopagnosie, ist diese meist nicht bewusst. Dies ist vergleichbar mit Kindern mit Rot-Grün-Blindheit, die nicht erkennen, dass die meisten Menschen Farben auseinanderhalten können, bei denen sie selbst keinen Unterschied sehen. Wenn dennoch nahezu alle Rot-Grün-Blinden heute hiervon wissen, ist dies ein Ergebnis von Vorsorgeuntersuchungen für Kinder, bei denen dies routinemäßig getestet wird. Die kongenitale Prosopagnosie wird hingegen trotz relativ hoher Prävelenz bisher in Deutschland in keinen Routinetests untersucht und ist selbst den meisten Ärzten völlig unbekannt.
Ursache
Verletzungen im ventralen Pfad zwischen Okzipital- und Temporallappen, z. B. durch einen Schlaganfall oder Unfall, können eine Prosopagnosie hervorrufen. In diesem Bereich liegt der Gyrus fusiformis, dessen Fusiform Face Area (FFA) – insbesondere auf der rechten Körperseite – an der Erkennung von Gesichtern beteiligt ist. Formen der Prosopagnosie können auch vererbt werden.[1] Die genetische Ursache der Krankheit ist allerdings noch unbekannt.[2]
Häufigkeit
Bei einer Untersuchung im Jahr 2005 im Raum Münster an 689 Schülern und Studenten wurde eine Prävalenz von 2,47 % (17 von 689) der erblichen Form festgestellt.[3]
Ersatz-Erkennungsmerkmale
Prosopagnostiker können problemlos einzelne Merkmale des Gesichts erkennen und zum Teil auch Personen anhand einzelner Gesichtsmerkmale wie Wimpern oder Zahnstellung erkennen. Andere Merkmale wie Stimme, Hände, Gangart, besondere Kleidung oder Frisuren werden auch zur Erkennung von Personen benutzt.[4] Je nach Art der Prosopagnosie können Betroffene unterschiedliche Informationen aus Gesichtern schließen. Nahezu alle Kinder mit Prosopagnosie entwickeln unbewusst Strategien, um mit der Störung umzugehen: Erkennung von Menschen an Stimme, Kleidungsgewohnheiten, Statur, Bewegung.
Diagnose und Behandlung
Prosopagnostische Kinder profitieren stark von einer frühen Diagnose, da Bezugspersonen ihnen so bei der Entwicklung dieser Strategien helfen können. Eine Behandlung der kongenitalen Prosopagnosie selbst ist nicht bekannt.
Abgrenzung zu Autismus
Die Symptomatik kann, wenn sie sich manifestiert, leicht mit Autismus verwechselt werden, tritt auch sehr häufig als Komorbidität bei Autismus auf.
Wirkung auf die Mitmenschen
Personen mit Prosopagnosie werden von den Mitmenschen oft als gleichgültig, zerstreut, arrogant und unsozial verkannt.[5]
Siehe auch
- Apraxie – eine motorische Störung
- Bálint-Syndrom – räumliche Aufmerksamkeitsstörung, bei der unter anderem nur Teilaspekte von Bildern wahrgenommen werden, sodass eine Prosopagnosie entstehen kann
- Capgras-Syndrom – von der älteren Forschung mit der Prosopagnosie assoziiertes Syndrom, bei dem man glaubt, nahe Lebensgefährten seien durch identisch aussehende Doppelgänger ersetzt worden.
- N170 – Ereigniskorreliertes Potential, welches maßgeblich die Verarbeitung von Gesichtern repräsentiert
- Pareidolie
- Phonagnosie – Unfähigkeit, die Identität von Personen anhand ihrer Stimme zu erkennen
- Thatcher-Illusion
Literatur
- M. Behrmann, G. Avidan: Congenital Prosopagnosia: face-blind from birth. In: Trends in Cognitive Sciences. 9, 2005, S. 180–187.
- T. Grüter, M. Grüter: Prosopagnosia in Biographies and Autobiographies. In: Perception. 36, 2007, S. 299–301, Volltext (PDF; 79 kB).
- T. Grüter, M. Grüter, C. C. Carbon: Neural and genetic foundations of face recognition and prosopagnosia. In: Journal of Neuropsychology. 2, 2008, S. 79–97, PMID 19334306.
- H. Toghi, K. Watanabe, H. Takahashi, H. Yonezawa, K. Hatano, T. Sasaki: Prosopagnosia without topographagnosia and object agnosia associated with a lesion confined to the right occipitotemporal region. In: Journal of Neurology. 248, Jul 1994, S. 470–474, PMID 7964914.
- Martina Grüter: Die Genetik der kongenitalen Prosopagnosie. (PDF) Dissertation. Universität Münster, 2004, abgerufen am 11. Mai 2017.
- Gerald Traufetter: Welt voller Fremder. In: Der Spiegel. Nr. 24, 2003 (online).
- Dela Kienle: Kennen wir uns? Eine gesichtsblinde Familie und ihr etwas anderer Alltag, in: Nido 2/2013, S. 30–33.
Weblinks
- Christian Stöcker: Gesichtsblindheit: Wenn alle gleich aussehen. In: Spiegel Online. 2. Juli 2006, abgerufen am 11. Mai 2017.
- Katharina Schöbi: Warum sich manche Menschen keine Gesichter merken können. auf: wissenschaft.de. 6. Juli 2005, abgerufen am 11. Mai 2017.
Forschung
- Professur für Kognitive und Klinische Neurowissenschaft der TU Dresden
- Institut für Humangenetik der Universität Münster
- Institut für Kognitive Neurowissenschaft der Ruhr-Uni Bochum
- Prosopagnosia Research Centers
Dokumentationen
- Gesichtsblindheit – wenn alle gleich aussehen. (Nicht mehr online verfügbar.) In: Einstein. Schweizer Fernsehen, ehemals im Original; abgerufen am 4. Februar 2010. (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven)
- Prosopagnosie bei crew united
Seiten von Betroffenen und für Betroffene, Erfahrungsberichte
- Martina und Thomas Grüter: Prosopagnosie-Informationsseiten. dort auch eine Deutschsprachige Mailingliste für Betroffene
- Bill Choisser: Faceblind. Erfahrungsbericht
Einzelnachweise
- ↑ M. Grueter, T. Grueter, V. Bell, J. Horst, W. Laskowski, K. Sperling, P. W. Halligan, H. D. Ellis, I. Kennerknecht: Hereditary prosopagnosia: the first case series. In: Cortex. 43 (6), Aug 2007, S. 734–749. PMID 17710825.
- ↑ Was Gesichter verraten. In: Quarks & Co. 13. März 2012, 21:00, WDR
- ↑ I. Kennerknecht, T. Grueter, B. Welling, S. Wentzek, J. Horst, S. Edwards, M. Grueter: First report of prevalence of non-syndromic hereditary prosopagnosia (HPA). (PDF; 110 kB) In: Am J Med Genet. Part A 140A. 2006, S. 1617–1622, doi:10.1002/ajmg.a.31343, PMID 16817175.
- ↑ Volker Faust: Flyer Psychische Gesundheit 146: Gesichts-Blindheit (Prosopagnosie). Stiftung Liebenau, Mensch – Medizin – Wirtschaft, Meckenbeuren-Liebenau, 2019. (Gesichts-Blindheit im Alltag).
- ↑ Volker Faust: Liebenauer Gesundheits-Informationen. Psychische Gesundheit. Psychiatrisch-neurologisches Informations-Angebot der Stiftung Liebenau. Unter Mitarbeit von Walter Fröscher und Günter Hole und dem Arbeitskreis Psychosoziale Gesundheit. Stiftung Liebenau. Band 26 (Arbeitsplatz und psychische Störung, Reizüberflutung, Gesichts-Blindheit (Prosopagnosie)), Liebenau, Herbst 2019. S. 22.